Jesus von Nazaret (eBook)
240 Seiten
Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-63074-0 (ISBN)
Alois Prinz, geboren 1958, gehört zu den hochkarätigen und viel beachteten Autoren im Bereich Biografien. Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen u.a. den Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie und den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof sowie 2017 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
EINFÜHRUNG
AM JORDAN
ODER
JESUS, DAS ÄRGERNIS
Betanien, was so viel heißt wie »Bootshausen«, so wird im Johannesevangelium der Ort am Jordan genannt, wo Jesus von Johannes dem Täufer getauft worden sein soll. (Joh 1, 28)*
Die Uferbereiche nahe der Stadt Jericho, wo man die Taufstelle vermutet, sind heute ein Ziel für Gläubige aus aller Welt. Pilger in weißen langen Hemden steigen der Reihe nach in den Fluss und lassen sich von einem Priester rückwärts ins Wasser tauchen. Der Jordan ist ein schmales Flüsschen, in dem das Wasser mehr steht als fließt. Damals, in den Tagen des Täufers Johannes, soll der Fluss noch zwei- bis dreihundert Meter breit gewesen sein. An einer Furt, wo der Fluss weniger reißend und nicht so tief war, hatten die Jünger des Johannes eine Treppe ins Wasser gebaut. Davor drängten sich die Menschen. Johannes war eine Berühmtheit und die Leute kamen von weit her, um ihn zu hören und sich von ihm taufen zu lassen. Am Ufer entlang standen nicht wie heute Autos und Busse, sondern Kamele und Esel, beladen mit Decken und Zeltplanen. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus nennt Johannes einen edlen Mann, dessen »wunderbare Anziehungskraft« eine »gewaltige Menschenmenge« anlockte.1
Und das, obwohl sie von Johannes keine angenehmen Worte und erbaulichen Predigten zu hören bekamen. Vielmehr beschimpfte er sie wüst als »Schlangenbrut« (Mt 3, 7) und drohte ihnen zornig mit einem entsetzlichen Gericht, wenn sie nicht bereit wären, ihr Leben radikal zu ändern. Zu den donnernden Reden des Täufers passte auch sein Aussehen. Er hatte eine wilde Haarmähne, bekleidet war er mit einem groben Umhang aus Kamelhaar, und alles, was er aß, waren Heuschrecken und wilder Honig.
Der Evangelist Lukas nennt ziemlich genau den Zeitpunkt, als sich seiner Schilderung nach an der Taufstelle am Jordan etwas Ungewöhnliches ereignet haben soll. (Lk 3, 1-22) Der Kaiser in Rom hieß Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Antipas, ein Sohn des Herodes des Großen, war Tetrarch von Galiläa und Kaiphas Hohepriester in Jerusalem. Die Amtszeiten dieser Personen sind bekannt, legt man nun noch die damalige Zeitrechnung zugrunde, dann muss es ein Tag Ende des Jahres 27, Anfang des Jahres 28 n. Chr. gewesen sein.
Wieder sind viele Menschen an den Jordan gekommen, um sich von Johannes taufen zu lassen. Unter ihnen ist ein junger Mann Mitte zwanzig. Als die Reihe an ihm ist, steigt er zu Johannes ins Wasser. Aber der sonst so temperamentvolle und hitzköpfige Johannes wird plötzlich kleinlaut, zögerlich, ja unterwürfig. »Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?«, sagt Johannes im Matthäusevangelium. (Mt 3, 14) Der junge Mann besteht darauf, von Johannes getauft zu werden, und schließlich geschieht es so.
Dieser Vorfall sorgt unter den Leuten am Fluss für erhebliche Unruhe. Denn viele von ihnen halten Johannes für einen Propheten oder gar für den geweissagten Messias. Johannes hatte eine solche Verehrung immer energisch zurückgewiesen und darauf beharrt, dass er nur ein Vorläufer sei und nach ihm einer komme, der viel größer sei als er. Und nun zeigt er vor einem jungen Mann so viel Respekt und Ehrfurcht. Ist denn an diesem Mann etwas Besonderes? Keiner kennt ihn. Nur so viel ist zu erfahren, dass er Jesus heißt, aus Galiläa kommt und der Sohn eines Bauhandwerkers namens Josef ist.
Mit der Taufe am Jordan begann das öffentliche Wirken des Jesus von Nazaret. In den folgenden Wochen und Monaten machte er immer mehr von sich reden. Er zog in der Gegend um den See Gennesaret umher, heilte Kranke und hielt Reden, wie man sie noch nie gehört hatte. Immer mehr Menschen schlossen sich ihm an und verehrten ihn als einen Propheten oder sogar als den Messias, der das Volk Israel von der römischen Herrschaft befreien würde. Mit seinen Ansichten zog er den Argwohn der jüdischen Schriftgelehrten auf sich, und für die römischen Besatzer waren Wanderprediger wie dieser Jesus gefährliche Unruhestifter, die im Verdacht standen, die römische Herrschaft infrage zu stellen und ihre Landsleute zum Widerstand aufzuwiegeln. Schließlich wurde Jesus verhaftet und hingerichtet, am Kreuz, wie man es nur mit Schwerverbrechern machte.
Mit seinem Tod brach für seine Anhänger, die sich der »neue Weg« (Apg 9, 2) nannten, eine Welt zusammen. Für viele unter ihnen war es eine bittere Tatsache, dass sie sich in Jesus getäuscht hatten und die ganze Bewegung um ihn erbärmlich gescheitert war. Jahrelang waren sie einem Mann gefolgt, von dem sie sich so viel erwartet hatten. Einige hatten gehofft, dass Jesus den entscheidenden Aufstand gegen die Römer anführen werde. Andere hatten erwartet, dass mit Jesus das ersehnte Gottesreich anbrechen werde und sie darin bevorzugte Plätze einnehmen würden. Nichts davon war eingetroffen. Stattdessen war ihr Meister am Kreuz gestorben wie ein x-beliebiger Verbrecher.
Die Frauen und Männer, die dem Mann aus Nazaret gefolgt waren, zerstreuten sich in alle Winde und damit schien diese kleine jüdische Sekte ausgelöscht und vergessen zu sein. Aber schon nach kurzer Zeit tauchten die Jesus-Leute wieder auf und behaupteten, ihr Meister sei nicht tot, sondern von den Toten auferstanden. Die Nachricht vom Zimmermannssohn aus Galiläa, der in Wahrheit Gottes Sohn war, der die väterliche Liebe Gottes zu den Menschen verkündete und selber lebte, der hingerichtet wurde und wieder auferstanden war, verbreitete sich nun unaufhaltsam. Entscheidend trug dazu ein Mann namens Paulus bei, der nur wenig jünger war als Jesus. Er, der sich vom fanatischen Verfolger der Jesus-Leute zum Apostel gewandelt hatte, verhinderte, dass die Lehre des Nazareners eine rein jüdische Angelegenheit blieb. Er brachte die »frohe Botschaft« auch zu den Heiden. Überall in Kleinasien und sogar in Griechenland und in Rom entstanden Gemeinden der Christen, wie sie jetzt genannt wurden.
Zunächst wurden die Erinnerungen an Jesus mündlich weitergegeben. Doch dann begann man in den Gemeinden, diese Geschichten zu sammeln und sie aufzuschreiben. Die Verfasser dieser Berichte hatten von Anfang an mit einem Problem zu kämpfen. Wie sollten sie über jemanden schreiben, dessen »Reich nicht von dieser Welt« war, wie es im Johannesevangelium heißt, und der doch auch ein Mensch war aus Fleisch und Blut, der aß und schlief, der Hunger und Durst kannte, der lachte und weinte, der Schmerzen erlitt und eines gewaltsamen Todes starb.
In der frühen Kirche wurde heftig darüber gestritten, wie man diese zwei Seiten des Jesus von Nazaret, seine göttliche und seine menschliche, verstehen und wie man sie beschreiben kann. War Jesus nun zur Hälfte ein Mensch und zur anderen Hälfte ein Gott? Oder war er nur ein bisschen Mensch und hauptsächlich Gott? Oder war er nur scheinbar ein Mensch? Oder war er nicht wirklich Gott, sondern nur Gott ähnlich?
Auf einem Konzil in der kleinasiatischen Stadt Chalkedon wollte man im fünften Jahrhundert diesen Spekulationen ein für alle Mal ein Ende bereiten, indem man festlegte, dass Jesus »wahrer Mensch und wahrer Gott« gewesen sei. Er war demnach also beides – und beides ganz. Das ist schwer zu verstehen. Es ist ein Paradox.
»Wahrer Mensch und wahrer Gott« – diese Formel ist weniger eine Lösung als eine Aufgabe. Denn wie kann man das Leben eines Menschen erzählen, der ein Mensch und zugleich Gott war, und beides ganz? Einige Wissenschaftler und Autoren haben in erster Linie die menschliche Seite des Nazareners betont und sahen ihn als einen Religionsstifter, als großen Lehrer, als einen genialen Psychologen oder einen politischen Rebellen. Bei anderen wiederum überwiegen die göttlichen Eigenschaften Jesu, und das führt oft so weit, dass er zu einer abgehobenen Gestalt wurde, die über der menschlichen Welt schwebt und kaum noch mit den Füßen die Erde berührt. Wie kann man ein zu einseitiges Bild von Jesus vermeiden? Wie schafft man es, ihn zu sehen als »wahrer Mensch« und »wahrer Gott«?
Auch seine Zeitgenossen hatten offenbar ihre Schwierigkeiten mit Jesus. Selbst seine engsten Freunde sind manchmal schier verzweifelt an ihm, weil er einfach nicht die Vorstellungen erfüllte, die sie sich von ihm machten. Denn er trat ganz anders auf, als man es sich von einem religiösen Führer oder einem Volkshelden erwartete. Er lebte arm und anspruchslos. Er gab sich mit Leuten ab, die in den Augen rechtgläubiger Juden gebrandmarkte Außenseiter und Sünder waren. Er bekleidete kein hohes Amt, verdiente kein Geld und genoss kein Ansehen wie die Tempelpriester in Jerusalem. Er war wehrlos und ließ es geschehen, dass man ihn verfolgte und schließlich tötete. Als er am Kreuz hing, zeigte es sich am deutlichsten, dass die meisten seiner Freunde ein falsches Bild von ihm hatten.
Schon vorher, als sie noch gemeinsam durch Galiläa gezogen waren, hat Jesus seine Begleiter immer wieder ermahnt, sich nicht über ihn zu ärgern. (Lk 7, 23; Mk 14, 27) Denn ärgerlich war es für seine Gefährten, dass Jesus sich oft so ganz anders benahm, als sie es erwarteten und erhofften. Seine Jünger hätten es gern gehabt, dass Jesus ihnen eindeutige Zeichen und Antworten gibt, um...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Bethlehem • Betlehem • Biografie • Christentum • Felsendom • Jerusalem • Jesus • jesus biografie • Jesus Christus • jesus christus erlöser • Jesus von Nazaret • Jesus von Nazareth • konfirmation geschenk • Leben Jesus • Lebensbeschreibung • Ostern • Petersdom • Weihnachten |
ISBN-10 | 3-522-63074-2 / 3522630742 |
ISBN-13 | 978-3-522-63074-0 / 9783522630740 |
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