Die Familien der anderen (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30448-0 (ISBN)
Christine Westermann ist mit ihren Buchempfehlungen im Stern, ihren Sendungen im Hörfunk (Buchtipps im WDR), als Kolumnistin des »Buchjournals« und als Podcasterin eine der bekanntesten Buchkritikerinnen. Sie war festes Mitglied in der Fernsehsendung »Das literarische Quartett«. Für ihre gemeinsam mit Götz Alsmann moderierte TV-Sendung »Zimmer frei« erhielt sie u.a. den Adolf-Grimme-Preis. Christine Westermann hat bislang fünf Bücher veröffentlicht, die allesamt Bestseller wurden.
Christine Westermann ist mit ihren Buchempfehlungen im Stern, ihren Sendungen im Hörfunk (Buchtipps im WDR), als Kolumnistin des »Buchjournals« und als Podcasterin eine der bekanntesten Buchkritikerinnen. Sie war festes Mitglied in der Fernsehsendung »Das literarische Quartett«. Für ihre gemeinsam mit Götz Alsmann moderierte TV-Sendung »Zimmer frei« erhielt sie u.a. den Adolf-Grimme-Preis. Christine Westermann hat bislang fünf Bücher veröffentlicht, die allesamt Bestseller wurden.
4
Plötzliche Regenfälle können zum Betreten einer Buchhandlung führen.
Loriot
So war es früher: Eine Buchhandlung war nie wirklich ein Ziel beim Einkaufen. Ich bin eher zufällig hineingestolpert, Regen eben. Rein in die Buchhandlung und augenblicklich stellte sich bei mir ein Gefühl leichter Beklemmung ein. Weil schon völlig klar war, was kommen würde. Eine engagierte Buchhändlerin würde auf mich zutreten und mich freundlich fragen, ob ich etwas Bestimmtes suche. Klar suche ich ein Buch, aber was für eines?
Mit dem Spruch »Ich will mich nur mal umschauen« kommt man in jeder mittelmäßigen Boutique durch. Nicht aber in einer Buchhandlung. Es sei denn, es ist der letzte verkaufsoffene Samstag vor Weihnachten und alle engagierten Buchhändlerinnen sind damit beschäftigt, Bestseller in Weihnachtspapier zu wickeln.
Falls man aber auch außerhalb der Feiertage keine Ahnung hat, bewegt man sich schon mit der ehrlichen Antwort »Ich suche ein Buch« auf sehr dünnem Eis.
Jetzt nämlich geht es sofort ans Eingemachte. Welches Genre, welcher Autor, Sachbuch, Fantasy oder knallharte Wirklichkeit? Muss man alles erst mal mit einem verlegenen Achselzucken beantworten. Man kennt die Spiegel-Bestsellerliste nicht, hat sich im Radio noch nie gezielt eine Buchsendung angehört. Also kommt jetzt zwangsläufig eine durchaus gut gemeinte Buchhändlerinnen-Frage, bei der sich allerdings umgehend ein starker Fluchtinstinkt bei mir meldet, weil ich ihr dringend entkommen möchte: Haben Sie schon ABC von XY gelesen?
Nein. Habe ich nicht. Den Bestseller von XYZ leider auch nicht. Damit ich nicht noch mehr weiße Flecken in meinem Literaturwissen preisgeben muss, heuchle ich Interesse, kaufe beide und nehme vom Bestsellerstapel noch eines von ganz unten und eines von ganz oben mit. Damit sie denkt, ich sei unersättlich, was Literatur angeht. Und jetzt nichts wie raus, zurück in den Regen.
So oder ähnlich gestaltete sich mein Leseleben lange Zeit. Ausnahme: meine San-Francisco-Jahre, in denen ich ungewöhnlich viel gelesen habe. Warum ich gerade dort das Lesen so intensiv erlebt habe, ist ein anderes Kapitel.
Hier in Deutschland habe ich mich an Empfehlungen von Freunden orientiert, an Verlagsanzeigen in den überregionalen Zeitungen, in literarische Fernsehsendungen reingeguckt. Wurde so zu einer stillen Verehrerin von Elke Heidenreich. So eine leidenschaftlich laute, so eine überzeugte Vielleserin wäre ich auch gern gewesen. Und manchmal, auch heute noch, verweise ich auf ihr Markenzeichen, das Heidenreich’sche Gütesiegel: das Ausrufezeichen. Wie bei »Gruber geht«, einem Roman der österreichischen Autorin Doris Knecht.
Die Geschichte spielt in Wien, Berlin, Zürich. Gruber ist ein gut aussehender, sehr erfolgreicher Manager, dessen Leben aus Businessclass-Flügen, Designerapartment und attraktiven Frauen besteht. Ganz nebenbei ist er auch noch ein Kotzbrocken, aber das stört ihn nicht weiter. Das, was an diesem Typen so beeindruckend ist, fällt in sich zusammen, als Gruber erfährt, dass er einen Tumor im Bauch hat. Und jetzt?
Jetzt beginnt eine wirklich gute Geschichte.
Wenn einem der Protagonist, also dieser Gruber, von Beginn an von Herzen unsympathisch ist, wenn man sich zögernd mit ihm verändert, um ihn nach zweihundert Seiten sogar ganz okay zu finden, dann hat die Autorin beim Schreiben einiges richtig gemacht. Eigentlich alles. »Gruber geht« ist ein schnelles, ein sehr unterhaltendes Buch, das immer gut die Kurve kriegt, wenn es ins allzu Flache oder Sentimentale abzudriften droht.
Die Sprache ist eigenwillig lakonisch, aber sie hat unglaublich viel Witz, viele Pointen, sie wird keine Sekunde rührselig oder bedrückend, was beim Thema Krebs naheläge.
Der Roman bleibt elegant in Balance zwischen Zynismus und menschlicher Wärme, Hoffnung und Enttäuschung. »Honiggrenze« hat es neulich mal ein Kritiker genannt, wenn ein Roman zu süßlich zu werden droht. Am Ende des Buches ist die Honiggrenze fast in Sichtweite, aber eben nur fast.
Es gilt der Heidenreich-Klassiker: LESEN!
Manchmal war mir das Ausrufezeichen bei »Lesen!«, der TV-Sendung von Elke Heidenreich, zu dick aufgetragen, hatte einen Anflug von strenger Deutschlehrerin und Schullektüre. Eine vage Erinnerung an eine Lesezeit, aus der es kein Entkommen gab. In der man eben Cyrano de Bergerac von Anfang bis Ende lesen musste, großflächiges Überlesen der langweiligsten Stellen war nicht drin.
Heidenreichs Bibliothek zu Hause stellte ich mir üppig vor, ganz sicher mit verschiebbarer Leiter für die obersten Regale.
Ich bin ihr damals, in den 80er-/90er-Jahren, ein paarmal begegnet, wir hatten einen gemeinsamen Freund. Wenn sie mich sah, begrüßte sie mich freundlich mit den immergleichen Worten: »Ah, die schöne Christine.« Ein sicher freundlich gemeintes Kompliment, was aber nie wirklich zündete. Es hat mich kleingemacht, jedenfalls fühlte es sich so an.
Ich wäre lieber auf mein Literaturwissen angesprochen worden als auf mein Aussehen.
Mühsam bis hierhin.
Es ist, als trete man beim Lesen auf der Stelle.
Was daran liegen könnte, dass die Handlung nicht vom Fleck kommt.
Hans Castorp geht die Schweizer Berge hoch und runter, trifft beständig auf Lodovico Settembrini, den italienischen Intellektuellen, auch Patient im »Berghof«, der ihn in anspruchsvolle philosophische Gespräche verwickelt.
Ansonsten ist Castorp mit Essen beschäftigt. Er frühstückt zweimal, isst üppig zu Mittag, gefolgt von Kaffee und Kuchen … die Speisenfolge, die Milchkuren, die Braten und Torten erregen zumindest mal kurzfristig meine Aufmerksamkeit. Während ich weiterlese, werde ich so müde wie Hans Castorp, der nach dem Mittagessen auf dem Balkon seiner Residenz liegt und auf den Schlaf wartet. Perfekt in eine Sanatoriumsdecke gewickelt, die keine Lücke lässt und auch bei kaltem Wind vom Zauberberg dort oben die Füße und den ganzen Menschen kuschelig warm hält. Thomas Mann widmet dieser Wickeltechnik eine Menge Platz. Und ich stelle beeindruckt fest: Lesen bildet.
»Und dann war plötzlich nichts mehr so, wie es vorher war.« Ein Satz, der mich in Klappentexten, in denen ein Roman für den Leser kurz zusammengefasst wird, oft knurrig werden lässt. Weil er alles sagen will und doch so nichtssagend ist.
Aber eben manchmal auch sehr nah dran an der Wirklichkeit. In meiner Wirklichkeit war es ein Anruf des Westdeutschen Rundfunks Anfang 2000, mit dem sich in der Rückschau eine ganze Menge in meinem Leben verändert hat.
Ich war zu jener Zeit ein Zwitterwesen. Zum einen Journalistin und Moderatorin einer Regionalsendung in Nordrhein-Westfalen, der »Aktuellen Stunde«, zusammen mit Frank Plasberg. Zum anderen Moderatorin einer Unterhaltungssendung gemeinsam mit dem Musiker Götz Alsmann. Hat eine ganze Weile gedauert, bis ich den Spagat geschafft habe zwischen einem ernsthaften Minister-Interview in der AKS und Tortenwürfen auf Politiker bei »Zimmer frei«.
Der Anruf, nach dem nichts mehr so war wie zuvor, kam im Frühjahr 2000.
Ob ich Lust hätte, Buchtipps bei WDR 2 zu machen.
Ich?
Buchtipps? Aber das war noch nicht mal alles.
Buchtipps im Wechsel mit Elke Heidenreich.
Einen Sonntag sie, den nächsten ich. Jede zwei Neuerscheinungen pro Monat. Sie und ich.
Christine Westermann und ihre Fast-Ikone Elke Heidenreich.
»Warum gerade ich?«, habe ich ziemlich fassungslos gefragt. Antwort: »Weil wir glauben, dass du das kannst.« Natürlich wollte ich mir keine Blöße geben, aber so ein bisschen durch die Blume wollte ich unbedingt durchscheinen lassen, dass ich doch gar nicht so belesen bin.
Nicht wirklich weiß, wer Seamus Heaney oder Nagib Mahfuz ist, ich aber davon ausgehe, dass einer, der anderen Menschen Bücher ans Herz legt, sicherlich auch die Literaturnobelpreisträger der letzten 20 Jahre kennen sollte. Und ihre Bücher natürlich auch gelesen hat.
Keine Ahnung, warum in meinem Kopf dieses spezielle Bild eines Buchexperten verankert ist. Er liest alles, ein Buch der Weltliteratur auszulassen, gilt nicht. Dass er auch die Biografien der meisten Nobelpreisträger mühelos runterbeten kann, versteht sich von selbst.
Nach dem Anruf bat ich mir Bedenkzeit aus, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich bedenken wollte. Dass ich keine Vielleserin bin, war mir klar. Den anderen wohl nicht. Sollte ich den Irrtum nicht besser aufklären?
Zurückblickend denke ich heute, dass ich ganz schön verwegen war. Mutig, vielleicht sogar übermutig.
Ich hatte nämlich keinen Plan, wie das mit den Westermann-Buchtipps jetzt gehen sollte.
Gut, zwei Bücher pro Monat zu finden, das könnte ich schaffen, aber wie finde ich genau die zwei, die mir auch richtig gut gefallen?
Elke Heidenreich zu fragen, kam nicht infrage. Christine Westermann schafft das ohne Hilfe, ihr zweiter Vorname ist Herausforderung.
Mir war dabei aber durchaus bewusst, dass ich mich in meinem Leben schon vor diesem Anruf an mehr als einem Projekt verhoben hatte.
Es hatte zum Beispiel ein paar eher demütigende Auftritte als Moderatorin von Galaveranstaltungen gebraucht, bis ich begriffen hatte, dass ich andere Sachen besser beherrsche. Eine Moderation vor ein paar Hundert Menschen, auf einer großen...
Erscheint lt. Verlag | 3.11.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Autobiographisch • Besteller-Autorin • Da geht noch was • Der Große Regen • Der Zauberberg • Lieblingsbücher • Literatur • Manchmal ist es federleicht • Mona Ameziane • Podcasterin • Thomas Mann • zwei Seiten |
ISBN-10 | 3-462-30448-8 / 3462304488 |
ISBN-13 | 978-3-462-30448-0 / 9783462304480 |
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