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Das weiße Album (eBook)

Der Klassiker des 20. Jahrhunderts, der die Literaturlandschaft bis heute prägt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2784-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das weiße Album -  Joan Didion
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»Diese Sammlung kritischer Reportagen über die späten Sechzigerjahre in ihrem Heimatstaat Kalifornien, machte Didion zum Star des New Journalism.« Süddeutsche Zeitung   Das weiße Album ist ein essenzielles Werk und ein Klassiker der amerikanischen Autobiografie. In ihren Essays untersucht Joan Didion mit der ihr eigenen Klarsicht Akteure, Schlüsselereignisse, Bewegungen und Trends der Sechzigerjahre - darunter Charles Manson, die Black Panther und Shopping Malls. Aus einer intellektuellen Verstörung heraus schreibt sie über den American Dream, einen Traum, der auch im Scheitern nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat.  

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

James Pike, Amerikaner


Die Grace Episcopal Cathedral in San Francisco ist ein merkwürdiges und auf arrogante Weise säkulares Denkmal, und sie überträgt ihre Stimmung auf alles in ihrem Umkreis. Sie befindet sich direkt oberhalb von Nob Hill, der symbolischen Verflechtung von Geld und Macht des alten Kalifornien. Ihr großes Rosenfenster glüht in der Nacht und beherrscht die Aussicht vom Mark Hopkins Hotel und vom Fairmont Hotel, ebenso wie die Aussicht aus der Wohnung von Randolph und Catherine Hearst in der California Street. In einer Stadt, die sich der Illusion verschrieben hat, dass alles menschliche Streben auf geheimnisvolle Weise nach Westen ausgerichtet ist, in Richtung Pazifik, schaut die Grace Cathedral entschlossen nach Osten, in Richtung des Pacific Union Club. Als Kind unterrichtete mich meine Großmutter darüber, dass die Grace »unvollendet« sei und es immer bleiben würde, worin ihre Besonderheit lag. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte meine Mutter Pennystücke für Grace in ihre Sparbüchse getan, aber Grace wurde nie fertiggestellt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg tat ich Pennystücke für Grace in meine Sparbüchse, aber Grace wurde nie fertiggestellt. 1964 sammelte James Albert Pike, der von der Cathedral of St. John the Divine in New York und der Dean Pike Show bei ABC zurückgekommen war, um Bischof von Kalifornien zu werden, drei Millionen Dollar, brachte Bilder von Albert Einstein, Thurgood Marshall und John Glenn in den Dachfenstern an und erklärte Grace im Namen Gottes für »vollendet« (James Albert Pike hatte die Dreifaltigkeit saniert und den Sohn und den Heiligen Geist entfernt). Diese merkwürdige und beunruhigende Entwicklung erregte meine Aufmerksamkeit, es war ein extremes Missverständnis dessen, worum es ging – jedenfalls so, wie ich es in meiner Kindheit verstanden hatte –, und dadurch prägte sich mir James Albert Pike unauslöschlicher ins Bewusstsein als durch alle seine vorherigen Taten.

Was sollte man von ihm halten? Fünf Jahre nachdem er Grace fertiggestellt hatte, trat James Albert Pike ganz aus der Episkopalkirche aus, beschrieb seinen Groll ausführlich auf den Seiten von Look und fuhr mit einem weißen Ford Cortina, den er bei Avis gemietet hatte, in die jordanische Wüste. Er reiste mit seiner früheren Studentin Diane, mit der er seit neun Monaten verheiratet war. Später sagte sie, dass sie die Wildnis hatten erleben wollen, wie Jesus sie erlebt hatte. Sie rüsteten sich für diese Mission mit einer Landkarte von Avis und zwei Flaschen Coca-Cola aus. Die junge Mrs Pike überlebte. Fünf Tage nachdem James Albert Pikes Leichnam aus einem Canyon in der Nähe des Toten Meeres geborgen worden war, wurde eine Totenmesse für ihn in der Kathedrale abgehalten, die seine eigene Hybris in San Francisco fertiggestellt hatte. Draußen auf den Treppen der Grace hatten die Kameras die Black Panther im Blick, die für die Freilassung Bobby Seales demonstrierten. Im Inneren der Grace hatten Diane Kennedy Pike und ihre beiden Vorgängerinnen, Jane Alvies Pike und Esther Yanovsky Pike, die Kameras im Kirchenschiff im Blick und einander.

Das war 1969. Mehrere Jahre danach konnte ich mit dieser eigenartigen und auffallend »jetzigen« Geschichte überhaupt nichts anfangen, so gewaltig und roh war mein Ärger über die Art von Mann, den meine Großmutter nur »einen verdammten alten Narren« genannt hätte, die Art von Mann, der mit einer vertrottelten Diane und zwei Flaschen Coca-Cola in die Wüste fuhr, aber ich weiß jetzt, dass Diane und die Coca-Cola genau die Details sind, die aus der Erzählung ein Lehrstück machen. James Albert Pike ging mir in den letzten Wochen relativ häufig durch den Kopf, seit ich eine Biografie über ihn von William Stringfellow und Anthony Towne mit dem Titel The Death and Life of Bishop Pike gelesen habe, ein Band, der voller Bewunderung, aber dennoch lehrreich ist, in dem der Schatten einer großartigen literarischen Figur zum Vorschein kommt, eine literarische Figur in dem Sinne,
wie auch Howard Hughes und Whittaker Chambers literarische Figuren waren, eine Figur, die so zwiespältig und getrieben ist und solche Aufschlüsse über ihre Zeit und ihren Ort gibt, dass auf ihrem Grabstein auf dem protestantischen Friedhof in Jaffa einfach nur James Pike, Amerikaner hätte stehen können.

Betrachten Sie seine Anfänge. Er war das einzige Kind einer ehrgeizigen Mutter und eines kränkelnden Vaters, die 1913, einige Jahre vor seiner Geburt, aus Kentucky wegzogen, um sich auf sechzehn Hektar Mesquitepflanzung in Oklahoma niederzulassen. Eine Zeit lang hatte es eine Hütte in Alamogordo in New Mexico als Rückzugsort gegeben, die nur aus einem Zimmer bestand, und immer hatte es den Willen der Mutter gegeben, die Aussichten der Familie zu verbessern. Sie unterrichtete an einer Schule. Sie spielte in einer Tanzkapelle Klavier, sie spielte in einem Stummfilmkino Klavier. Sie erzog ihren kleinen James katholisch, und sie schickte ihn zum Better Babies Contest in Oklahoma, und zwei Jahre hintereinander holte er den ersten Preis. »Ich dachte, das würde euch gefallen«, sagte sie fast sechzig Jahre später zu seinen Biografen. »Er war schon am Anfang ein Gewinner.«

Ebenfalls am Anfang kleidete er Papierpuppen in Priestergewänder. Die Mutter scheint eine extrem entschlossene Frau gewesen zu sein. Ihr Mann starb, als James zwei Jahre alt war. Sechs Jahre später zog die Witwe nach Los Angeles, wo sie eine Welt schuf, in der »nichts James’ Leben verändern oder ihn in irgendeiner Weise behindern sollte«, eine Erziehungsmethode, die sich sein gesamtes Leben über in James’ Gesicht und Verhalten zeigen würde. »Es versteht sich von selbst, dass es für mich etwas mühsam war, das alles noch einmal durchzumachen«, beschwerte er sich, als seine erste Scheidung und die erneute Heirat seiner Wahl zum Bischof von Kalifornien im Weg zu stehen schienen; seine Biografie zeigt eine ganze Palette überraschter Gereiztheit angesichts der Versuche anderer, ihn »zu behindern«, indem sie eine frühere Ehe oder Scheidung oder irgendeinen anderen »längst erloschenen Aspekt der Vergangenheit« ins Spiel brachten.

Es gab die Hollywood High School in Los Angeles, jeden Morgen fand in der Blessed Sacrament Church auf dem Sunset Boulevard eine Messe statt. Nach Hollywood High kam das College bei den Jesuiten in Santa Clara, jedenfalls ehe sich James von der katholischen Kirche distanzierte und seine Mutter überzeugte, dasselbe zu tun. Zu diesem Zeitpunkt war er achtzehn, aber es war für beide, Mutter und Sohn, typisch, dass sie diese jugendliche »Dis­tanzierung« sehr ernst nahmen; sie scheinen keine Anker außer einander gehabt und diese Verankerung jeden Tag neu erfunden zu haben. Nach Santa Clara kam für den neu erfundenen Agnostiker die Universität, UCLA, dann USC, und schließlich folgte der Sprung an die Ostküste. Zurück nach Osten. Jura in Yale. Ein Job in Washington bei der Börsenaufsicht. »Sie müssen wissen, dass er in Washington sehr einsam war«, sagte seine Mutter nach seinem Tod. »Er wollte wirklich zurück nach Hause kommen. Ich wünschte, er hätte es getan.« Und doch muss es einem Kind des Westens wie ihm vorgekommen sein, als hätte er endlich die »wirkliche« Welt kennengelernt, die »große« Welt, die Welt, die es einzunehmen galt. Die Welt, in der, wie der junge Mann, der schon am Anfang ein Gewinner war, bald entdeckte und an seine Mutter schrieb, »praktisch jeder Kirchgänger, dem man in unserer Gesellschaftsschicht begegnet, episkopal ist und römisch-katholische Gläubige oder einfache Protestanten so selten sind wie ein schwarzer Schwan«.

Gatsby fällt einem ein, der plötzlich dem Osten begegnet. Auch Tom Buchanan fällt einem ein und seine enorme Sorglosigkeit. (Etwa fünfundzwanzig Jahre später, in Santa Barbara, als die Geliebte des Bischofs von Kalifornien 55 Schlaftabletten schluckte, scheint er sie aus seiner Wohnung in ihre gebracht zu haben, bevor er einen Krankenwagen rief, und ehe sie starb, bestimmte Beweise beseitigt zu haben.) Sogar Dick Diver fällt einem ein, der ebenfalls schon am Anfang ein Gewinner war und der das Wesen des amerikanischen Kontinents in Form von Nicole zu erfassen suchte, so wie James Albert Pike es nun in Form der Episkopalkirche zu erfassen suchte. »Praktisch jeder Kirchgänger, dem man in unserer Gesellschaftsschicht begegnet, ist episkopal

Es ist das amerikanische Abenteuer eines Barry Lyndon, dieser Westküstenmensch, der an die Ostküste geht, um seine Zukunft zu erobern, ausgestattet mit Mutterliebe und mit dem, was in der provisorischen Verankerung, aus der er kam, unter Wissbegierde verstanden wurde. Zum Beweis dieser Begierde erzählte seine dritte Ehefrau Diane gern immer wieder diese seltsame Geschichte: Er »hatte im Alter von fünf Jahren sowohl das Wörterbuch als auch das Telefonbuch von vorn bis hinten gelesen und einen ganzen Stapel der Encyclopædia Britannica, bevor er zehn war.« Diane berichtet auch von seiner Begeisterung für das Museum of Man in Paris, das ihm innerhalb der Stunde, die er dort verbrachte, eine »umfassende Ausbildung« zu bieten schien, »die gesamte Geschichte der...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2022
Übersetzer Antje Rávik Strubel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte American dream • Céline • Deutscher Buchpreis • Erzählungen • Essay • Feministisch • Ikone • Kalifornien • Klassiker • Kultbuch • Literatur • Netflix • Neuübersetzung • Popkultur • Reportagen • Rückblick • Susan Sontag • The Center Will Not Hold • USA • Vorreiterin • wegbereiterin
ISBN-10 3-8437-2784-8 / 3843727848
ISBN-13 978-3-8437-2784-6 / 9783843727846
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