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Ganz gewöhnliche Monster - Dunkle Talente (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
800 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29041-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ganz gewöhnliche Monster - Dunkle Talente -  J. M. Miro
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England am Ende des 19. Jahrhunderts: Es ist Nacht, eine junge Dienstmagd ist auf der Flucht vor der Rache ihres Herrn. Mit allerletzter Kraft schafft sie es, sich in den Waggon eines Güterzugs zu retten - nur um dort eine Entdeckung zu machen, die ihr Leben für immer verändern wird: ein Baby, dessen Haut in einem blauen Schimmer leuchtet. Damit beginnt ein Abenteuer, das von England in den Wilden Westen bis nach Tokio und an die Grenzen des Vorstellbaren führt. Ein Abenteuer voll Magie, Wunder und tödlicher Geheimnisse ...

J. M. Miro lebt und schreibt im Pazifischen Nordwesten.

1

Verlorene Kinder


Als Eliza Grey das Baby zum ersten Mal sah, zuckelte sie gerade im Dämmerlicht in einem Güterwaggon über eine verregnete Strecke drei Meilen westlich von Bury St Edmunds, in Suffolk, England. Sie war sechzehn Jahre alt, unbelesen, weltfremd, ihre Augen so dunkel wie der Regen. Sie war hungrig, da sie seit vorletzter Nacht nicht gegessen hatte, und sie trug weder Mantel noch Hut, weil sie im Dunkeln geflüchtet war – ohne zu wissen, wohin, oder was sie als Nächstes tun sollte. An ihrem Hals waren immer noch die Daumenabdrücke ihres Arbeitgebers sichtbar, auf ihren Rippen die blauen Flecken, die seine Stiefel hinterlassen hatten. In ihrem Bauch wuchs sein Baby heran, doch das wusste sie noch nicht. Sie hatte ihn dem Tod überlassen, in seinem Nachthemd, eine Haarnadel in seinem Auge.

Seitdem war sie auf der Flucht. Als sie aus dem Schutz der Bäume gestolpert war und über das Feld hinweg in der Dämmerung den nahenden Güterzug gesehen hatte, dachte sie zunächst nicht, dass sie ihn rechtzeitig erreichen würde. Aber irgendwie schaffte sie es, über den Zaun zu klettern und durch das überflutete Feld zu waten, während der eiskalte Regen seitlich auf sie einprügelte. Und als sie auf dem Bahndamm stürzte und wieder runterrutschte und der ölige Schlamm ihre Röcke schwer und glitschig machte, gelang es ihr irgendwie trotzdem, sich mit Händen und Füßen wieder hochzukrallen.

Dann hörte sie die Hunde. Sie sah Reiter aus dem Wald auftauchen, dunkle Gestalten, erst eine, dann noch eine, dann noch eine, ordentlich hinter dem Zaun aufgereiht. Die schwarzen Hunde waren schon von der Leine, preschten mit lautem Gebell voraus. Sie sah, wie die Reiter ihre Pferde mit Fußtritten in den Galopp zwangen, und als sie den Griff eines Güterwaggons zu fassen bekam und sich mit letzter Kraft erst hoch und dann in den Wagen schwang, hörte sie einen Gewehrschuss, irgendetwas blitzte pfeifend an ihrem Gesicht vorbei. Sie drehte sich um und sah den Reiter mit dem Zylinderhut, den Furcht einflößenden Vater des toten Mannes, der in seinen Steigbügeln stand und erneut die Flinte ansetzte und zielte. Sie rollte sich verzweifelt weg von der Tür und in das Stroh, wo sie keuchend liegen blieb, während der Zug in der Dunkelheit Geschwindigkeit aufnahm.

Sie musste eingeschlafen sein. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, klebte ihr Haar an ihrem Hals, der Boden des Güterwagens ratterte und wummerte unter ihr, Regen wehte durch die offene Seitentür herein. Sie konnte in der Dunkelheit gerade so die aufgetürmten Kisten ausmachen, versehen mit dem Logo der Greene-King-Brauerei, und eine Holzpalette, die verkehrt herum im Stroh lag.

Und da war noch etwas. Irgendein Licht, sie konnte nicht sehen, woher es kam. Ein Licht, schwach und kalt und blau wie das entfernte Leuchten eines Flächenblitzes. Aber als sie näher herankroch, sah sie, dass es gar kein Licht war. Es war ein Baby, ein kleiner Junge, der im Stroh leuchtete.

Sie würde sich ihr Leben lang an diesen Moment erinnern. Wie das Gesicht des Babys flimmerte, ein durchsichtiges Blau, als würde unter seiner Haut eine Laterne brennen. Wie die Venen auf Wangen und Armen und Hals eine Art Landkarte zeichneten.

Sie kroch näher heran.

Neben dem Baby lag seine schwarzhaarige Mutter, tot.

Was bestimmt den Lauf eines Lebens, wenn nicht der Zufall?

Eliza beobachtete, wie das Leuchten unter der Haut des winzigen Wesens langsam verblasste und schließlich verschwand. In diesem Moment erschien ihr ihr eigenes Leben wie eine lange, durchgehende Linie. Alles, was sie gewesen war, lag hinter ihr. Alles, was sie noch werden würde, erstreckte sich vor ihr. Sie kauerte auf Händen und Knien im Stroh, schwankte mit dem Güterwagen hin und her, fühlte, wie ihr Herzschlag langsamer wurde. Und fast dachte sie, sie hätte es nur geträumt, dieses blaue Leuchten. Fast dachte sie, das Nachleuchten in ihren Augenlidern sei nur die Folge von Erschöpfung und Furcht, nur ein Symptom des schmerzlichen Gedankens an das Leben auf der Flucht, das vor ihr lag. Fast.

»Oh, was bist du denn für ein kleines Ding?«, murmelte sie. »Wo kommst du denn her?«

Sie selbst war nichts Besonderes, war nicht clever. Sie war klein wie ein Vogel, ihr Gesicht verkniffen und schmal, die Augen zu groß, ihr Haar braun und grob wie trockenes Stroh. Sie wusste, dass sie nicht wichtig war – man hatte es ihr immer wieder gesagt, schon seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Vielleicht gehörte ihre Seele in der nächsten Welt Jesus, in dieser Welt gehörte ihr Fleisch dem Erstbesten, der ihr Essen, Kleidung und Obdach anbot. So war diese Welt nun mal. Aber während der kalte Regen auf das Dach prasselte und an der offenen Wagentür vorbeiströmte und sie das Baby ganz fest an sich klammerte, während sich die Erschöpfung vor ihr aufbaute wie eine Tür in die Dunkelheit, war sie überrascht von dem Gefühl, das sie ergriff. Überrascht, wie plötzlich es einfach da war. Wie unkompliziert und leidenschaftlich dieses Gefühl war. Es fühlte sich an wie Wut, auch genauso aufsässig, aber es war keine. Sie hatte in ihrem Leben noch nie etwas in ihren Armen gehalten, das derart hilflos war, so wenig bereit für die Welt. Sie fing an zu weinen. Sie weinte für das Baby, und sie weinte für sich selbst. Und sie weinte wegen der Dinge, die sie nicht mehr ungeschehen machen konnte. Und nach einer Weile, als sie sich ausgeweint hatte, starrte sie einfach in den Regen und hielt das Baby.

Eliza Mackenzie Grey. Das war ihr Name, flüsterte sie dem Baby zu, immer wieder, als wäre es ein Geheimnis. Sie fügte nicht hinzu: Mackenzie nach meinem Vater, ein guter Mann, den der Herr zu früh genommen hat. Sie sagte nicht: Grey nach dem Mann, den meine Mutter danach heiratete, ein Kerl so groß wie mein Da, gut aussehend wie der Teufel mit einer Geige, der süß daherreden konnte auf eine Art, die meine Mutter zu mögen glaubte. Ein Kerl, der aber nicht so war wie seine Worte. Der Alkohol hatte den Charme dieses Mannes schon wenige Wochen nach der Hochzeit weggespült, bis der Boden ihrer jämmerlichen Behausung oben im Norden in Leicester von Flaschen übersät war und er begann, Eliza morgens grob anzufassen – auf eine Weise, die sie, noch ein Mädchen, noch nicht verstand, die ihr wehtat und sie beschämte. Als sie im Alter von dreizehn Jahren als Bedienstete verkauft wurde, war es ihre Mutter, die den Verkauf abwickelte. Es war ihre Mutter, trockene Augen, Lippen weiß wie der Tod, die sie zur Agentur schickte. Was auch immer zu tun war, um sie vor diesem Mann in Sicherheit zu bringen.

Und jetzt dieser andere Mann. Ihr Arbeitgeber, Sprössling einer Zuckerfabrikantenfamilie, mit seinen feinen Westen und seinen Taschenuhren und dem gepflegten Backenbart, der sie zu sich in sein Arbeitszimmer gerufen und sie nach ihrem Namen gefragt hatte – obwohl sie da schon zwei Jahre im Haus gearbeitet hatte. Und der vor zwei Nächten sanft an ihrer Zimmertür geklopft hatte, in der Hand einen Kerzenhalter. Der sanft den Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie aus dem Bett steigen konnte. Bevor sie auch nur fragen konnte, was los war. Jetzt lag er tot auf dem Boden ihres Zimmers, Meilen entfernt, in einer Sauerei aus schwarzem, geronnenem Blut.

Tot durch ihre Hände.

Im Osten wurde der Himmel blasser. Als das Baby begann, vor Hunger zu weinen, nahm Eliza das einzige Essen, das sie hatte, eine in ein Taschentuch gewickelte Brotkruste, zerkaute ein Stückchen und gab die Pampe dann dem Baby. Es nuckelte hungrig daran, die Augen weit geöffnet und auf ihre gerichtet. Seine Haut war so blass, sie konnte die blauen Venen darunter erkennen. Dann kroch sie hinüber zur toten Mutter und fand in deren Unterrock ein schmales Bündel Geldscheine und eine kleine Börse mit Münzen. Mühsam öffnete sie das Gewand der Mutter und rollte sie dann zur Seite, um sie aus der Kleidung zu befreien. An ihrem Hals hing eine lederne Kordel mit zwei schweren, schwarzen Schlüsseln. Diese ignorierte Eliza. Die hellen lilafarbenen Röcke waren lang, und sie musste die Taille umschlagen, damit sie ihr passten. Als sie fertig war, murmelte sie ein Totengebet. Die tote Frau war weich und üppig und hatte dickes schwarzes Haar. Sie war alles, was Eliza nicht war. Aber ihre Brüste und Rippen waren mit Narben bedeckt: Furchen aus Brandblasen, aber keine normalen Brandnarben oder Pockennarben. Eher, als sei das Fleisch geschmolzen und dann gefroren. Eliza wollte sich nicht vorstellen, was diese Narben verursacht hatte.

Die neue Kleidung war weicher als ihre eigene, feiner. Im Licht des frühen Tages, als der Frachtzug dazu übergegangen war, an kleinen Kreuzungen sein Tempo zu drosseln, sprang sie mit dem Baby in ihren Armen ab und ging an den Schienen entlang zurück zum letzten Bahnhof. Es war ein Dorf namens Marlowe, und weil der Name so gut wie jeder andere war, nannte sie auch das Baby Marlowe. Dann nahm sie sich in der einzigen Pension – eine Unterkunft neben der alten Raststätte – ein Zimmer und legte sich, ohne auch nur ihre Stiefel auszuziehen, in die sauberen Laken, das Baby warm und weich auf ihrer Brust, und zusammen schliefen und schliefen sie.

Am Morgen kaufte sie einen Fahrschein dritter Klasse nach Cambridge, von dort reisten sie und das Baby weiter nach Süden, bis nach King’s Cross und dann tief hinein in das dunkle und verrauchte London.

Das Geld, das sie gestohlen hatte, reichte nicht lange. Im Stadtteil Rotherhithe erzählte sie rum, dass ihr junger Ehemann bei einem Kutschenunfall umgekommen sei und sie nun eine Anstellung suchte. In der Church Street fand sie in einem Pub...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2022
Reihe/Serie Die "Dunkle Talente"-Reihe
Übersetzer Thomas Salter
Sprache deutsch
Original-Titel Ordinary Monsters - Talents Book 1
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte 2022 • Abenteuer • Agenten • Dunkle Magie • eBooks • Epos • Fantasy • Fantasy-Action • Institut • Intrigen • Jenseits • Kinder • Neuerscheinung • Schottland • viktorianische Epoche
ISBN-10 3-641-29041-4 / 3641290414
ISBN-13 978-3-641-29041-2 / 9783641290412
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