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Der Rausch der Tiefe -  Kyle Perry

Der Rausch der Tiefe (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-205-7 (ISBN)
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An der dramatischen Küste der Tasmanischen Halbinsel wird ein Junge angespült, übersät mit blauen Flecken und gebrandmarkt mit einem rätselhaften Tattoo, das ihn als Forest Dempsey identifiziert, jenen 13-jährigen Jungen, der vor sieben Jahren spurlos verschwand und seitdem für tot gehalten wurde. Was ist passiert? Da Forest hartnäckig schweigt, machen sich die Cousins Mackerel und Ahab Dempsey auf die Suche nach Antworten. Unerbittlich werden sie dabei zurück in den Strudel der verbrecherischen Machenschaften ihrer Familie gezogen, den sie eigentlich verlassen hatten. Und es wird immer schwieriger, zwischen richtig und falsch, zwischen Moral und Loyalität zu unterscheiden.

Kyle Perry arbeitet in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken als Therapeut und Sozialarbeiter und lebt in Hobart, Tasmanien. Er ist mit dem tasmanischen Busch und dem Meer aufgewachsen, und die Natur spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben und Schreiben. Sein Debütroman ?Die Stille des Bösen? stand u. a. auf der Shortlist für das Dymocks Book of the Year, das Indie's Debut Fiction Book of the Year und die Best First Novel bei den International Thriller Writers Awards.

Kyle Perry arbeitet in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken als Therapeut und Sozialarbeiter und lebt in Hobart, Tasmanien. Er ist mit dem tasmanischen Busch und dem Meer aufgewachsen, und die Natur spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben und Schreiben. Sein Debütroman ›Die Stille des Bösen‹ stand u. a. auf der Shortlist für das Dymocks Book of the Year, das Indie's Debut Fiction Book of the Year und die Best First Novel bei den International Thriller Writers Awards.

Kapitel eins


AHAB


Ahab Stark durchbrach mit der Harpune in der Hand die Wasseroberfläche und sog gierig die Luft ein. An seinem Handgelenk baumelte eine Unterwassertaschenlampe. Er zog sich die Tauchmaske unters Kinn und hustete. In dem grau melierten Bart hingen kalte Wassertropfen, die eisblauen Augen hatten sich längst an das brennende Salzwasser gewöhnt. Er bleckte grinsend die Zähne: Diesmal hatte er’s mit dem Tauchgang fast zu weit getrieben.

Am frühen Morgenhimmel standen ein paar letzte blasse Sterne. Wolken waren nirgendwo zu sehen, aber er hatte unter Wasser das vibrierende Brummen gehört, die Gegenströmung gespürt. Hier, zwischen den einzelnen Riffs, die verstreut in der Bucht lagen, war sie leicht zu fühlen. Und er hatte einen Schwarm Lachsbarsche in tiefere Gewässer fliehen sehen.

Der schwarze Wind kam auf.

Ahab legte sich auf den Rücken und überließ sich der trügerischen Stille, die den kommenden Sturm ankündigte. Natürlich war der Ozean niemals wirklich still, aber trotzdem empfand Ahab all dies als die wahre Stille. Nur Geräusche der Natur, um ihn herum nichts als die ewige Bewegung des Wassers – Warten mit angehaltenem Atem. Gelöst ließ er sich treiben und sah zum hell werdenden Himmel hinauf.

»Die Zeit nehme ich mir«, sagte er nach oben gewandt.

Als ihm Kälte und Wind schließlich bis in die Knochen drangen, paddelte er mit ein paar Schlägen seiner mattschwarzen Flossen hinüber zu dem vor Anker liegenden Schlauchboot. Triefend kletterte er die Leiter hoch. In einem Beutesack an seiner Hüfte steckten die erlegten Fische – genug King Flathead, um in seinem Pub als Fang des Tages auf die Karte zu kommen. Er legte Maske und Schnorchel ab, dann Harpune und Taschenlampe und zog sich die Flossen aus.

Sein Tauchpartner Ned ließ sich auf der anderen Seite des Boots auf dem Wasser treiben. Im Gegensatz zu Ahab trug Ned einen bunten Neoprenanzug – dem Jüngeren war das Wasser sogar im Hochsommer zu kalt. »Die Fische sind alle verschwunden, Ahab«, rief Ned. »Glaubst du, er kommt? Der schwarze Wind?«

»Definitiv«, rief Ahab zurück.

Ned kletterte ins Boot und schälte sich zitternd aus dem Anzug, ohne sich seiner Nacktheit zu schämen. Er frottierte sich die langen Haare und prüfte das Ergebnis mithilfe seiner Handykamera, ehe er den Rest seines schlaksigen Körpers trockenrubbelte.

»Lass uns abhauen«, sagte Ahab, sobald sie beide angezogen waren.

»Schau mal«, sagte Ned und zog sich den Reißverschluss der dicken Jacke zu. »Da drüben sind noch welche.«

Zwischen dem Auf und Ab der Wellen kam immer wieder ein Schiff in Sicht.

»Alles okay«, sagte Ahab. »Die werden die Zeichen schon lesen.«

Er musterte den Himmel – er war noch immer fast wolkenlos, nur ein paar feine, hohe Federwolken wurden von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in ein blasses Rot getaucht. Ahab musste sich eingestehen, dass es eigentlich noch keine eindeutigen Anzeichen gab. Der schwarze Wind tauchte oft wie aus dem Nichts auf, fast ohne jede Vorwarnung. Und hier waren ständig irgendwelche Typen von auswärts unterwegs.

Ahab stieß einen Seufzer aus. »Okay. Wir fahren besser mal rüber.«

Er warf den Motor an und hielt auf das andere Boot zu. Der Bug durchpflügte dunkle, ineinanderfließende Wellen, während sich das erste Morgenrot auf die flüssigen Kronen legte.

Als sie näher kamen, drosselte Ahab abrupt die Geschwindigkeit. Er kannte das Boot. Es war die Absconder, das Abalone-Mutterschiff, ein 18-Meter-Westcoaster mit Flybridge, Tanks für lebende Abalonen und einem Kran auf dem hinteren Deck. Das Schiff gehörte dem Boss von Dempsey Abalone – Davey Dempsey, seinem Cousin.

Ahab ging längsseits und machte sein Schlauchboot an der Absconder fest.

»Ich bleib hier, oder?«, fragte Ned.

»Halt dich bereit, vielleicht muss es schnell gehen«, raunte Ahab, hievte sich durch die Tauchklappe und stieg an Deck.

Am Heck stand Davey mit Chips, seiner Assistentin und rechten Hand. Sobald er hörte, dass jemand an Bord seines Schiffes ging, fuhr er herum. Davey war eine beeindruckende Erscheinung, dunkelhaarig und muskulös; die hochgekrempelten Ärmel seines Hemds entblößten unverwechselbare Tribal-Tattoos. Sein raues Gesicht war, wie Ahab Ned irgendwann mal voller Neid hatte sagen hören, »ungerecht attraktiv«.

Er schenkte Ahab ein säuerliches Lächeln. »Ach was, Verwandtschaft. Willkommen an Bord.«

Chips trug eine warme Weste in Signalfarbe, die mehr für Bequemlichkeit als für Stilbewusstsein sprach, und hatte ihre langen, sandblonden Haare unter einer blauen Baseball-Cap zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie grüßte Ahab mit einem respektvollen Nicken. Er hatte ihr damals, als sie vor ewigen Zeiten die Highschool geschmissen hatte, ihren ersten Job gegeben und sie irgendwann für die »Firma« empfohlen.

Sie war ihm heute noch dankbar dafür. Ahab hingegen wünschte, er könnte es ungeschehen machen.

»Was verschafft uns die Ehre?«, fragte Davey, an die Reling gelehnt. Es gab gute Gründe für sein Misstrauen gegen Ahab, doch er versuchte trotzdem, sich nichts anmerken zu lassen.

»Der schwarze Wind kommt auf.«

Davey zog eine Grimasse. »Wie lange noch?«

»Eine Stunde. Vielleicht zwei.«

Davey saugte an der Unterlippe, ging nach vorn zum Bug und sah hinaus aufs Meer. Ahab folgte seinem Blick. Ein paar Alu-Außenborder dümpelten in Sichtweite. »Eine Stunde, hm …«

Abalonen-Fischerei war ein eigenartiges Geschäft. Die Meeresschnecken, auch als Seeohren bekannt, wurden von den Tauchern abgesammelt, die gerade jetzt da unten waren. Die dicke Innenschicht des ohrmuschelförmigen Schneckengehäuses bestand aus schillerndem, farbenprächtigem Perlmutt, doch es war das Fleisch, das die Tiere so wertvoll machte – roh oder gekocht eine Delikatesse, war es in Asien so begehrt wie Gold. Tasmanien lieferte etwa ein Viertel der weltweiten jährlichen Abalonen-Ernte.

Die kleinen Boote, die rund um die Absconder verstreut lagen, waren mit Helfern bemannt, die das Boot direkt über den betreffenden Tauchern hielten. Die Taucher wiederum klaubten die auf Felsen sitzenden Abalonen ab und schickten sie in Beutesäcken an die Oberfläche. Kleine Schirme gaben den an Leinen befestigten Beuteln Auftrieb, indem die Taucher sie mit Luft aus dem Atemregler befüllten.

Beutesäcke voll mit Abalonen und anderem, wie Ahab nur zu gut wusste. Zeug, das von Lieferanten hier draußen deponiert wurde, um von Davey eingesammelt, zurück an Land gebracht und verkauft zu werden, am Gesetz vorbei und direkt unter der Nase der Polizei.

»Die sind später auch noch da«, sagte Ahab.

»Ja, im Meer ist immer mehr als genug«, stimmte Davey ihm zu. »Aber wir haben trotzdem eine Fangquote. Dem Geschäft ist der Wind egal. Ich geb den Tauchern nachher Signal.«

»Willst du das wirklich riskieren?«

Davey richtete sich auf. »Vergiss nicht, mit wem du sprichst.«

»Ich weiß sehr gut, mit wem ich spreche.«

Chips verlagerte das Gewicht und ließ ihren Blick nervös zwischen den zwei Männern hin- und herschweifen.

Davey lachte die Anspannung weg. »Keine Angst, Chips. Wir hegen Respekt vor den Ältesten, die uns den Weg geebnet haben.«

Vielleicht war es tatsächlich respektvoll gemeint, doch Ahab zog sich trotzdem die Brust zusammen. Die Vergangenheit ließ sich nun mal nicht mehr ändern.

Er grüßte stumm zum Abschied und kletterte in sein Boot zurück. Ned wendete, gab Gas und fuhr zurück in Richtung Shacktown.

Irgendwann würde er der Polizei von der Firma erzählen müssen, dachte Ahab. Aber konnte er das wirklich tun? Daveys Leben ruinieren, das von Chips, das von so vielen anderen?

Doch was war mit den Menschen, deren Leben sie ruinierten?

Verärgert schob er den Gedanken beiseite. Wie schon so oft.

Ihm waren die Hände gebunden – noch. Sosehr es ihn quälen mochte, ihn manchmal bis an den Rand des Wahnsinns trieb, Ahab stand zu seinem Wort.

Trotzdem. Auch seine Selbstbeherrschung hatte Grenzen. Irgendwann würde er einen Grund finden, sein Versprechen zu brechen.

Als sie sich den Klippen näherten, stieg aus Devils Kitchen Dunst auf wie rosaroter Rauch. Devils Kitchen war ein riesiger, tiefer Spalt in den Klippen von Pirates Bay, ein von Wasser, Wind und Zeit gefurchter Abgrund, in dem ein lebensgefährlicher Strudel wilder Wellen zu Hause war. Dieser Wirbel verwandelte die Dünungen des riesigen südlichen Ozeans in einen brodelnden Hexenkessel. Devils Kitchen war gigantisch, überwältigend und höllisch gefährlich. Doch der Name stammte woandersher: Frühe europäische Siedler hatten an dieser Stelle Dunst aufsteigen sehen und behauptet, dort unten würde der Teufel seinen Fleischkessel anheizen.

Dann kamen die Häuser von Shacktown in Sicht. Sie waren über die bewaldeten Hügel verstreut, bis an den Rand der steilen Klippen und die Strände der Bucht. Ahab ließ den Blick über den Ort schweifen, über die herrschaftlichen Strandvillen, die schlichten Ferienhütten und all die anderen Häuser, die versteckt zwischen Banksiasträuchern, Kasuarinenbäumen und Sand lagen.

Als sie die Landspitze umfahren hatten und auf das Labyrinth der hölzernen Anleger zuhielten, sahen sie in der Ferne, drüben am Nordstrand, die blau-roten Signalleuchten von Einsatzfahrzeugen blinken, eindeutig Polizei- und Rettungswagen.

»Was ist denn da los?«, rief Ned über den Motorenlärm hinweg.

»Das werden wir sicher gleich erfahren«, antwortete Ahab.

Die Bewohner von Shacktown liebten Tratsch und Klatsch, und im Hafen war trotz der frühen...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2022
Übersetzer Sabine Längsfeld
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Australien • Drogenhandel • Familie • Geheimnis • Loyalität • Meer • Natur • Tasmanien • Tattoo • Tauchen • Verrat
ISBN-10 3-03792-205-2 / 3037922052
ISBN-13 978-3-03792-205-7 / 9783037922057
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