Die Totenärztin: Schattenwalzer (eBook)
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01414-5 (ISBN)
René Anour lebt in Wien. Dort studierte er auch Veterinärmedizin, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Er arbeitet inzwischen bei der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit und ist als Experte für neu entwickelte Medikamente für die European Medicines Agency tätig. Sein historischer Roman «Im Schatten des Turms» beleuchtet einen faszinierenden Aspekt der Medizingeschichte: den Narrenturm, die erste psychiatrische Heilanstalt der Welt. Sein zweiter Roman bei Rowohlt ist der Auftakt zu einer vierbändigen Reihe um eine junge Pathologin in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts: «Die Totenärztin». Für die Bücher würde er sowohl mit dem Goldenen Homer als auch mit dem Homer Publikumspreis für den besten deutschsprachigen historischen Roman ausgezeichnet.
René Anour lebt in Wien. Dort studierte er auch Veterinärmedizin, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Er arbeitet inzwischen bei der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit und ist als Experte für neu entwickelte Medikamente für die European Medicines Agency tätig. Sein historischer Roman «Im Schatten des Turms» beleuchtet einen faszinierenden Aspekt der Medizingeschichte: den Narrenturm, die erste psychiatrische Heilanstalt der Welt. Sein zweiter Roman bei Rowohlt ist der Auftakt zu einer vierbändigen Reihe um eine junge Pathologin in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts: «Die Totenärztin». Für die Bücher würde er sowohl mit dem Goldenen Homer als auch mit dem Homer Publikumspreis für den besten deutschsprachigen historischen Roman ausgezeichnet.
1. Kapitel
Der lebende Tote
Fanny starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, wie er auf dem Stuhl ihres Vaters thronte, mit übereinandergeschlagenen Beinen und einem Grinsen im Gesicht, ein säuberlicher Abzug aus Fannys Albträumen. Mechanisch klingende Musik drang aus einem Apparat, den er neben sich aufgestellt hatte. Wiener Blut. Das Lied, das gespielt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
Eben hatte sie sich noch auf der Straße von ihrem Verlobten Max verabschiedet, nur um ihn hier in ihrem Zuhause vorzufinden. Er, das war Graf Magnus von Waidring, das größte kriminelle Genie von Wien, der Fanny schon einmal gezwungen hatte, seine ermordeten Handlanger zu obduzieren.
«Ich wusste, Sie würden mich vermissen», erklärte er.
«Ach, du heilige …», flüsterte sie. Ihr kamen so viele Fragen in den Sinn, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. «Verschwinden Sie!», zischte sie. «Sofort!»
Waidrings Blick ruhte auf ihr. «Was denn? Keine Freudentränen?» Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. «Kein Kuss?»
«Freudentränen vergieße ich erst bei Ihrem Begräbnis. Wie … wie zum Teufel haben Sie überlebt?»
«Oh!» Waidring lehnte sich entspannt zurück. «Sprechen Sie etwa von unserer letzten Begegnung, als ich mich diesem Trupp maskierter Meuchelmörder stellte, damit Sie und Ihre kleine Freundin entkommen konnten?»
Fanny schluckte. Es stimmte. Waidring hatte Tilde und ihr damals das Leben gerettet. Sozusagen.
«Diese Meuchelmörder waren doch nur wegen Ihnen hinter uns her. Nur, weil Sie sich mit dem dunklen König und seiner Geheimgesellschaft angelegt haben. Weil es Ihnen nicht gepasst hat, dass er Ihnen Ihre Pfründe streitig macht.»
Waidring erhob sich erstaunlich schnell und kam auf Fanny zu. Sie wich keinen Schritt zurück, sondern wartete, bis er direkt vor ihr stand. Für einen Moment schien er es zu genießen, auf sie herabzublicken. Sie hielt seinem Blick zunächst stand, fixierte das schwarze Barthaar, das an manchen Stellen schon grau war, und versuchte, den fast schon vertrauten Geruch seines Eau de Cologne nicht angenehm zu finden. Bevor sie errötete, sah sie rasch zur Seite. Er schien ihre Nervosität durchaus zu genießen.
«Sie können mir nicht weismachen, dass Sie sich nur als ein armes Opfer der Umstände betrachten, meine Liebe. Hätte ich je Notiz von Ihnen genommen, wenn Sie sich nicht auf mein Fest im Palais Coburg geschlichen hätten, um dort zu ermitteln? Und wenn Sie nicht selbst einen Groll gegen die Gesellschaft hegen würden, warum haben Sie dann kürzlich wieder ihre Kreise gestört, ganz ohne mein Zutun?»
Fanny setzte an, um zu widersprechen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.
«Sie wissen, wovon ich spreche. Die Auwaldmorde …»
Fanny sparte sich die Frage, woher er das schon wieder erfahren hatte. «Hätte ich gewusst, dass der Mörder etwas mit der Gesellschaft zu tun hat, hätte ich …»
«Was? Die Morde unaufgeklärt gelassen, Ihr feines Näschen nicht noch tiefer in dieses verlockende forensische Rätsel gesteckt?» Er lachte. «Sie leiden an einem pathologischen Mangel an Furcht. Das macht Sie so interessant.» Er beugte sich zu ihr und ergriff ihre Hand, bevor sie sie wegziehen konnte. «Oh», sagte er wieder und besah sich ihren Verlobungsring mit mildem Interesse. «Vielleicht hätte ich Ihren werten Herrn Inspector doch töten sollen. Ich mag es nicht, wenn jemand sich etwas nimmt, was mein sein sollte.»
Fanny stieß ihn mit dem Finger gegen die Brust.
Waidring stöhnte und krümmte sich.
«Stellen Sie sich nicht so an», zischte Fanny. «Sie …» Fanny beobachtete, wie Waidring sich mit schmerzverzerrter Miene an die Brust griff. «Sie sind verletzt», flüsterte sie. «Immer noch.»
Waidring presste die Lippen zusammen und richtete sich auf. «Manche Wunden brauchen ihre Zeit», krächzte er. «Aber zumindest die kleinen Parasiten in meiner Lunge, die Sie damals so trefflich diagnostiziert haben, bin ich mittlerweile losgeworden.»
«Das tut mir leid», erwiderte Fanny kühl. «Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Lungenwürmer Sie etwas länger begleiten.» Sie atmete tief durch und wartete, bis seine Schmerzen nachzulassen begannen und er sich wieder aufrichtete. «Was wollen Sie von mir? Ich hatte Ihr Wort, dass Sie mich in Ruhe lassen würden.»
Waidring schloss für einen Moment die Augen. «Wir leben in schwierigen Zeiten, meine Liebe», meinte er. «Man hat das Gefühl, die Welt wartet nur auf einen Vorwand für einen Krieg.»
«Falls Sie erwarten, dass ich daran etwas ändere … Ich bin Jungassistentin an der Gerichtsmedizin, keine Kaiserin, also verschonen Sie mich mit Ihren Spielchen.»
Waidring hob das Kinn und öffnete ein silbernes Etui, das in seiner Brusttasche steckte. Langsam holte er eine Zigarre daraus hervor, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. «Keine Sorge», erklärte er. «Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen, nicht, um Sie zu rekrutieren.»
«Wovor denn?»
Waidring nahm einen weiteren Zug und betrachtete sie mit einem halben Lächeln. «Auf dem diplomatischen Parkett Wiens findet gerade ein seltsamer Tanz statt, dessen Muster ich noch nicht ganz verstehe.»
Fanny schüttelte ungläubig den Kopf. «Das ist alles? Sie sollten das jemandem erzählen, der sich dafür interessiert.»
«Oh, ich denke, dahinter steckt mehr, als das Auge sieht», meinte Waidring. «Man hat mir zugetragen, dass sich vermehrt ranghohe Russen nach Wien begeben, ohne dass es einen augenscheinlichen Grund für ihre Anreise gibt. Sie nehmen an Bällen und Festen teil, doch wenn Sie mich fragen, steckt etwas anderes dahinter.»
«Es tut mir leid, aber mich interessieren solche Dinge nur, wenn jemand tot ist und ich ihn obduzieren darf.»
Waidring hob eine Augenbraue. «Abwarten!»
«Sie sind also nur hergekommen, um mir zu sagen, dass sich ein paar Russen in Wien verdächtig verhalten?» Sie lachte.
Die Beziehungen zwischen Russland und Österreich-Ungarn waren schon lange abgekühlt, und immer wieder hatte sie in der Zeitung ihres Vaters gelesen, dass das Zarenreich der Donaumonarchie mit Krieg drohte. Erst letztes Jahr, während der Annexion Bosniens, wäre es beinahe zur Eskalation gekommen.
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass es diesmal mehr ist. Etwas geht vor sich, etwas sehr Gefährliches. Und es hat bereits ein erstes Opfer gegeben …»
Fanny hob die Augenbrauen. Im Geiste ging sie die Leichen durch, die in den letzten Tagen an die Gerichtsmedizin geliefert worden waren: ein erdolchter Ehemann und eine von einer missgünstigen Kollegin erschlagene Probiermamsell. Schwer vorstellbar, dass Waidring einen dieser Toten meinte.
«Oh, die Leiche wurde nie in die Obhut Ihrer zarten Hände übergeben. Es war die Frau eines französischen Diplomaten. Eine delikate Angelegenheit. Vorgeblich scheint sie sich vergiftet zu haben, ein tragischer Selbstmord.»
«Wieso hat man sie zur Abklärung nicht obduzieren lassen?»
«Die Sache schien allen Beteiligten so eindeutig – und heikel –, dass man darauf verzichtete. Und das Giftfläschchen selbst stand auf einem handgeschriebenen Abschiedsbrief.»
«Das klingt tatsächlich nach Selbstmord.»
«Ungewöhnlich nur, dass mir die Dame bekannt war. Sie war in besseren Zeiten … in meinem inneren Kreis, und wir haben ab und zu …»
«Bitte sparen Sie mir die Details!»
«Dabei bin ich so sicher, dass Sie jedes davon genießen würden.»
«Gewiss nicht!»
«Jedenfalls war die gute Madame Latour von fröhlichem Gemüt, etwas einfach gestrickt, wie ich damals feststellte. Zwei Dinge, die nicht zu den Umständen ihres Ablebens passen.»
«Welches Gift hat sie benutzt?»
«Endlich die richtige Frage!» Waidring nahm wieder auf dem Stuhl ihres Vaters Platz und wartete, bis Fanny sich ihm gegenübergesetzt hatte. «Ihr Mann leidet unter schwerer Melancholie, die niemand heilen kann. Ein Spezialist empfahl ihm eine Arznei namens …»
«Lithium», flüsterte Fanny. Früher hatte man es nur als Gichttherapeutikum eingesetzt, ehe der Arzt Fritz Lange mit dieser Therapie beachtliche Erfolge bei Melancholikern erreicht hatte. «Die Dosierung ist … heikel, ein wenig zu viel, und es kommt zu Vergiftungserscheinungen.»
Waidring nickte ihr zu. «Gutes Mädchen!»
«Kaum jemand weiß das», meinte Fanny kopfschüttelnd. «Wieso hätte sie dieses Medikament wählen sollen, um sich zu suizidieren?»
Waidring ließ seinen Blick auf ihr ruhen. «Ich warte weiterhin auf den Tag, an dem Sie mich enttäuschen!» Er legte seine Zigarre in den silbernen Aschenbecher ihres Vaters und verschränkte die Finger. «Der Zufall will es, dass Madame Latour am Tag vor ihrem Verscheiden einem Empfang der russischen Botschaft beiwohnte. Ein wunderbares Fest. Es wurde getrunken, gelacht, nur die Crème de la Crème … Es schien, als habe sie sich prächtig amüsiert. Und am nächsten Tag war sie tot!»
«Wo ist die Leiche jetzt?», fragte Fanny. Eine Obduktion schien ihr sinnvoll. Sie könnte nach Spuren von Gewalteinwirkung suchen, falls jemand sie gezwungen hatte, den Brief zu schreiben und das Lithium zu schlucken.
«Auf dem Weg nach Paris, wo ihr Mann sie morgen beisetzen lassen wird.»
Fanny schürzte verärgert die Lippen. Egal, ob die Information von Waidring kam oder nicht, es ärgerte sie, dass diese Geschichte niemals aufgeklärt werden würde. «Ich verstehe...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2023 |
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Reihe/Serie | Die Totenärztin-Reihe | Die Totenärztin-Reihe |
Zusatzinfo | Mit 1 s/w-Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Anne Stern • Beate Maxian • Die Ärztin • Fräulein Gold • Gerichtsmedizin • historischer Krimi • Historischer Roman • Historische Spannung • krimis aus österreich • Medizingeschichte • Neuheiten 2023 • Österreich Kriminalroman • Saga • Wiener Krimis • Wien Krimi • Wien-Krimi • Wien Kriminalroman • Wien Roman • Wien um 1900 |
ISBN-10 | 3-644-01414-0 / 3644014140 |
ISBN-13 | 978-3-644-01414-5 / 9783644014145 |
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