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An der Grasnarbe (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
189 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77242-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

An der Grasnarbe - Mirjam Wittig
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Jetzt hütet Noa also Schafe. Um ihren Angstattacken in der Großstadt zu entfliehen und aus Sehnsucht nach dem einfachen Leben,ist sie als freiwillige Helferin auf einen Hof nach Südfrankreich gekommen. Hier leben Ella, Gregor und ihre elfjährige Tochter Jade von ihrer Herde und dem, was sie auf den Äckern anbauen. Doch das wird immer beschwerlicher, die Sommer werden heißer. Auch Noa bemerkt die Risse im Boden und wie wenig Wasser der Fluss führt. Das Landleben zeigt sich nicht weniger aufreibend als Noas früheres Leben. Und in der Abgeschiedenheit der Berge holen sie auch die Ängste und inneren Widersprüche ein, mit denen sie bereits zuhause zu kämpfen hatte.

In An der Grasnarbe treffen innere und äußere Landschaften aufeinander, die nicht nur durch die Klimakrise ins Wanken geraten. Mirjam Wittig erzählt davon mit großem Einfühlungsvermögen und starker atmosphärischer Kraft - als ob man die Berge und Täler vor sich sieht, die Schafsglocken hört, Trockenheit und Hitze auf der Haut spürt. Ein aufregendes Debüt!



Mirjam Wittig, geboren 1996, hat u. a. Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim studiert. Sie war Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste und Teil der K&uuml;nstlerischen Leitung des PROSANOVA-Festivals 2020. F&uuml;r Ausz&uuml;ge aus ihrem Deb&uuml;troman <em>An der Grasnarbe</em> erhielt sie 2019 den F&ouml;rderpreis der Gesellschaft f&uuml;r Westf&auml;lische Kulturarbeit NRW und 2021 das Stipendium des Literarischen Zentrums G&ouml;ttingen.

1


Es war kalt am Rand der französischen Landstraße, deren Asphalt unter einer einzelnen Laterne glänzte, und es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis überhaupt das erste Auto auftauchte, ein Citroën, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Er hielt direkt vor mir, und bevor ich in Panik ausbrechen konnte, stieg die Fahrerin aus und war Ella, die freundlich lächelte und gekommen war, um mich abzuholen.

»Damit fahren wir manchmal auch Schafe zum Schlachter«, sagte Ella und warf mein Gepäck in den hinteren Teil des kleinen Transporters. »Na ja, oder zu einer anderen Weide. Einmal sind uns ein paar Böcke ausgebrochen, die wir dann einzeln von der Landstraße sammeln mussten. Die waren vielleicht gestresst, die Armen.« Ich lächelte höflich. Im Auto war es dunstig und warm, es roch nach Stroh, Schafskot und Plastik.

Die Scheinwerfer erlaubten mir nur einen eingeschränkten Blick in die Umgebung. Alles war spitz, die Felskanten, die sich rechts bis an den Straßenrand zackten, das Gestrüpp, das dazwischen hervorragte. Die ganze Busfahrt über hatte es geregnet, hier hing nun die Feuchtigkeit über der Fahrbahn. Nebel stand in den Kurven, und ich konnte nicht sehen und nicht ahnen, was dahinter lag. Als irgendwann ein paar wenige erleuchtete Fenster im Dunkel zu erkennen waren, zeigte Ella darauf und sagte, dass sie dort wohnten. Sie lenkte den Wagen routiniert, nur die Kupplung klang, als würde sie direkt über den Asphalt kratzen.

»Gregor hat hoffentlich schon gekocht. Bist du Vegetarierin?«

Ich nickte.

»Ich hoffe, nicht zu streng. Unsere Tochter ist im Moment krank, da können wir unmöglich was ohne Fleisch machen.« Sie lachte. »Na, mal sehen, wie die Stimmung ist.«

Ich suchte nach etwas, das ich sagen könnte. Schweigend sah ich in die Dunkelheit, mit einem Gefühl, als stünde ich noch allein an der Straße.

»Ach, ihr habt eine Tochter?«, sagte ich dann. »Das hab ich in den E-Mails gar nicht verstanden.« Nur einmal hatte sie eine Jade erwähnt, da hatte ich gedacht, was für ein exzentrischer Name für einen Hund.

Jade trug einen blauen Pullover, das war alles, was ich von ihr sehen konnte. Sie lag auf dem Sofa in der Wohnküche, als wir ankamen, und beachtete mich erst einmal nicht. Sie rief nach Ella, die sich sofort zu ihr setzte, ohne nur ihre Tasche abzulegen oder ihre Schuhe auszuziehen. Die beiden begannen, miteinander zu flüstern. Der Mann, Gregor, stand mit dem Rücken zu mir über die Spüle gebeugt. In der Sekunde, in der Ella in den Raum gekommen war, hatte er angefangen, mit ihr zu sprechen. Er drehte sich dafür nicht um und bemerkte offenbar nicht, dass Ella mit ihrer Tochter beschäftigt war. Ich stand an der Schwelle und musste immer wieder zum Telefon schauen, das in Griffweite neben mir auf dem Computertisch lag. Ich wollte es gern nehmen. Ich wollte es unbedingt nehmen und andere Stimmen hören als die, die dieser Raum bot, Lukas, Aseel und Mejet, Merle. Die Autofahrt mit Merle, noch in Stunden zählbar lag die zurück, als ich neben ihr saß und sie fragen wollte, ob sie vielleicht den ganzen Weg mit mir kommen, mich abends ins Hostel und morgens zum Bahnhof tragen könnte: Kannst du für mich im Restaurant bestellen und mir das Essen in den Mund schieben, unter das Tuch, das ich von jetzt an über meinen Kopf legen will? Kannst du den Menschen an der Rezeption erklären, warum du mich auf dem Rücken hast und mein Vormund bist und warum ich dieses Tuch vor dem Gesicht tragen muss?

»Hallo Noa«, sagte Gregor und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er hatte die Hände noch voller Schaum, als er zur Begrüßung mich und den Rucksack umarmte und ich endlich ganz in den Raum gekommen war. Er nahm mir den Rucksack ab, zögerte kurz und stellte ihn dann doch nach draußen in den Flur. »Hier ist nie genug Platz«, sagte er. Ich durfte mich an den Tisch setzen, nein, ich solle nicht helfen, sondern mich ausruhen. Ich sah mich möglichst unauffällig um. Die Wände der Stube waren an vielen Stellen von Ruß oder etwas anderem dunkel verfärbt. In der Nische, in der früher der offene Kamin gewesen sein musste, stand ein kleiner Holzofen, die Wand dahinter zeigte die Steine der Außenmauer. Der Kaminsims war vollgestellt mit Zeug, manches konnten Tierknochen sein, anderes war vor Staub unkenntlich, ein paar ausgeblichene Plastikfiguren aus Überraschungseiern waren dabei.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Holzbohlen der Zimmerdecke bildeten wahrscheinlich gleichzeitig den Fußboden des oberen Stockwerks. An manchen Stellen sah das dunkle Holz angegriffen aus, hatte weiße Spuren, ich konnte nicht sagen, ob von Feuer oder von Schimmel. Als ich mich weiter umschaute, traf mein Blick den Blick des Kindes. Jade hatte aufgehört zu flüstern und musterte mich, nicht lauernd, aber sehr aufmerksam für ein krankes Kind. Ella saß nicht mehr bei ihr.

»Hallo.« Ich lächelte, aber mein Kiefer war ganz angespannt.

»Hallo.«

Dass ihre Augen mir derart grün auffielen, lag vielleicht am Licht. Sie musste diese ersten Abende gewohnt sein und übernahm die Unterhaltung für mich.

»Bist du gut angekommen?«

Ich nickte sofort.

»Ja, es hat nur sehr lang gedauert, aber war okay, habe ja eine Nacht Zwischenstopp gemacht.«

»Mir geht’s nicht gut heute, ich hab Bauchschmerzen«, sagte sie schwach und lehnte den Kopf zurück.

»Kommst du jetzt trotzdem mal an den Tisch, bitte.« Gregor stellte die dampfende Auflaufform vor mir ab. »Wir werden nicht essen, während du da wehleidig auf der Couch liegst.«

Ella, die in seinem Rücken stand, schüttelte den Kopf und machte, zu Jade hin, eine Grimasse. Sie streckte die Hand aus: »Na komm, du kannst auf meinem Schoß sitzen.«

Vor dem Haus wuchs eine Zeder. Vom Kinderzimmer aus, in dem ich die erste Nacht geschlafen hatte, konnte ich den Tau in ihren Zweigen hängen sehen und wie weit ihre Äste in die Luft griffen, mehr nicht. Die Gegend blieb verdeckt. Unter der Zeder stand der Citroën C15, mit dem Ella mich abgeholt hatte. Ein Modell, das nicht mehr hergestellt wurde, aber es hatte sich hier ein Schwarzmarkt um die letzten Exemplare gebildet. Anstatt es wieder in Produktion zu nehmen, Gregor hatte das mit einer abfälligen Handbewegung gesagt, Franzosen nachgeschoben.

Im Kinderzimmer konnte ich meinen Atem sehen, so kalt war es. Ich zog mich in verkrampfter Haltung an, mein Blick fiel auf den Spiegel. Es hatte etwas Komplizinnenhaftes, ich hätte meinem Gegenüber-Ich zuzwinkern können, aufmunternd, als wäre eine von uns Merle, die mir sagte, dass hier alles leichter und morgen schon besser sein würde.

Ich würde heute als Erstes mit Jade und Gregor die Schafe auf den Bergrücken bringen und dort ein paar Stunden hüten. Demnächst solltest du das dann allein machen, hatte Ella vor dem Schlafengehen gesagt.

Ich kam in die Wohnküche, niemand war dort, der Raum kahler als am Abend, es stach viel stärker ins Auge, dass die Wände nicht verputzt waren. Eine Almhütte mit karierter Tischdecke haben wir hier nicht, gell, ich hatte diesen Satz aus Ellas letzter Mail nicht deuten können, ob darin Witz lag oder Aggression.

Ich fand die kleinen Schüsseln, schnitt mir eine Banane in Haferflocken und goss Milch aus einer Plastikflasche vom Discounter dazu. Um sie dann nicht essen zu können, weil mein Magen ein Knoten blieb.

Ella würde erst mittags aus dem Gemeinschaftsladen nach Hause kommen, in dem Produkte der kleinen Höfe aus allen umliegenden Tälern verkauft wurden. Gregor und Ella boten dort Konserven an, vor allem aber Marmeladen, hin und wieder ein Chutney. Im Kühlschrank entdeckte ich angebrochene Gläser, ich würde sie aufschrauben und daran riechen, wenn die Übelkeit überwunden wäre.

Ich war zu früh aufgestanden. Eine Stunde lang hörte ich der Uhr zu, die man von der Wand nehmen und als Küchenwaage benutzen konnte, ich blätterte in Werbeprospekten, die sich auf dem Couchtisch stapelten, und begann, Messbecher und Schöpfkellen zu spülen. Ich wagte mich nicht aus dem Raum. Am Ende müssten sie mich suchen, und dann wäre ich schuld an einer Verspätung. Das Müsli wollte ich nicht wegwerfen und nicht stehen lassen. Ich stellte es schließlich hoch in die Kühlschrankkälte des...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Acker • Angst • Angstattacken • Atmosphäre • Atmosphärisch • Attentate • aussteigen • Aussteiger • Bella triste • Berge • Blüte • Blütezeit • bücher neuerscheinungen • Debüt • Debütroman • Deutschland • DIY • Dürre • Einfühlungsvermögen • Ella • Erderwärmung • Ernte • Erntehelfer • Europa • extremwetter • Feld • Feldarbeit • Fluss • Flut • Frankreich • Freiheit • freiwillig • Fremdsprache • Freundschaft • Fridays For Future • Garten • Gastfamilie • Gemüseanbau • Generation Greta • Generation Z • Geschenk • Geschenk Freundin • geschenk freundin geburtstag • Gregor • Großstadt • Hildesheim • Hirte • Hitze • Hochwasser • Hüten • innere Konflikte • Integration • Interkulturell • Jade • Kapitalismus • Klima • Klimakatastrophe • Klimakrise • Klimaschutz • Klimawandel • Kultureller Austausch • Land • Landleben • Landschaft • Markt • mentale Gesundheit • Mental Health • Nachhaltigkeit • Natur • Nature writing • neues Buch • Noa • Öko • Ökologisch • Panik • Panikattacken • Politik • Prosanova • Restauratorin • Romane Neuerscheinungen • Schafe • Schafsglocken • Schatten • Selbstbestimmt • Selbstversorger • sinnlich • Sonne • Süden • Tal • Täler • Terror • transhumance • Trocken • Trockenheit • Umwelt • Unabhängig • Urlaub • Wald • Weide • Wetterextreme • Widersprüche • Xenophobie • Young adults • Zusammenleben
ISBN-10 3-518-77242-2 / 3518772422
ISBN-13 978-3-518-77242-3 / 9783518772423
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