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Draußen feiern die Leute (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
339 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9495-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Draußen feiern die Leute -  Sven Pfizenmaier
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Ein ganz normales Dorf in Deutschland: in der Mitte ein Kreisel, daneben die Volksbank und im September das alljährliche Zwiebelfest. Aber nicht alle hier können sich dem Dorfgefüge anpassen - Timo, Valerie und Richard sind seit ihrer Geburt Außenseiter. Als allmählich immer mehr junge Leute im ganzen Land spurlos verschwinden und in den Familien große Lücken hinterlassen, machen sie sich auf die Suche nach den Vermissten. Das Leben der drei ist schon immer besonders gewesen, doch sie haben keine Vorstellung davon, was sie mit ihrer Suche lostreten. Ein überbordender, mutiger und schriller Roman über die deutsche Provinz und das Anderssein in einem Umfeld, in dem Anderssein nicht vorgesehen ist.

Sven Pfizenmaier, geboren 1991 in Celle, studierte Deutsche und Englische Philologie in Berlin. Er war Kandidat beim open mike 2018 und Stipendiat der Literaturwerkstatt Graz 2020. 'Draußen feiern die Leute' ist sein Debütroman. Er wohnt in Berlin.

Sven Pfizenmaier wurde 1991 geboren. Sein Roman »Draußen feiern die Leute« (2022) wurde mit dem aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres, dem Kranichsteiner Literaturförderpreis des Deutschen Literaturfonds und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover ausgezeichnet. 2024 erschien sein zweiter Roman »Schwätzer«. Sven Pfizenmaier lebt in Berlin.

ZWEI


IN DER NACHT, ALLEIN


 

Im stummen Einverständnis darüber, dass es heute keinen Platz für Zweisamkeit mehr geben darf, sind Richard und Jenny an der ersten Kreuzung getrennte Wege gegangen. Es ist zwar still auf den Straßen, doch die einst da gewesenen Menschenmassen des Zwiebelfests hallen in ihnen, tausend Augen nebeln in der Luft und überwachen alles Zärtliche, das sich in dieser Nacht noch aufzutauchen traut. Richards Haus liegt im Verborgenen. Eine lange, von Hecken gerahmte Auffahrt führt am Nachbarhaus vorbei aufs Grundstück, wo man zuallererst das schon im Dunkeln schimmernde Garagentor sieht und erst dann, auf der linken Seite, das Haus, das von grauem Kratzputz und einzelnen adrigen Efeuranken ummantelt die Geheimnisse einer unbezifferten Anzahl von Familien auszuhalten scheint. Es stand nicht einen Tag leer, bevor Richard und seine Mutter eingezogen sind. Aus ihm dringt kein Geräusch, nicht einmal ein Licht nach draußen.

Der Vorbesitzer hat den Garagenboden fliesen lassen, damit es sich dort besser arbeiten lasse. Das erzählte er – ein ziemlich klein gewachsener, dicker Mann mit Schnurrbart – Richard und seiner Mutter während der Hausbesichtigung damals, voller Stolz auf die Gestaltung der Garage. Er hatte den Rundgang dort begonnen und der Garage den größten Teil seiner Erläuterungen gewidmet: Fliesen seien praktisch, weil sich jeglicher Schmutz mühelos von ihnen entfernen lasse. Und bei der Arbeit in der Garage könne es, wie wir alle wüssten, richtig schmutzig werden, ob es nun Ölspuren vom Auto oder Remouladetropfen vom Mittagessen seien. Bei den Fliesen in dieser Garage handle es sich zudem um die wirklich allerbesten, allerrobustesten Fliesen, da könne auch mal ein Hammer drauffallen, ohne sichtbare Schäden zu hinterlassen. Dabei schaute er die meiste Zeit zu der umfänglich ausgestatteten Werkbank an der hinteren Wand und verlor sich in meterlangen Ausführungen zu den dort aufgereihten Kreis- und Stichsägen, den Hämmern und Schraubenziehern in allen Größenordnungen, dem Hobel, dem Meißel, dem Akkuschrauber, den diversen Bohr-, Polier- und Luftdruckreinigungsmaschinen, obwohl kein einziges dieser Werkzeuge nach seinem Auszug hierbleiben würde. Überhaupt war er der Meinung, dass sich jedes für unlösbar gehaltene Problem auf Unkenntnis des zwischenmenschlichen Werkzeugrepertoires zurückführen lasse. Zur Herstellung einer gewissen Lebensordnung zum Beispiel brauche es Werkzeuge wie Aktenschränke, Wecker, die Uhrzeit 20:15, Demokratie und monogame Beziehungen. Blumensträuße seien ein Werkzeug zur Gewinnung fremder Sympathien, ebenso wie Geldspenden, Grundkapital im Allgemeinen und ein Saisonkalender über dem Backofen. Zur Erschließung des Lebenssinns sei Mut ein geeignetes Werkzeug, also die Portion Mut, die es brauche, um ein Unternehmen zu gründen oder Urlaub in einem Entwicklungsland zu machen. Habe man für Letzteres nicht genug Eigenliebe zur Hand, könne man es mit dem Vortäuschen von Zuneigung zu nahestehenden Menschen versuchen, die durch den Empfang dieser Zuneigung, sofern sie sie nicht als Täuschung entlarven, allein aus Höflichkeit dazu gezwungen seien, zumindest in einem gewissen Maße Nettigkeiten zurückzugeben, die einem wiederum die wohltuende Illusion vermitteln könnten, auf dieser grausamen, kalten Welt gewollt zu sein. Allein gegen Einsamkeit habe er noch nicht das ideale Werkzeug gefunden, aber da sei er gerade am Rumexperimentieren. Aktuell probiere er es mit Umziehen. Aus diesem Grund müsse er das Dorf für immer verlassen und sich nie wieder danach umdrehen.

Richard hat die Werkbank schon vor Tagen leer geräumt und zweckentfremdet. Sie ist jetzt ein Sufftisch. Vier Flaschen Bacardi hat er gekauft und aufgereiht, eine Kiste Wodka, eine Kiste mit Waldmeister- und Kirschschnaps, halb-halb. Daneben hat er eine große Schüssel platziert, die nächstes Wochenende mit selbst gemachter Fruchtbowle gefüllt sein wird. Cola, Fanta, Sprite stehen kistenweise unter der Arbeitsplatte.

Wenn es wahr sein sollte, dass die meisten Probleme sich dadurch beheben lassen, kleine Veränderungen an der eigenen Einstellung vorzunehmen, dann muss es ja möglich sein, sich eine komplett neue Einstellung zuzuführen. Zu diesem Zweck hat Richard auf seine Körperöffnungen zurückgegriffen, Alkohol, Sex, Amphetamine, aufbauende Musik. Weil das nicht half, überlegte er, ob das Problem nicht bei den anderen liegen könnte. Und wenn ja, wie könnte man an ihrer Einstellung etwas ändern? Dafür wird er in dieser Garage die Party veranstalten, ein Event zur Verschiebung der Gewohnheiten. Trägheit muss man aufbrechen.

Seine Mutter hat sich, so sagte es der gelbe Notizzettel auf dem Küchentisch, für die gesamte nächste Woche an die Nordsee verabschiedet. Sie wolle sich mal das Meer und die Seehundstation in Norddeich anschauen. Unter dem Zettel lag ein Fünfzig-Euro-Schein, den Richard nicht für das ausgegeben hat, wozu seine Mutter ihn dort hingelegt hatte. Früher hat er ihr noch von seinem Liebeskummer erzählt, hat sogar versucht, zu beschreiben, wie sich das für ihn anfühlt, Gefühle zu liefern und Langeweile erwidert zu bekommen. Er verglich es mit Paketen, die man immer und immer wieder aussendet und die allesamt retour kommen, bis sie sich bis unter die Decke stapeln und man sich zwischen ihnen nicht mehr bewegen kann. Er sagte, dass die meisten Menschen wohl davon ausgingen, dass nicht angenommene Gefühle ins All oder so geschossen würden, aber das stimme nicht, sie kämen zurück zu demjenigen, der sie ausgesendet habe. Richard erzählte das in einem gewissen Überschwang, und dann sah er rauf zu seiner Mutter, die sich zusammenreißen musste, nicht ganz woanders hinzugucken, und nur Mhm machte. Erst dann, in diesem Moment, nach fünfzehn Jahren, wurde Richard schlagartig klar, dass seine Mutter eben nicht nur Mutter, sondern auch Mensch ist. Bis dahin hatte es immer eine naive Gewissheit gegeben, dass seine Mutter allein dadurch, dass sie eben seine Mutter war, anders auf ihn reagieren würde, aber warum sollte das stimmen. Sie langweilte sich zu Tode wie alle anderen auch. Wäre an ihrem Verhältnis an jenem Tag nicht etwas kaputtgegangen, hätte Richard ihr vergangenes Wochenende in der Küche vielleicht davon erzählt, wie glücklich er einerseits darüber ist, jemanden wie Jenny gefunden zu haben, die eine gewisse Immunität, sogar Gefallen an der induzierten Langeweile gefunden hat. Wie viel Glück man dafür haben muss. Er würde ihr vielleicht auch erzählen, wie erschütternd andererseits die Widerlegung seiner Annahme ist, dass die Liebe einer Person die Dinge besser machen könnte.

»Wie oft soll ich dir das noch sagen. Ein Mann darf in diesem Haus niemals eine Mahlzeit zu sich nehmen, ohne dass jemand anderes mit ihm isst. Das frisst seine Seele von innen auf. Vielleicht nicht beim ersten Mal, vielleicht auch nicht beim zweiten. Aber mach das ein paar Monate, und du wirst verrotten. Und mit Mahlzeit meine ich nicht nur Mahlzeit, sondern alles, was sich kauen lässt. Die Paprikachips da vor dem Fernseher: Vergiss es. Ein Apfel auf dem Schulweg, eine Banane auf dem Nachhauseweg, ein schnelles Butterbrot am Morgen, obwohl die Eltern schon auf dem Weg zur Arbeit sind? Und jetzt stehst du hier schon wieder, mitten in der Nacht, besoffen wie ein Schwein. Denkst wirklich, dass ich den Scheiblettenkäse nicht rieche, wenn er im Sandwichtoaster zerläuft, du gierige Drecksau.«

»Ich bin siebzehn. Ich bin kein Mann.«

»Du fängst dir gleich eine.«

»Was ist mit Frauen? Dürfen die alleine essen?«

»Letzte Warnung.«

»Warum dürfen Frauen alleine essen?«

Else langt zu. Ein flinker Hieb, es knallt kurz, und dann ist es still. Ein Schlag ganz ohne Schall. Er klingt fast unnatürlich, als wäre der Ton im Ausklingen stumm geschaltet worden. Timo reibt sich die Wange und sieht zu Boden. Dann verlässt Else den Raum, geht in den Keller. Die fertig gebackenen Sandwiches lässt sie auf dem Küchentisch stehen. Sie weiß, dass Timo sie nicht anrühren wird.

Isabel wartet zuerst den Knall ab, dann das Schließen von Elses Schlafzimmertür. Als sie schließlich in die Küche kommt, steht Timo immer noch da. Früher war er nach solchen Maßregelungen von Else eingeschüchtert. Mittlerweile ist er nur noch wütend. Die Hände in die Hüften abgestützt liegt der Kopf im Nacken. Schnaufen. Als er Isabel bemerkt, fährt er sich mit der Hand über seine Stirn. Feine Härchen fallen ihm vom Kopf wie vertrocknete Tannennadeln.

Von ihrem ersten Auszubildendengehalt hat Isabel ein Mountainbike für Timo gekauft, weil ihre Eltern kein Geld übrig hatten. Von ihrem ersten Freund hat sie sich getrennt, weil er sich über Timos Körper lustig gemacht hat. So hat es Isabel zumindest interpretiert, wirklich etwas gesagt hat der Freund nicht. Sie ahnte den Spott in seinem Grinsen. Es passte zu ihm, fand sie. Jemand, der dermaßen stolz darauf ist, bei Gran Turismo 4 manuell zu schalten, der macht sich auch über Jungs lustig, die wie Pflanzen aussehen.

»Komm, ich ess ein Stück mit dir«, sagt Isabel. Die Schublade rechts neben dem Ofen, aus der sie soeben ein Messer gekramt hat, würde normalerweise knallen, wenn man sie, so wie Isabel gerade, im Weggehen zustößt, doch neuerdings sind in allen Schubladen der Küche Dämpfungsmechanismen verbaut, die das verhindern. Isabel setzt sich an den Tisch, viertelt die Sandwiches, schneidet von einem Stück die Kruste ab und knabbert daran herum. Timo hat wieder die Hände in den Hüften und sieht zu seiner großen Schwester hinab, als wäre er schwer von Begriff. Isabel erwidert den Blick, hebt aber nur die Brauen und streckt den Hals in Richtung Sandwich. Eine...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurdität • Debüt • Debütpreis • Deutschland • Dorf • Drogen • Eltern-Kind-Beziehung • Erwachsenwerden • Gesellschaftskomödie • Gewinner ZDF aspekte Literaturpreis • Humor • Literatur • Literaturpreis Hannover • Literaturpreis Hannover 2023 • Provinz • Roman • Sehnsucht • ZDF aspekte Literaturpreisträger
ISBN-10 3-0369-9495-5 / 3036994955
ISBN-13 978-3-0369-9495-6 / 9783036994956
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