Dostojewskij und die Frauen (eBook)
317 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76875-3 (ISBN)
Als junger Mann schüchtern und gehemmt, lernte Dostojewskij erst mit über dreißig Jahren seine erste Ehefrau kennen: Maria Issajewa. »Ungeachtet dessen, dass wir miteinander recht unglücklich waren«, erinnerte sich der Schriftsteller nach ihrem Tod, »konnten wir doch nicht aufhören, einander zu lieben.« Noch zu ihren Lebzeiten begann er eine leidenschaftliche Affäre mit Apollinaria Suslowa, die zum Vorbild seiner »infernalischen« Frauenfiguren wurde. Doch die wohl wichtigste Frau in Dostojewskijs Leben war seine zweite Ehefrau Anna, die als junge Stenographin die Bekanntschaft des damals bereits berühmten Schriftstellers machte und bald zu einer unersetzlichen Mitarbeiterin, seiner Verlegerin und später Biografin wurde.
Zu anderen außergewöhnlichen und starken Frauen hatte Dostojewskij enge freundschaftliche Beziehungen, u.a. mit der Frauenrechtlerin Anna Filossofowa und mit Sofja Andrejewna Tolstaja, der Hausherrin eines der führenden Salons in Sankt Petersburg.
Auf der Grundlage von Erinnerungen, Briefen, Tagebüchern und neuen biographischen Forschungen beleuchtet diese Biografie erstmals, wie die Frauen Dostojewskijs Leben, seine Ansichten über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und die Frauengestalten in seinen Werken beeinflusst haben.
<p>Ursula Keller hat Slavistik und Germanistik studiert; zahlreiche Forschungsaufenthalte in Rußland. Sie lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin.</p>
1
Späte erste Liebe
»Ich entstamme einer russischen und frommen Familie.«
Michail Andrejewitsch Dostojewskij, der Vater des Schriftstellers, entstammt einem alten verarmten Adelsgeschlecht aus dem Großfürstentum Litauen. Der Name der Vorfahren geht zurück auf das nahe der Stadt Brest gelegene Dorf Dostojewo und findet sich in den Gerichtsbüchern jener Zeit. Ende des 16. Jahrhunderts stand etwa eine gewisse Maria Stefanowna Dostojewskaja vor Gericht, da sie mit Hilfe des gedungenen Mörders ihren Ehemann Stanislaw Karlowitsch ermordet, ihren Stiefsohn Kristof Karlowitsch zu ermorden versucht und ein Testament gefälscht haben soll, um deren Besitz an sich zu bringen. Zugleich sind in der Chronik des Geschlechts auch berühmte historische Persönlichkeiten genannt: Beispielsweise stand ein Fjodor Dostojewskij als juristischer Berater Fürst Andrej Kurbskij zur Seite, dem einstigen Vertrauten und späteren Gegner Zar Iwan IV., des »Schrecklichen«. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siedelte die Familie in die damals zur königlichen Republik Polen gehörende Ukraine über.
Michail Dostojewskij wird 1789 als ältester Sohn des Priesters Andrej Grigorjewitsch Dostojewskij geboren, der seit 1782 Dorfpope in Wojtowzy im Gouvernement Podolsk ist. Er soll ebenfalls Geistlicher werden und studiert am Priesterseminar in Schargorod. Nach einem Ukas Zar Alexanders I., der anordnete, dass 120 Priesterseminarstudenten zu Ärzten ausgebildet werden sollten, besteht der »zu den Wissenschaften geneigte« Seminarist die Aufnahmeexamina und beginnt 1809 als auf Staatskosten alimentierter Student das Studium an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie in Moskau. Im Krieg gegen die Grande Armée Napoleons wird er 1812 mit anderen Studenten zur Arbeit in den Feldlazaretten beordert. Nach Abschluss seines Studiums wird er Regimentsarzt, später Stabsarzt in Moskau.
Anfang 1820 heiratet Michail Dostojewskij die um zehn Jahre jüngere Maria Fjodorowna Netschajewa. Im selben Jahr quittiert der lebenserfahrene und mit Orden ausgezeichnete Militärarzt den Dienst und tritt mit 31 Jahren im März 1821 eine neue Stellung als Oberarzt zweiter Klasse im Marienhospital an. Mit dem im Oktober 1820 erstgeborenen und nach dem Vater benannten Sohn Michail bezieht das Ehepaar dort eine Dienstwohnung, in der am 30. Oktober 1821 der zweite Sohn geboren und auf den Namen Fjodor getauft wird.
Das Marienhospital ist ein Krankenhaus für Arme und liegt am damaligen Stadtrand von Moskau. Diese Gegend wird »Armes Haus« genannt. Ganz in der Nähe befinden sich ein Heim für Findelkinder und ein Irrenhaus. Das von Maria Fjodorowna, der Zarenmutter Alexanders I., Anfang des 19. Jahrhunderts gegründete Armenkrankenhaus ist in einem Monumentalbau im Empirestil untergebracht, dessen hochherrschaftliche Architektur im scharfen Gegensatz zu seinen Patienten steht, vom Leben gebeutelte Randexistenzen der Gesellschaft, die in ihren hellbraunen Krankenhauskitteln gespenstergleich durch den Park spazieren. Den Kindern des Armenarztes ist es verboten, sich den Kranken zu nähern. Aber Fjodor übertritt dieses Verbot immer wieder und unterhält sich, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, heimlich mit den erniedrigten und beleidigten Patienten – besonders gern, wenn dies Knaben in seinem Alter sind.
»Ich entstamme einer russischen und frommen Familie«, schreibt Fjodor Dostojewskij später in seinem Tagebuch eines Schriftstellers, »und meine erste Erinnerung ist die Liebe meiner Eltern zu mir.« Die Dienstwohnung ist beengt und je größer die Familie wird – im Laufe der Jahre folgen den beiden Brüdern fünf Geschwister: 1822 wird die Schwester Warwara geboren, 1825 Andrej, 1829 Vera, 1831 Nikolaj und 1835 Alexandra –, desto weniger Platz gibt es für alle. Andrejs Erinnerungen zufolge, die die wichtigste Quelle zur Kindheit des Schriftstellers sind, besteht sie lediglich aus zwei Zimmern, einem recht großen Raum, der Saal genannt wird, und einem Wohnzimmer, in dem das durch eine Bretterwand abgetrennte elterliche Schlafzimmer untergebracht ist, sowie einem geräumigen Vorraum und der Küche. Das Kinderzimmer, das Michail und Fjodor sich teilen, ist eine fensterlose, im Vorraum ebenfalls durch eine Bretterwand abgeteilte Kammer. »Meine Eltern waren keine wohlhabenden, aber fleißige Menschen«, entsinnt sich der Schriftsteller. Obgleich die Familie ein bescheidenes Leben ohne Luxus führt, leben sieben Bedienstete im Haushalt, und man besitzt eine eigene Equipage, mit der der Hausherr zu seinen zahlreichen Patientenvisiten fährt, die ihm neben seinem Salär als angestellter Arzt einen auskömmlichen Verdienst sichern.
Im Alltag der Familie wird streng auf die Befolgung der Anstandsregeln und der patriarchalen Ordnung geachtet. Das Familienoberhaupt fordert, dass die von ihm festgelegten Grundsätze in seinem Hause eingehalten werden. Michail Dostojewskij ist ein unabhängiger Geist, gebildet und ein fürsorglicher Ehemann und Vater, zugleich aber ist er leicht reizbar, jähzornig und misstrauisch. Ein Tyrann, wie es in zahlreichen Biographien über den Schriftsteller heißt, ist er jedoch nicht. Alles, was er im Leben erreicht hat, erreichte er aus eigener Kraft. Er ist streng und fordernd gegen sich selbst und seine Kinder. »Vater hielt nicht gern Moralpredigten und wies nicht gern zurecht«, berichtet Andrej Dostojewskij, »aber er sagte immer wieder, dass er ein armer Mann sei und dass seine Kinder, insbesondere die Knaben, darauf vorbereitet sein sollten, für sich selbst im Leben Verantwortung zu übernehmen, da sie nach seinem Tode arm seien.« Um sie vor diesem Schicksal zu bewahren, sollen seine Söhne eine solide Ausbildung erhalten, um dann in Beruf und Gesellschaft ihren Weg zu gehen. Die gesamte von Disziplin geprägte Erziehung unterliegt dieser Prämisse.
Von früher Kindheit an werden die Geschwister zu Hause unterrichtet. Bereits im Alter von vier Jahren sitzen Michail, genannt Mischa, und Fjodor, genannt Fedja, über den Büchern: »›Lerne!‹, hielt Vater uns an«, erinnert sich der Schriftsteller. »Und dabei war es draußen so schön, so warm.« Als die Söhne älter sind, werden Privatlehrer engagiert. Russisch, Arithmetik und Religion unterrichtete der Diakon Chinkowskij, Französisch ein ehemaliger Kriegsgefangener der Grande Armée, der seinen Familiennamen von Suchard in einem Anagramm zu Draschussow russifiziert hatte. Der Vater übernimmt den Lateinunterricht, der jeden Abend zur schweren Bewährungsprobe für die Brüder wird. Es ist ihnen während des Unterrichts, der eine Stunde oder länger dauert, nicht nur untersagt, sich zu setzen, sondern sogar auch, sich nur an den Tisch zu lehnen. Mischa und Fedja fürchten diese Stunden sehr, denn der Vater ist »überaus anspruchsvoll und ungeduldig« und gerät beim kleinsten Fehler seiner Söhne in Wut, nennt sie faul und dumm und bricht den Unterricht bisweilen sogar ab, ohne die Lektion zu Ende gebracht zu haben. Bei aller Strenge jedoch werden die Kinder ohne übermäßige Härte erzogen: »Wir wurden nicht körperlich gezüchtigt«, hält Andrej Dostojewskij fest, »und mussten auch nicht in der Ecke stehen oder knien. Das Schlimmste war für uns, wenn Vater aufbrauste.« In jenen Jahren ist die körperliche Züchtigung von Kindern an der Tagesordnung. Dostojewskij ist einer der wenigen russischen Klassiker, der in Kindheit und Jugend keine Bekanntschaft mit der Knute gemacht hat.
Der Herr Papa achtet streng auf die Einhaltung der Regeln von »Anstand« und »Moral«. »Laute« und »anstößige« Spiele wie das russische Schlagballspiel Lapta sind den Söhnen untersagt. Auch ist es den Knaben verboten, allein auszugehen, denn dies hält der Vater ebenfalls für anstößig. »Ich erinnere mich nicht, dass meine Brüder auch nur ein einziges Mal ohne Begleitung spazieren gingen, … und dies, obgleich sie bis zum Alter von siebzehn bzw. sechzehn im Elternhaus lebten«, berichtet...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Biografie • Biographie • Dostojewski • Ehe • Ehefrau • Feminismus • Frauen • Frauenrechte • Frauenrechtlerin • Frauen und Literatur • für Frauen • Künstlerehe • Leidenschaft • Liebe • Literatur • Literaturgeschichte • neues Buch • Russland • Sankt Petersburg |
ISBN-10 | 3-458-76875-0 / 3458768750 |
ISBN-13 | 978-3-458-76875-3 / 9783458768753 |
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