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Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah (eBook)

Eine Erzählung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1., Originalausgabe
220 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77249-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah - Michael Krüger
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Alle scheinen ihn zu kennen, aber keiner weiß seinen Namen. Und wer ihn noch nicht kennt, will unbedingt seine Bekanntschaft machen. Nur der Erzähler, dem sich der Herr mit den schlechten Manieren angeschlossen hat, will ihn loswerden. Im Flughafen von Paris hat er sich ihm aufgedrängt, in München logiert er bereits in seiner Wohnung, in der Künstleragentur, die der Erzähler betreibt, sitzt er an seinem Schreibtisch und bereitet einen Film vor. Wer ist dieser fremde Gast, der plötzlich wie in einer Erzählung von Gogol im Zimmer steht und durch seine bloße Präsenz alles durcheinanderbringt? Am Ende, als man gerade dabei ist, ihm auf die Schliche zu kommen, hat Jona sich für immer aus dem Staub gemacht.

Könnte es sein, dass insgeheim so manche warten auf die Ankunft einer Figur, die sie aus dem Tritt bringt? Michael Krügers abenteuerliche Chronik der laufenden Ereignisse zeigt, dass die Sicherheit, mit der wir unser durchrationalisiertes Leben führen, eine Fiktion ist.



<p>Michael Krüger wurde am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf/Kreis Zeitz geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium absolvierte er eine Verlagsbuchhändler- und Buchdruckerlehre. Daneben besuchte er Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät als Gasthörer an der Freien Universität Berlin. In den Jahren von 1962-1965 lebte Michael Krüger als Buchhändler in London. 1966 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker. Zwei Jahre später, 1968, übernahm er die Aufgabe des Verlagslektors im Carl Hanser Verlag, dessen Leitung er im Jahre 1986 übernommen hat. Seit 1981 war er Herausgeber der Literaturzeitschrift <em>Akzente</em>.<br /> Im Jahr 1972 veröffentlichte Michael Krüger erstmals seine Gedichte, und 1984 debütierte er als Erzähler mit dem Band <i>Was tun?</i> <i>Eine altmodische Geschichte.</i> Es folgten weitere zahlreiche Erzählbände, Romane, Editionen und Übersetzungen. <i>Die Cellospielerin</i> ist sein erster Roman im Suhrkamp Verlag.<br /> Michael Krüger lebt in München.</p>

1


Der Abflug verzögerte sich wie üblich. Wer dumm genug oder auch nur so ungeschickt war, an einem Freitagabend im Mai von Paris nach München fliegen zu wollen, der musste bereit sein, kostbare Lebenszeit zu vergeuden. Warum eigentlich kostbar? Was machten zwei Stunden in der Endabrechnung aus? Ich überschlug, während ich auf dem wippenden, nachgebenden Laufband stand und mich in die Abflughalle transportieren ließ, die Zeit, die ich in meinem Leben auf Flughäfen wartend verbracht habe, und kam auf rund vier Monate. Vier Monate an einem Nicht-Ort, den man normalerweise betritt, um schnell wegzufliegen oder halbwegs gesund anzukommen, das fand ich für mehr als fünfzig Jahre Fliegerei akzeptabel.

Jetzt noch der lange Weg auf dem Laufband durch die fensterlose Vorhölle, dann konnte ich mich von der Anfahrt ausruhen. Da ich zu denen gehöre, die lieber beobachten als reden, fahre und fliege ich am liebsten allein, um andere beim Reden zu beobachten. Und besonders die Freitagabende waren für diese Art der Menschenbeobachtung ideal.

Der Sekretär meiner Cousine hatte mich zum Flughafen gefahren, nachdem er schon die Tage zuvor kaum von meiner Seite gewichen war. Er hieß Raul und war Kubaner, hatte aber nichts mit dem Bruder von Fidel zu tun, wie meine Cousine sich ausgedrückt hatte. Er hatte eine Doktorarbeit über Amédée Ozenfant und den Aufbau eines neuen Geistes geschrieben und saß nun angeblich an einer großen Monographie über den kubanisch-chinesischen Maler Wifredo Lam, der ersten überhaupt, behauptete meine Cousine, die Raul einige Zeichnungen von Lam abgekauft hatte, die dieser angeblich als Geschenk von einem Onkel erhalten hatte, dem sie wiederum in den siebziger Jahren von dem Kulturattaché der kubanischen Botschaft in Paris, dem Schriftsteller Alejo Carpentier, übergeben worden waren. Übergeben? Ja, übergeben. Ich mochte Raul nicht. Er redete wie ein großer Kenner der gesamten Kunstgeschichte, kannte alles und jeden, vergab Noten, die selbst ich als Laie mir nicht zugetraut hätte, und wurde, was mich am meisten aufbrachte, von jedermann geliebt wie ein schwarzes Schoßhündchen. Er redete zu viel. Ich behielt meine Ansichten über den brillanten jungen Mann aber für mich, weil jeder Hauch eines Verdachts, und war er noch so berechtigt, von meiner Cousine als mehr oder weniger offener Rassismus erklärt wurde. Als ich einmal zu fragen wagte, ob die Zeichnungen von Lam, die an ihren und an den Wänden vieler Diplomatenresidenzen in Paris hingen, auch wirklich von Lam waren, wurde ich mit so heftiger Verachtung des Banausentums bezichtigt, dass ich fortan stumm die Beweihräucherung von Lams Biographen verfolgte, selbst dann, als immer mehr Zeichnungen auftauchten und mit ihnen die Gewissheit, dass in irgendeinem Hinterzimmer ein einsamer Kopist saß, der die Zeichnungen je nach Bedarf auf altem Papier anfertigte. Man sieht doch im Dunkeln, dass das echte Lams sind!, hieß es immer. Aber wie sieht ein echter Lam aus? Der Mann war ein halber Chinese und ein halber Kongolese, der an Orishas glaubte, aber auch ein guter Katholik sein wollte. Und seine Zeichnungen sahen aus, als seien sie im katholischen Glauben begonnen und im Synkretismus beendet worden. Wie nicht Fisch und nicht Fleisch. Als ich Raul einmal bat, seine Doktorarbeit über Ozenfant lesen zu dürfen, wurde dies abschlägig beschieden, weil er sie noch nicht »verteidigt« hatte, was immer das heißen mochte. Also las ich, mit Groll, Ozenfant selber, seine ein bisschen verrückte, voller Behauptungen steckende Bilanz des 20. Jahrhunderts, ein seltsames Sammelsurium von schrägen Einfällen, in das immer wieder ohne jeden Kommentar Bilder nackter Eingeborener eingestreut sind, als würde das etwas beweisen. Aber was? Als ich Raul danach fragte, verwies er mich auf die letzte Abbildung in Ozenfants »Leben und Gestaltung«, die eine Zigarrenverkäuferin auf Kuba zeigte, angeblich eine Großtante von Raul. Voilà, sagte er, als sei mit diesem Wort alles gesagt.

Noch im Auto zum Flughafen hatte er wieder von Wifredo Lam geschwärmt, von dessen Ateliers in Havanna, Paris, Mailand, New York und auf Martinique, die er alle aufgesucht und »rekonstruiert« hatte, was immer das heißen mochte, von seinen außerordentlichen Funden bei Freunden und Verwandten von Lam, und da ich Deutscher war, sollte ich in einer Galerie in Hannover nachfragen, ob noch ein Briefwechsel mit Lam anlässlich von dessen Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft existiere, die ich doch sicher gesehen hätte. Offen gesagt, war mir der Name Wifredo Lam vor der Begegnung mit Raul vollkommen unbekannt gewesen, und meine Abneigung gegen Raul ging inzwischen so weit, dass ich innerlich beschlossen hatte, alle Maler, alle Künstler, auf die sein Auge gefallen war, nicht zu mögen, auch wenn ich dadurch in den Augen meiner Cousine immer tiefer sank. Ozenfant schreibt irgendwo, allein in Paris gebe es dreißigtausend Maler, das sei wirklich etwas zu viel, denn wenn man tausend auf ein Genie rechne, so mache das dreißig, und das sei doch mehr als ausreichend, um einer ganzen Epoche ein Gesicht zu geben. Es gibt kein Bild, das einer Epoche ein Gesicht geben könnte. Oder vielleicht eine Kinderzeichnung. Aber ich hielt den Mund. Wifredo soll mir den Buckel runterrutschen, dachte ich und musste laut lachen bei diesem Bild.

Wer es sich leisten kann, am Wochenende nach München zu fliegen, gehört in der Regel nicht zu denen, die nur Brot und Wasser zu sich nehmen, es sei denn aus Diätgründen. Tatsächlich hatten viele der Menschen, die am Fuße des Terminals aus den Taxen gestiegen waren, so ausgesehen, als hätten sie tagelang auf große Menüs verzichten müssen, auf Crème fraîche zur Apfeltarte und auf Zucker im Kaffee; hohläugig und mit eingefallenen Gesichtern zogen sie ihre Koffer mit den aufgesetzten Handtaschen und Kleiderbeuteln hinter sich her wie ein Schicksal, das eine fremde Macht ihnen aufgebürdet hatte. Bedauernswerte, freudlose Geschöpfe, und ich konnte mir mit einigem Genuss ausmalen, welche bedauernswerten, freudlosen Abholer in Mailand, Kopenhagen oder München hinter der Sperre darauf warteten, diese Wohlstandswracks in die Arme zu schließen. Wie Sklaven sahen sie aus, Sklaven in Ketten, denen man für diesen Abend erlaubt hatte, an den glitzernden Ständen vorbeizutrotten, in denen alles ausgestellt war, wonach ihr Herz sich sehnte: Schuhe, Anzüge, Pralinen, Parfums und vor allen Dingen Uhren, deren neuerdings sichtbar gemachtes Inneres unerbittlich anzeigte, wie die Zeit verging und was sie geschlagen hatte. Aber sie durften nichts kaufen. Manche dieser bedauernswerten Geschöpfe gingen so weit, sich einen der unter Verschluss liegenden Chronometer zeigen und anlegen zu lassen, um sie nach langen Überlegungen mit einem bitteren Lächeln wieder zurückzugeben. Andere machten an einem der Parfumstände halt und ließen sich von oben bis unten kostenlos mit einer neuen Kreation besprühen, die für Jugend und Kreativität stand, um schließlich, grau und uninspiriert, aber in eine Duftwolke gehüllt, ihren Weg zum Pullover-Paradies fortzusetzen. Elend sahen sie aus, als hätten sie einen langen, entbehrungsreichen Weg hinter sich, eine Wüstendurchquerung, die in einer von Feinden zerstörten Stadt enden würde.

Und vermutlich dachten sie ganz ähnlich über mich: Auch so ein bedauernswerter Tropf mit leerem Gesicht, der nichts mehr will von der Zukunft, der keine Worte mehr hat, den Stumpfsinn auf Distanz zu halten. Der aber trotzdem weiter schuftet, um ein paar Goldstücke mehr für den Nachlass einzusammeln. Der in seinem Unglück ausharrt.

Schon nach fünf Minuten hatte ich vergessen, wie glückliche Menschen aussehen.

Ich konnte froh sein, die schwankende Fahrt auf den Förderbändern heil überlebt zu haben, weil ich in eine Gruppe von Afrikanern geraten war, die in ihren weißen Gewändern, die aussahen, als wären sie gerade von der Wäscheleine gezogen worden, vor und hinter mir standen und in ihrer Landessprache mit großen Gesten ein Problem so laut besprachen, dass ich annehmen musste, der Diskussion der Vor- und Nachteile eines Staatsstreichs beizuwohnen. Sie konnten sicher sein, dass sie keiner verstand. Der hinter mir stehende Mann schlug mir beim...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Begegnung • Eichendorff-Literaturpreis 2017 • Erzählung • Fiktion • Joseph-Breitbach-Preis 2010 • neues Buch • Paris • Poeta Laureatus des Literaricum Lech 2023 • ST 5230 • ST5230 • suhrkamp taschenbuch 5230
ISBN-10 3-518-77249-X / 351877249X
ISBN-13 978-3-518-77249-2 / 9783518772492
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