Fast nackt (eBook)
256 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-148-5 (ISBN)
HANS NEUENFELS war einer der erfolgreichsten und umstrittensten Theater- und Opernregisseure Deutschlands. Geboren 1941 in Krefeld, studierte Neuenfels zunächst Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Ein Jahr lang war er Assistent des Malers Max Ernst, mit dem er in Paris lebte, bevor seine Karriere als Regisseur am Theater am Naschmarkt in Wien begann. 1965 wurde er dort Chefdramaturg, in den 1970ern erzeugte er mit seiner Inszenierung von Verdis Aida ein Publikumsecho, das weit über die Theaterwelt hinaus nachhallte. Neuenfels' Inszenierungen waren stets getrieben von dem Anspruch, sich auf der Bühne mit Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen - ein Umstand, der oft für Furore sorgte. Hans Neuenfels galt als künstlerischer Grenzgänger, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur auch schriftstellerisch tätig war. Seine Texte erschienen in Die Zeit und Theater heute, 1991 veröffentlichte er seinen ersten Roman Isaakaros, 2011 das autobiografische Werk Das Bastardbuch. Hans Neuenfels war mit der österreichischen Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn Benedict Neuenfels ist international als Director of Photography tätig. Das Paar lebte zuletzt gemeinsam in Berlin.
HANS NEUENFELS war einer der erfolgreichsten und umstrittensten Theater- und Opernregisseure Deutschlands. Geboren 1941 in Krefeld, studierte Neuenfels zunächst Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Ein Jahr lang war er Assistent des Malers Max Ernst, mit dem er in Paris lebte, bevor seine Karriere als Regisseur am Theater am Naschmarkt in Wien begann. 1965 wurde er dort Chefdramaturg, in den 1970ern erzeugte er mit seiner Inszenierung von Verdis Aida ein Publikumsecho, das weit über die Theaterwelt hinaus nachhallte. Neuenfels' Inszenierungen waren stets getrieben von dem Anspruch, sich auf der Bühne mit Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen – ein Umstand, der oft für Furore sorgte. Hans Neuenfels galt als künstlerischer Grenzgänger, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur auch schriftstellerisch tätig war. Seine Texte erschienen in Die Zeit und Theater heute, 1991 veröffentlichte er seinen ersten Roman Isaakaros, 2001 das autobiografische Werk Das Bastardbuch. Hans Neuenfels war mit der österreichischen Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn Benedict Neuenfels ist international als Director of Photography tätig. Das Paar lebte zuletzt gemeinsam in Berlin.
DUISBURG
IN NEW YORK
Eine sofortige Klarstellung: Ich bin nicht aus New York. Aber wer in Berlin ist schon Berliner?! Alle eingewandert, zugewandert, ausgewandert von … zum Beispiel von Duisburg, wie ich. Wenn man Duisburg nicht wie Du-isburg ausspricht, kann man an abdüsen denken, aber was denkt man bei Darmstadt? An eine Anhäufung von Fäkalien? Übrigens habe ich Tübingen immer mit Göttingen verwechselt, keine Ahnung warum. Das Erste ist die volle Kanne Schrecklichkeit, das Zweite eine trübe Tasse von ihr.
Ich bin auch kein Amerikaner, und ich möchte es nie werden. Die besseren Amerikaner sind ohnehin Juden, was zu werden ich mir schon eher vorstellen kann, aber es drängt nicht. In Duisburg besteht kein Zweifel darüber, dass die Welt nicht auszuhalten ist. Nichts kann einem da irgendetwas vormachen. Duisburg ist die Wahrheit über die Welt. Ein Kleinod an Reinheit über diese unwiderlegbare Tatsache, ein Diamant, ein Edelstein der Erkenntnis, ein Augapfel an Aufrichtigkeit, ein Ausnahmefall in der allgemeinen Verblendung.
Als wir noch unter die Erde gegangen, in die Gruben gefahren sind, wollte ich sagen, schien es oben gerade noch aushaltbar, weil es unten unübertrefflich furchtbar war, doch dann blieb nur noch eine durchgehende Ebenerdigkeit für uns übrig, und wir mussten begreifen lernen, wo und woran wir sind. Ich habe das schon früh verstanden. Wir spielten auf einer Kohlenhalde. Plötzlich war der Junge, Karl-Heinz hieß er, weg. Spurlos. Sie suchten ihn und fanden ihn nie. Also, in Duisburg kann man verschwinden wie nichts. Da sind die Dritte Welt, Istanbul, Kairo, die Sibirische Steppe, Tanger gar nicht mehr nötig. Und da dachte ich mir, ehe ich fort bin wie nichts, gehe ich lieber selbst und habe mich noch ein Weilchen. Denn wie jede Wahrheit ist Duisburg ein Saugnapf und lässt einen nicht los, ein Polyp mit unzähligen Armen und Beinen, ein Meister des Umkrallens und unschlagbar im Einholen.
Ich will damit sagen, man braucht eine gehörige Portion List und Zähigkeit, um die grauen Gardinen, die verkrüppelten Platanen, die Baggergruben mit den plötzlichen Untiefen – auch Kurt-Wilhelm verschwand spurlos in einer von ihnen – und später die Eckkneipen mit den Altmännergeschichten und die am Freitagabend frisch frisierten Mädchen zu verlassen, besonders, wenn sie die Lockenwickler herausgezogen und sich ausgekämmt haben. Es kann sein, dass man aus Geldern, Füssen, Mannheim, Braunschweig, Nürtingen, Kaldenkirchen auch schwer fortkommt, aber aus Duisburg eigentlich nie. Ich habe in New York nie einen Duisburger getroffen. Aus Kaiserslautern, Pforzheim, Krefeld, Ingolstadt, Süchteln, Graz, sogar aus Biel-Solothurn hin und wieder jemanden, aus Duisburg nie. Ich glaube nicht, dass es die Scham ist, die die Duisburger daran hindert, sich zu ihrer Stadt zu bekennen, nein, ich bin fest davon überzeugt, dass sie an der Wahrheit kleben bleiben wie die Fliegen am Leim, der nicht oft genug zu wiederholenden Wahrheit, dass es unaushaltbar ist auf der Welt, und dass man nur und ausschließlich die ganze Fülle und Auswirkung davon in Duisburg erleben kann – immerhin das.
Mit Stolz und Selbstbewusstsein tragen die Duisburger ihr Kainszeichen, das als tiefes Schwarz auf ihre Stirn, um ihren Mund, unter die Augen in das Grau ihrer Gesichter eingekerbt ist – das Erbe ihrer Tage unter der Erde, die sie mit lebensgefährdender Leidenschaft erforschten.
Damals, als Zwölfjähriger, sah ich das ganz anders. Ich wollte nur fort. Vielleicht, weil ich die Wahrheit nicht aushielt, dachte ich später. Zumindest wollte ich sie fliehen, ihr so nicht begegnen. In New York brauchst du die Wahrheit nicht. Ich weiß, es scheint unsinnig, Duisburg mit New York zu vergleichen, aber ich kenne nur diese zwei Städte, und durch den Vergleich entdecke ich Neues an ihnen und mir. Ich stelle mir vor, was passiert wäre, hätte John F. Kennedy in Berlin statt »Ich bin ein Berliner!« »Ich bin ein Duisburger!« gerufen. Erstens wäre es eine Vision gewesen, denn er lag nicht lange darauf selbst unter der Erde, in der Grube, und zweitens hätte die Frage, warum ein Amerikaner in Berlin bekennt, dass er ein Duisburger sei, ganz andere Dimensionen angenommen, und für Duisburg wäre es der endgültige Durchbruch geworden.
Ich weiß nicht, ob es allen Duisburgern derartig klar ist wie mir, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es je zu einer Partnerschaft zwischen New York und Duisburg kommen wird, was äußerst bedauerlich ist, denn eine größere Gegensätzlichkeit findet man selten. Und gerade die Reibung ist es doch, die uns wach macht und unsere Sinne schärft, oder? Bei mir verhält es sich jedenfalls so, ein Duisburger in New York, das muss gut gehen, dachte ich, eine ideale Mischung, und wenn man von einem bestimmten Ereignis, das ich zu schildern versuche, kurz einmal absieht, hat es sich auch bestens eingelöst.
Wussten Sie, dass wir Duisburger den größten Binnenhafen Europas haben mit einem Umschlag von 21 Millionen Tonnen?! Wenigstens 1970 war das so, als ich zur Schule ging. Und wir liegen an der Ruhr und der Emscher, und der Rhein hat bei uns eine Breite von 400 Metern; und wo liegt New York? An der Hudson-Mündung! Das kann doch kein Zufall sein, selbst wenn die Stadt insgesamt und im Einzelnen um einiges ausladender ist. Was die Unterschiede anbelangt, fällt mir vor allem auf, dass in Duisburg ungleich mehr Waren den Hafen verlassen, während es in New York die Menschen sind, die ich mit den Schiffen verbinde, die Einwanderer aus aller Herren Länder und die Flüchtlinge, alle die, die in eine freie Welt zu kommen hoffen, denen ihr Duisburg zu eng, zu erstickend, zu gefährlich für Leib und Seele geworden ist. Ich war einer von ihnen. Und warum floh ich, vor wem und wovor? Man wollte mich festlegen, nein, nicht festnehmen, so weit kam es nicht, und so weit wird es nie kommen, dafür werde ich schon sorgen, dazu bin ich viel zu klug, falsch, ganz falsch, dazu bin ich viel zu unschuldig. Was soll das wieder heißen? Ich wollte und muss sagen, ganz einfach sagen: Ich bin unschuldig! Aber gemach! Ein schönes Wort. Ich habe es vor ungefähr zwei Jahren zum ersten Mal gehört und es sofort gemocht. Gemach, gemach! Es bedeutet etwas Gemütlich-Bequemes, etwas Heimelig-Behagliches, ja, sogar etwas Faulenzendes birgt es in sich, was mir besonders gefällt. Es hat nichts Neurotisches an sich, wenn Sie wissen, was ich meine, denn die Neurosen … schließlich lebe ich in einer Stadt der Neurosen, und die können nirgends besser bekämpft werden als hier, behandelt werden, sollte ich es besser nennen, wenn man sie schon mit einschleppt auf den Schiffen aus Shanghai, Birmingham, Montpellier, Zypern, Klagenfurt, Basel oder aus Duisburg, wie ich sie damals mit einer Grippe zusammen wohl eingeschleppt habe vor siebenundzwanzig Jahren, und die Neurosen lauern länger in unseren Körpern als die Grippeviren, denn die Grippe ging vorbei, aber die Neurose wuchert noch, und ich muss höllisch aufpassen, dass es keine Psychose wird, sagt mein Arzt.
In Duisburg wollte man mich also festlegen, auf was? Auf alles Negative natürlich! Auf meine Interesselosigkeit, man nannte sie Stumpfheit, auf meine Unzuverlässigkeit, auf mein sprunghaftes, nicht zu berechnendes Wesen, was ich nie leugnen würde, denn ich traf auf nichts, was mich länger getragen hätte, an das ich mich klammern konnte, das ich für wert empfunden hätte, es weiter für mich auszubauen. Überall witterte ich die Umschnürung, die Stutzschere, die die Hecken in den Vorgärten schneidet, sobald die kleinsten Triebe abstehen.
»Du stromerst wieder«, seufzte meine Mutter. »Kein Wunder bei so viel Wasser«, antwortete ich. Dabei meinte sie, dass ich strolchte, streunte, vagabundierte, herumzigeunerte, was auch der Wahrheit entsprach. Ich war verrückt nach dem Vorläufigen, das in mir eine Sehnsucht nach etwas erweckte, das mich schwindlig machte, und das ich unbedingt in Erfahrung bringen musste. Es fuhr mir wie ein Trip durch die Haare und die Glieder, riss die Augen auf und wässerte den Mund, pochte in den Ohren und im Herzen und ließ mich plötzlich schweißnass, tränend und mit trockenen Lippen, tauben Ohren und rasendem Herzschlag wie einen zu Recht Gezüchtigten erbarmungslos zurück.
Das Vorläufige konnte ein Geruch sein, der faulig vom Wasser kam, Nebel über den Wiesen, das Fahren mit dem alten Ludwig im Kahn die Ruhr entlang, die Mittagshitze am Baggerloch, an dessen Rand stocksteif ein Fischreiher stand, das Zigarettenrauchen in der ausgedienten Fabrikhalle und das Radfahren an den Roggen- und Weizenfeldern vorbei unter den Eisenbahnbrücken hindurch, um dann bei Schmidts Jupp Cola zu trinken und den Kaninchen in ihren Ställen zuzusehen, wenn sie sich besprangen, und den Hahn nachzuahmen, bis er den Kopf schief hielt, flügelschlagend den Staub aufwirbelte und wie zutiefst beleidigt verstummte.
Ich trug das Hemd und die Hose meines älteren Bruders und die Jacke und den Pullover meines Onkels, der eines nachts in den Rhein gesprungen war und auch nie gefunden wurde. Alle behaupteten, sie wüssten nicht, warum er es getan hatte, weil keiner zu sagen wagte, dass es die Duisburger Krankheit war, die jeder von ihnen mehr oder minder stark in sich trug. Auf die abgetragenen Kleider brauchte ich keine Rücksicht zu nehmen, das fand ich mehr als beruhigend, denn das Rücksichtnehmen, das Obachtgeben ist der erste entscheidende Schritt, die Träume zu verhindern, sie in ängstliche schuldbeladene Bahnen zu lenken. Ich wusch mich auch nicht zu oft, aber keiner hat mir gesagt, dass ich röche, wohl weil alle, mit denen ich umging, fahrlässig in dieser Richtung waren. Sie alle hatten zu viel mit der Hoffnung zu tun, dass es eines Tages besser würde.
Wir waren in einer Art...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Vorwort | Elke Heidenreich |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiografie • Autobiographie • Autofiktion • Bastardbuch • Bayreuth • berühmte Regisseure • Buch • Buch des Jahres • Bühne • Deutschland • Dialyse • Ehe • Elke Heidenreich • empfehlungen 2022 • Erwachsene • Erzählungen • Freie Volksbühne Berlin • Genet • Genie • Idomeneo • innovativ • Inszenierung • Intendanz • Klassische Musik • Kleist • Krankheit • Lebenserinnerungen • lebenslange Liebe • Libretti • Max-Reinhardt-Seminar • Medea • Musil • Neu • Neuerscheinung 2022 • Oper • Opernwelt • Regie • Regietheater • Regisseur • Schauspieler • skurril • Strindberg • surreal • Theater • Theatergeschichte • Theaterpreis • Trissenar • witzig |
ISBN-10 | 3-96161-148-3 / 3961611483 |
ISBN-13 | 978-3-96161-148-5 / 9783961611485 |
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