Beleidigung dritten Grades (eBook)
320 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-495-0 (ISBN)
Rayk Wieland, geb. 1965, studierte Philosophie und ist gelernter Reisereporter. Mehrtägige Reisen nach Jerusalem, Rom und Moskau. Mitherausgeber des dreibändigen Standardwerks »Öde Orte«. Zuletzt erschien von ihm »Ich schlage vor, dass wir uns küssen«. Er lebt in Hamburg.
Rayk Wieland, geb. 1965, studierte Philosophie und ist gelernter Reisereporter. Mehrtägige Reisen nach Jerusalem, Rom und Moskau. Mitherausgeber des dreibändigen Standardwerks »Öde Orte«. Zuletzt erschien von ihm »Ich schlage vor, dass wir uns küssen«. Er lebt in Hamburg.
Prolog
VOR EINIGER ZEIT erwarb ich auf Ebay einen Koffer voller Steine. Ich gebe zu, es handelte sich bei dem Kauf nicht um ein durchdachtes und wohlerwogenes Vorhaben, sondern um einen dieser Entschlüsse, die spät in der Nacht bei einem Glas Rotwein aufkommen und sich im Nachhinein gern die Aura des Unbegreiflichen geben. In der Anzeige stand Steinsammlung – Einzigartige Kollektion – Objekte von historischem Rang inkl. Fundstelle und Datum. Es gab drei Fotos; eines zeigte einen alten Koffer, angefüllt mit großen und kleineren Steinen, die sehr gewöhnlich und sogar etwas schmutzig zu sein schienen; auf einem anderen Bild war ein Klotz in Nahaufnahme zu sehen, er hatte, schätzte ich, die Größe einer halben Faust und war von rötlich-gelber Farbe; auf dem dritten Foto schließlich sah man ein kleines Schild mit dem handgeschriebenen Schriftzug Uhufelsen, 17. Oktober 1911.
Ein alter Koffer voller Steine – schwer zusagen, was mich daran faszinierte. Als Kunstobjekt würde er zweifellos zum Sinnbild eines erratischen Nihilismus erklärt werden und Bewunderung erlangen können, aber ich bin kein Künstler, sondern nur Gelegenheitsschriftsteller, und abgesehen von kaputten Lesebrillen und antiken Netzteilen eines längst entsorgten Geräteparks sammle ich nichts. Als ich auf den Sofort Kaufen-Button klickte, genoss ich geradezu das Gefühl einer gewissen Gewagtheit und stellte ihn mir vor, jenen unbekannten Geologen oder Mineralogen, wie er an einem Herbstmorgen im Jahr 1911 den Uhufelsen erklomm, um einen herausragenden Stein aufzuklauben und seiner Sammlung beizufügen; eine Sammlung, die ich als Botschafter der Nachwelt nun in Empfang nehmen und bewahren würde. Der Preis betrug 150 Euro, fünf Tage später war der Koffer da.
Er enthielt tatsächlich Steine, genau sechsundfünfzig Stück verschiedenster Art, alle mit kleinen Nummern versehen und dazugehörigen Schildchen, auf denen Ortsnamen und Daten standen. Paris, 7. Dezember 1841; Sankt Petersburg, 8. Februar 1837; Warschau, 5. März 1766; Weehawken, 11. Juli 1804; Uhufelsen, 17. Oktober 1911 usw. Nebeneinandergelegt, ergaben sie eine Reihe von fast drei Metern; und zudem ergab sich, dass auch ein Golfball da war sowie ein überzähliges Schildchen mit der Aufschrift Carouge, 28. August 1864. Zwei Steine hatten keine Nummer und keine Beschriftung. Einer war der bereits erwähnte rötlich-gelbe Brocken, bei dem anderen handelte es sich um die Reste einer grünlich schimmernden Kachel.
Die Orte und Datumsangaben sagten mir nichts. Ich hielt sie für Notizen, betreffend die angesammelten Exponate eines offenbar überlangen, über mehrere Generationen sich erstreckenden Wander- und Sammlerprojektes, bis ich einen der Tage nachschlug und herausfand, dass am 17. Oktober 1911 ein Mann namens Rudolf Ditzen, später berühmt unter dem Namen Hans Fallada, ein Duell veranstaltete. Er war damals achtzehn Jahre alt, und der Ort, an dem dieses Duell stattfand, war der Uhufelsen in der Nähe von Rudolstadt. Die Erkenntnis, die etwas von der Enthüllung eines Geheimnisses hatte, veränderte schlagartig meinen Blick auf den Stein. Ich besah ihn genau von allen Seiten, und ich prüfte sogar, ob womöglich Spuren des Ereignisses zu entdecken waren.
Vor mir, wie sich herausstellte, als ich, Stück für Stück, die anderen Orte mit ihrem jeweiligen Datum durchging, lag eine Sammlung von Gedenksteinen, die ein Unbekannter (ich nahm an, dass es ein Mann gewesen sein musste) von den Schauplätzen berühmter historischer Duelle zusammengetragen hatte. Der Golfball dokumentierte stellvertretend das Duell zwischen Ferdinand Lassalle und dem rumänischen Bojaren Janko von Racowitza, an dessen Austragungsort Carouge, eines Stadtteils von Genf, sich heute das große Golf Simulator Studio befindet.
In den folgenden Tagen und Wochen füllte mich die Beschäftigung mit den verrückten, tragischen, unglaublichen und komischen Zweikämpfen, welche die Steine bezeugten, unerwartet aus. Bis zum Eintreffen des Koffers in meinem Leben hatte ich von jenen mikroskopischen Scharmützeln der Weltgeschichte zwar hier und da manches vernommen, aber ohne jedes Interesse. Nach meiner flüchtigen Kenntnis waren das aufgebauschte opernhafte Szenen, die keine Musik der Welt vor ihrem Untergang in selbst verschuldeter Melodramatik retten konnte. Mir fehlte die Optik, mir fehlte das Gehör, mir fehlte, wie ich heute weiß, auch das Herz.
Wie die meisten Menschen erachtete ich Duelle für obskure, leicht unbegreifliche Antiquitäten, die mit uns so viel zu tun haben wie Epauletten, wie mysteriös geschwungene Schnurrbärte, wie Billetts mit einer in weit ausholenden Linien zerfließenden Handschrift – nämlich nichts. Ein falsches Wort zieht heutzutage keine Forderung nach sich, sondern nur ein weiteres falsches Wort; Beleidigungen, wenn überhaupt, werden vor Gerichten verhandelt; sexuelle Anzüglichkeiten gehören zum Small Talk. Unser Umgangston, 150 Jahre zurück in die Geschichte expediert, würde umfangreiche Fassungslosigkeiten hervorrufen. Die Ehre, zu deren Verteidigung Duelle einst unvermeidlich anberaumt werden mussten, ist eine suspekte Angelegenheit; sie dient als zweifelhafte Währung im Kleingaunermilieu und fristet ihr Dasein als Floskel in öffentlichen Ansprachen.
Das alles soll hier weniger beklagt als festgestellt sein. Ich für meinen Teil sehe die Steine, die inzwischen in einer eigenen Vitrine Platz gefunden haben, nicht ohne gemischte Gefühle. Ich stand fassungslos an der Seite von Natalja Gontscharowa, Puschkins Frau, nachdem er am Schwarzen Flüsschen aus zehn Metern Entfernung regelrecht hingerichtet wurde; ich litt mehr als Pein und Langeweile, als ich Tschaikowskis alberne Verkitschung des Eugen Onegin zu ertragen hatte; ich fand völlig in Ordnung, dass Tolstoi und Turgenjew, nach siebzehnjährigem Hin und Her, doch davon Abstand nahmen, sich gegenseitig zu erschießen.
Natürlich wollte ich unbedingt wissen, welche Geschichten mit den beiden überzähligen Steinen verknüpft sind, die ohne Orts- und Datumsangabe in dem Koffer lagen. Ich setzte mich noch einmal mit der Verkäuferin in Verbindung, einer reizenden älteren Dame namens Eberlein in Berlin. Sie war es, die mir auch den Kontakt zu den beteiligten Akteuren vermittelte, sodass ich nach und nach mit fast allen sprechen konnte, die noch am Leben sind. Aus den Gesprächen mit ihnen und reichlich verzweigten Recherchen in Archiven ergab sich die Chronik zweier Steine, wenn man so will, zweier sehr verschiedener Steine. Ein Stein, wie ich heute sagen kann, trägt das Datum vom 14. Januar 2012, der Ort ist Berlin Friedrichshagen; bei dem anderen steht der 18. Oktober 1937 und Hohenlychen. Rein äußerlich, geologisch und historisch haben sie nichts miteinander zu tun. Allerdings hegte ich schon früh den Verdacht, dass sie zusammengehören könnten, dass sie etwas verbindet, das Echo eines Schusses, die Spuren einer Verwandtschaft, eine gemeinsame Geschichte.
Gemeinsame Geschichte? Das ist die Frage. Ich selbst hatte noch nie davon gehört, und kein Mensch, den ich kannte, wusste mir Einzelheiten über das letzte deutsche Duell zu sagen, das am 18. Oktober 1937, früh sieben Uhr, in der Gegend von Hohenlychen ausgetragen wurde. Zwei hochrangige Nazis richteten dort, mit ausdrücklicher Genehmigung ihrer Vorgesetzten, von etlichen SS-Leuten überwacht, die Pistolen aufeinander. Wer sie waren, warum sie sich duellierten, was aus ihnen wurde – alles schwer zu ermitteln. Kein Historiker arbeitete sich durch die Akten des Adjutanten des Reichskanzlers mit der Signatur ED 9-1-130, die im Münchener Institut für Zeitgeschichte lagern. Nach ihrer Lektüre war ich hocherfreut über die zahllosen Perlen des Irrsinns, die noch niemand entdeckt hatte, und zugleich erstaunt über die Verquickungen von provinzieller Posse mit großer Politik. Blutig und desaströs endete das Leben der meisten, die an jenem Oktobermorgen sich zum Duell versammelten. Man könnte auch sagen, zu der an Desastern und Blut so reichhaltigen Epoche, die ihm folgte, sollte dieses Duell das beinahe romantische Vorspiel sein.
So vergessen die Episode ist, so spukhaft, mysteriös sind ihre Nachwirkungen. Fiel der amerikanische Präsident John F. Kennedy 1963 einem Attentat zum Opfer, weil sechsundzwanzig Jahre zuvor ein Mann, früher als geplant vom Manöverbesuch kommend, in seine Schöneberger Wohnung gestolpert war? Soll man glauben, dass Hitler noch Mitte der 1970er-Jahre vor Helgoland gesehen wurde? Und welcher Zusammenhang besteht bitte schön zwischen einem Orden der Eisernen Krone 2. Klasse, den sich ein Hochstapler 1921 ans Revers heftet, und einem großen Loch, das knapp hundert Jahre später in der Decke des Berliner Spreetunnels klafft?
Mich interessiert das. Denn einerseits ist, was vergangen ist, eindeutig weg vom Fenster, unwiederbringlich verloren und erledigt; andererseits schleicht es sich auf konfusen Wegen ins Heute. Was gestern normal gewesen ist, kann morgen völlig verrückt sein.
Weil das so ist und...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affäre • Beleidigung • Berlin • Deutschland • Duell • Groteske • historisch • Rayk Wieland |
ISBN-10 | 3-95614-495-3 / 3956144953 |
ISBN-13 | 978-3-95614-495-0 / 9783956144950 |
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