Das Paradies ist weiblich (eBook)
256 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9492-5 (ISBN)
Tanja Raich wurde 1986 in Meran (Italien) geboren und lebt in Wien. Sie arbeitet als Herausgeberin, Autorin und Programmleiterin für Kinderbuch und Literatur. Zuletzt erschienen ihre Romane 'Jesolo' und 'Schwerer als das Licht' sowie bei Kein & Aber die Anthologie 'Das Paradies ist weiblich'.
MITHU SANYAL
WELCHES MATRIARCHAT HÄTTEN SIE DENN GERN?
Vor einer Weile wurde ich von einem Magazin um einen Artikel mit dem Arbeitstitel »Frauen an die Macht! Liegt das Heil im Matriarchat?« gebeten. Das Problem war nur, je länger ich auf den Titel starrte, desto weniger fiel mir dazu ein. Denn in diesem Titel war keine Frage, sondern eine Sehnsucht versteckt. Kleines Logik-Abc: a.) Wäre die Welt ein besserer Ort, wenn Frauen an der Macht wären? b.) In Matriarchaten herrschen Frauen. Also ergibt c.) Wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir im Matriarchat lebten?
Dabei ist die Frage doch: Herrschen in Matriarchaten wirklich die Frauen?
Für Simone de Beauvoir war die Sache klar: »Die Gesellschaft war immer männlich beherrscht.« Damit verwarf sie die Matriarchatsutopien, die durch linke Theorien als Gegenentwurf zum Patriarchat geisterten. Jetzt wäre es natürlich hilfreich zu wissen, wovon wir sprechen, wenn wir von Matriarchaten sprechen, und – da wir gerade dabei sind – warum wir überhaupt davon sprechen.
Angefangen hatte alles mit einem Schweizer, dem Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen, der 1861 seinen Bestseller Das Mutterrecht veröffentlichte. Überraschenderweise verwandte Bachofen darin das Wort Matriarchat kein einziges Mal – es existierte noch gar nicht. Dafür tat er etwas, was bis zu diesem Zeitpunkt in der Altertumsforschung undenkbar gewesen war: Er erklärte, dass die Geschlechterrollen nicht immer so waren wie zu seiner Zeit. Die Menschheit habe vielmehr vier Phasen durchlaufen: zuerst den Hetärismus, in dem alle mit allen Sex hatten, weshalb die Abstammung über die Mütter lief, weil die Männer nicht wussten, welche Kinder von ihnen waren. Doch, so fährt Bachofen fort: »Durch des Mannes Missbrauch entwürdigt, fühlt das Weib die Sehnsucht nach einer gesicherten Stellung und einem reineren Dasein.« Aha?
Anyway, weiter im Text: Deshalb würde das Weib in der zweiten Phase der Menschheit als Amazone gegen den Mann kämpfen, was schließlich die dritte Phase einleitete, die Gynaikokratie oder Frauenherrschaft. Bachofen betrachtete das als eine Art Evolution der Gesellschaftsordnungen, an deren Zielpunkt er die Ablösung des weiblich-stofflichen Prinzips durch das männlich-geistige setzte und damit die Zivilisation. So erstrebenswert er diese vierte Phase auch fand, beschrieb er die Frauenherrschaft dennoch als die erfreulichere Zeit, weil er Frauen für die moralischeren Menschen hielt: mütterlich und nährend und mit einer instinktiven Religiosität.
Bachofens Abhandlung fand enorme Resonanz, am prominentesten in Friedrich Engels Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, das dieser in nur zwei Monaten herunterschrieb und in dem er die Idee der Ursippe entwickelte, die in einer Art Urkommunismus lebte. »Kommunistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause«, führte Engels in völliger Übereinstimmung mit der Geschlechterzuschreibung Frau/Haus und Mann/Öffentlichkeit aus. Und auch Engels kannte nur zwei klar voneinander getrennte, ja sich in gewisser Weise diametral gegenüberstehende Geschlechter. Der paradiesische Zustand der Weiberherrschaft hielt an, bis die Männer mit zunehmender Arbeitsproduktivität das Bedürfnis entwickelten, ihren Besitz an ihre leiblichen Kinder zu vererben, und begannen, die Fruchtbarkeit der Frauen durch die monogame Ehe zu kontrollieren. Ergo die Entstehung von Statusunterschieden, Klassen und schließlich Staaten.
Daran ist eine Menge bemerkenswert, nicht zuletzt, dass auch Engels fest an die höhere weibliche Moral, vor allem Sexualmoral glaubte. Während noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen als das unmoralische Geschlecht galten, auf das alle Übel der Welt zurückgingen, angefangen mit der Vertreibung aus dem Paradies, gab es nun die Vorstellung eines matriarchalen Paradieses vor dem Sündenfall Patriarchat. Die Voraussetzung dafür war, dass in der späten Aufklärung, als sich die reale Stellung der Frauen ihrem Tiefpunkt näherte, ihnen stattdessen eine ideelle Position angeboten wurde: die der Hüterin der moralischen Flamme für den Mann, dessen brillanter Geist oder rohe Körperkraft ihn schon mal auf Abwege führen konnten.
Nun ist jede Forschung durchdrungen von den Ideologien und Vorstellungen ihrer jeweiligen Entstehungszeit, doch bei der Matriarchatsforschung ist das besonders eklatant, da es sich dabei um Vorstellungen von Geschlechter»identitäten« handelt. Der Begriff selbst wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenbegriff zum Patriarchat entwickelt. Patriarch ist ein hoher kirchlicher Amtstitel und setzt sich aus dem griechischen patriā, »Abstammung, Geschlecht« (vergleiche auch patēr, »Vater«) und archē, »Herrschaft« zusammen. Der Stammvater Israels (und des Islams) war der Patriarch Abraham, der seinen Bund mit Gott schloss und daraufhin dessen Offenbarung an die Gemeinde weitergab. Somit konnte nicht einfach jeder in direkten Kontakt zu seinem Gott treten, sondern war auf einen Experten, einen Patriarchen angewiesen. Das Matriarchat als Spiegelbild dazu – mit Frauen in den religiösen und politischen Schlüsselpositionen – unterschied sich nur durch einen als irgendwie mütterlich imaginierten Herrschaftsstil.
Dass es das so nie gegeben hat, ist der einzige Punkt, an dem sich Matriarchatsforscher:innen und Gegner:innen einig sind. Danach wird es spannend. Es ist richtig, dass man ein steinzeitliches Matriarchat mit archäologischen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann – doch gilt das genauso für das Patriarchat. Die berühmten Funde, wie die Venus von Willendorf oder die Göttin auf dem Leopardenthron aus Çatalhöyük, belegen, dass Frauen definitiv eine wichtige Rolle in der symbolischen Ordnung gespielt haben – nur welche? Inzwischen haben wir genügend Skelette von Kriegerinnen, um zu belegen, dass zumindest die mythologischen Amazonen keineswegs mythologisch, sondern sehr real waren. Das einzig Mythische – sprich: frei Erfundene – an ihnen war, dass sie sich eine Brust abschnitten, um besser Bogenschießen zu können. Bogenschießen: ja. Aber beide Brüste da. Doch wir wissen nichts über ihre faktische Macht in den sozialen Verhältnissen, über die wir ebenfalls nahezu nichts wissen. Doch was heißt hier überhaupt Macht? Die bekannteste Definition stammt von Max Weber. Er bezeichnet sie als die »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«. Indes müssen wir gar nicht bis in die Frühgeschichte zurückgehen, um Gesellschaften zu finden, die ein deutlich anderes Verständnis von Macht haben.
Die Minangkabau in Indonesien beispielsweise, die sich selbst als Matriarchat bezeichnen (von niederländisch matriarchaat), sind stolz darauf, dass ihr ungeschriebenes Recht, das jahrtausendealte Adat, die erste wahre Demokratie der Welt darstellt. Mit einem kleinen Unterschied: Wo Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, basiert das Adat auf der Konsensethik. Das bedeutet eine Menge Diskussionen, denn Entscheidungen werden nur getroffen, wenn alle damit einverstanden sind. Aber auch: Die Fähigkeit, überhaupt über Bedürfnisse und Ansichten zu verhandeln und dabei die Bedürfnisse aller – und nicht nur die der Mehrheit – zu berücksichtigen. Da die Minangkabau mit mehreren Millionen Menschen die größte nicht-patriarchale Gruppe der Welt sind, geschieht dies über ein ausgeklügeltes System von regionalen und nationalen Räten in einem unglaublich aufwendigen und keineswegs immer friedlichen Prozess. Jedoch wird das Ergebnis dieser Verhandlungen dann auch wirklich von jedem Mitglied der Minangkabau mitgetragen, weil sich darin der Wille aller spiegelt. Ähnliches beschreibt der Philosoph Kwasi Wiredu für seine Volksgruppe, die Dogon in Westafrika: »Die Mehrheit ist keine ausreichende Basis zur Entscheidungsfindung und darf nicht das alleinige Recht auf Repräsentation haben. Denn repräsentiert zu sein ist ein Grundrecht.« Wenn Werte wie Repräsentation – und damit einhergehend Respekt und Ausgleich – im Zentrum einer Gesellschaft stehen, und deren Verstoß geahndet wird, gestaltet sich das Zusammenleben tatsächlich ethischer, ohne dass ihre Mitglieder – Frauen, Männer und alle weiteren Geschlechter – bessere Menschen sein müssen.
Es geht nicht um das Umkehren von Hierarchien, sondern um das Infragestellen derselben. Auch viele indigene Gesellschaften zeichnen sich durch Augenhöhe aus – und zwar nicht nur in Bezug auf die Geschlechter, sondern auch über die Grenzen der Spezies hinaus. Die Patawatomi in Nordamerika und Kanada beispielsweise verweisen bereits in ihrer Sprache auf die Verwandtschaft aller Lebewesen und die damit einhergehende Verpflichtung, allem Belebten – inklusive Pflanzen, Bäumen, Bergen und Flüssen – mit Respekt zu begegnen. Nicht-patriarchale Gesellschaften gibt es zudem in den unterschiedlichsten Geschlechterkonstellationen. In manchen sind die sozialen Positionen gemischt, in anderen gibt es getrennte Aufgabenbereiche, wodurch sich die unterschiedlichen Gruppen – seien sie nach Geschlecht oder nach Alter getrennt – respektieren müssen, da sie aufeinander angewiesen sind. Dabei sind die Rollen nicht festgelegt. Bei den Mosuo in Südwestchina etwa sind Männer für Fischerei und Handel zuständig, während die Frauen Garten- und Ackerbau betreiben. In Juchitán in Mexiko ist es genau umgekehrt. Und dann gibt es noch Gesellschaften mit sogenannter Dyarchie, was bedeutet, dass Ämter von jeweils zwei Personen ausgefüllt werden, einer Frau...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anthologie • Beruf • Erziehung • Essay • Familie • Feminismus • Feministische Literatur • Literatur • Matriarchat • Patriarchat • Politik |
ISBN-10 | 3-0369-9492-0 / 3036994920 |
ISBN-13 | 978-3-0369-9492-5 / 9783036994925 |
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Größe: 4,7 MB
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