Athos 2643 (eBook)
432 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11853-7 (ISBN)
Nils Westerboer, geboren 1978, war nach der Schule in Israel tätig, unter anderem als Betreuer für Menschen mit Behinderung, Hausmeister und Trainer für Sprengstoffsuchhunde. Anschließend studierte er Germanistik, Theologie und Medienwissenschaften in München und Jena. Als Naturfilm-Kameraassistent ging er für ZDF, NDR und arte auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren. Seit 2012 unterrichtet er an einer Gemeinschaftsschule. Sein Debüt »Kernschatten« wurde für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2015 nominiert. Zuletzt erschien in der Hobbit-Presse sein Buch »Athos 2643«, das mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 ausgezeichnet wurde.
Nils Westerboer, geboren 1978, war nach der Schule in Israel tätig, unter anderem als Betreuer für Menschen mit Behinderung, Hausmeister und Trainer für Sprengstoffsuchhunde. Anschließend studierte er Germanistik, Theologie und Medienwissenschaften in München und Jena. Als Naturfilm-Kameraassistent ging er für ZDF, NDR und arte auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren. Seit 2012 unterrichtet er an einer Gemeinschaftsschule. Sein Debüt »Kernschatten« wurde für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2015 nominiert. Zuletzt erschien in der Hobbit-Presse sein Buch »Athos 2643«, das mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 ausgezeichnet wurde.
Hayya alal falah
Rüd bekommt seinen Mokka, einen sündhaft teuren Galatea Insomnia, umsonst. Die Ramadan-Rotation von Kütahya hält ihn nur mühsam in der Tasse. Da Rüd weiß, welchen Wert flüssiges Wasser auf einer neptunischen Werft hat, rührt er vorsichtig.
Wie alle, die nicht an den Zufall, sondern an das Schicksal glauben, weiß der Hafenwirt von Kütahya die Gunst eines richtigen Moments zu erkennen. Dass einer mit Rüds Qualifikation, aus der Ferne kommend und nur auf der Durchreise, ausgerechnet ihn aufgesucht hat, insgesamt in Eile, aber mit genügend Zeit, den Preis eines guten Mokkas mit einer kleinen Gefälligkeit begleichen zu können, ist Kismet vom Feinsten.
»Ich habe noch keinem erzählt, was ich Ihnen gleich erzähle«, beginnt er. »Ich möchte jetzt keine neuen Gäste mehr. Stört es Sie, wenn ich abschließe?«
»Nein«, sagt Rüd.
Der Wirt lässt eine Hand unter der Theke verschwinden und es klickt in der Eingangstür. »Selbst die Frau weiß nichts davon!«
Er dimmt die Beleuchtung auf fünfzig Lumen, was den Ausblick in den Weltraum weitgehend entspiegelt. Ein Band von Zirruswolken umschließt den Äquator Neptuns, den man hier, entweder scherzhaft oder liebevoll, das Mittelmeer nennt, und ich beobachte Anzeichen eines stärker werdenden Sturms auf der Südhalbkugel. Auf einem der Fenster klebt ein kleines, rotes Herz aus Papier.
»Wie schmeckt der Kaffee?«, fragt der Wirt.
»Ausgezeichnet«, sagt Rüd, wissend, dass der Preis noch kommt.
Der Wirt versenkt ein Teeglas im Spülbecken, das bis zum Rand mit schwarzem Reinigungsgranulat gefüllt ist. »Ich brauche ihre Hilfe«, sagt er leise. »Ich wollte gerade beten gehen. Und dann kommen Sie.«
Seine Stimme ist das Flüstern nicht gewöhnt. Alles an ihm besteht aus reinem, gottgegebenem Stolz, der ostanatolische Akzent, das gepflegte graue Haar, der Walross-Moustache und sogar die Narbe, die durch die feinsinnigen Züge seines Gesichts geht wie ein Korrekturstrich. Der folgende Satz geht ihm schwer über die Lippen: »Keiner kann mir helfen außer Ihnen!«
»Was ist mit Ihrem Gott?«, fragt Rüd.
»Er hat Sie geschickt.«
Rüd kapituliert mit einem Lächeln. Er hat nur bedingt Lust zu arbeiten, aber der Kaffee ist ausgezeichnet. »Ich hab wirklich nicht viel Zeit.«
Der Wirt zieht ein blitzsauberes Glas aus dem Becken. Er stellt es in ein Regal hinter der Theke, wo es die einzige Lücke in einer langen Reihe blitzsauberer Gläser schließt.
»Ich mache hier alles selbst«, beginnt er. »Ich bin der Erste, der morgens kommt, und der Letzte, der abends geht. Nichts geschieht hier ohne mich. Die Leute wissen das. Wenn jemand etwas kaputt macht, ersetzt er es. Wenn jemand etwas stiehlt, bringt er es zurück.« Er reibt sich vorsichtig die Hände über dem Spülbecken, langsam sinkt das schimmernde Granulat hinein. »Wenn mich die Frau verlässt, heirate ich eine neue. Wenn mir die Frau stirbt, heirate ich eine neue. Ich bin der, der das Licht anmacht. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon«, sagt Rüd.
»Vielleicht ist es eine Strafe«, fährt der Wirt fort. »Vielleicht habe ich nicht lange genug getrauert.« Er geht einen Schritt zurück, um in den violetten Vorhang aus versteiftem Pseudo-Brokat zu greifen, der den Durchgang zu seiner Küche verdeckt. »Aber ich werde nicht zulassen, dass er mich zugrunde richtet!«
»Wer?«, fragt Rüd.
Der Wirt zieht den Vorhang zur Seite. Dahinter erscheint, neben einer mit Baklava gefüllten Kühltruhe, ein wuchtiger Apparat mit einer verchromten Front und der Aufschrift Bulaşıkprof 8.
»Das Hochzeitsgeschenk«, erklärt er.
»Gratulation!«, sagt Rüd, der keine Ahnung hat, was er da vor sich hat.
Der Wirt schüttelt den Kopf. »Bitte nicht –«
»Was ist das?«, fragt Rüd.
»Ein Hochfrequenzspüler. Ein reeller Volltakter. Er soll mir Arbeit abnehmen!« Der Wirt beugt sich über die Theke, um näher an Rüds Ohr zu kommen. In sein Flüstern mischt sich Bitterkeit wie ein Gift. »Ich will ihn nicht.«
Rüd betrachtet ihn fragend.
»Mein Schwiegervater«, sagt der Wirt, »hat ihn während meiner Hochzeitsreise hier aufgestellt. Er ließ ihn anschalten, bevor ich widersprechen konnte. Ich war ja nicht da!« Sein Mund formt sich zu einer beleidigten Schippe.
»Geht er nicht gut?«, will Rüd wissen.
»Himmel, das ist das Beste, was Sie kriegen können, eine Sensation, sagen die Leute. Import, ab Werk. So etwas gibt es hier eigentlich nicht. Aber ich will ihn nicht. Und jetzt erpresst er mich.«
Rüd runzelt die Stirn. »Ihr Schwiegervater?«
»Nein. Der Prof.«
»Ein Spüler?« Rüd begreift jetzt, worauf das hinausläuft. Er bittet um einen Löffel, damit er sich noch etwas Insomnia aus dem Satz pressen kann.
»Ich habe noch nie einem Inquisitor Kaffee gemacht«, sagt der Wirt erleichtert. Rüd umrundet die Theke und geht vor dem Spüler in die Hocke.
»Was tut er genau?«
Der Wirt holt tief Luft. »Zuerst war es keine Erpressung. Er bemerkte nur, dass ich ihn nicht benutze. Irgendwann fing er an, jeden Tag genau die Energie mit leeren Spülgängen zu verbrauchen, die bei seiner Benutzung angefallen wäre. Das war noch so etwas wie eine Einladung. Seit er aber begriffen hat, dass ich trotzdem lieber alles von Hand spüle, dreht er immer weiter auf. Er erpresst mich über die Stromrechnungen.«
»Und wenn Sie den Stecker ziehen?«
»Sie können das gerne versuchen. Aber glauben Sie mir, das wollen Sie nicht.«
Rüd muss lächeln. »Die Nichtbenutzung ist also nicht vorgesehen.«
»Scheint so«, flüstert der Wirt grimmig.
Rüd verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie wissen, dass dieser Spüler Ihnen hilft?«
Der Wirt nickt.
»Sie wissen auch, dass dieser Spüler genau weiß, dass er gut für Sie ist? Vielleicht weiß er es sogar besser als Sie selbst.«
Der Wirt nickt.
»Er ist intelligent. Er spart Geld, er schenkt Ihnen Zeit. Er schont die Ressourcen von Kütahya. Welchen Grund kann es geben, ihn nicht einzusetzen?«
»Ich will ihn nicht«, sagt der Wirt.
Rüd bittet um die Erlaubnis, sich in der Küche frei bewegen zu dürfen, und um einen neuen Kaffee. Er zieht den Brokatvorhang hinter sich zu und lässt mich mit dem Wirt allein.
Erst jetzt, als Rüd weg ist, traut dieser sich, mich eingehend zu betrachten. Ich trage wieder das Blümchenkleid. Zusammen mit den goldenen Schuhen ist es für den Zwischenstopp auf einer türkischen Werft genauso untauglich wie die elektromagnetische Burka, die mir Rüd zum Spaß an der Camidibi gekauft hat. Ich habe mein Bestes gegeben, die Burka als das geringere Übel zu empfehlen, aber Rüd hört noch zu selten auf mich.
»Wann geht Ihr Weiterflug?«, ruft der Wirt in Richtung des Vorhangs, ohne den Blick von mir zu wenden.
»In zwanzig Minuten.«
Das war, möglicherweise, eine vorschnell gegebene Information. Jetzt weiß der Wirt, wohin wir reisen werden. Denn wenn hier jemand die Zeit hat, Fahrpläne zu studieren, dann ist es ein Wirt, ob er nun selber spült oder nicht.
Als der neue Mokka dampfend an Rüds Platz steht, beginnt der Wirt, eine polierte Messingkanne zu polieren, die im Regal auf der anderen Seite des Durchgangs steht. In der Küche klirrt es leise.
Das Regal ist bis unter die Decke mit Andenken vollgestellt, die einen zwanghaften Anspruch auf Vollständigkeit erheben: bunte Gesteinsproben aller regulären Neptunmonde, handbemalte Keramik mit den Wappen der türkischen Gasflotte, dazu alle Fährmodelle der Geogalaks-Linie. Ganz oben stehen, neben einer großen Panflöte aus Schilflaminat, drei zerschlagene Wasserpfeifengläser. Der Wirt stellt, nachdem er mich lange genug betrachtet hat, die schimmernde Kanne ab, geht zurück zum Vorhang und spricht durch den Spalt.
»Wissen Sie, auf Athos sind Frauen nicht erlaubt.« Er streicht sich den Bart glatt. »Sie fliegen doch nach – Athos?«
In der Küche bleibt es still. Doch dann sind Schritte zu hören, Besteckschubladen werden scheppernd aufgerissen und wieder zugerammt. Der Wirt lauscht eine Weile, dann wiederholt er: »Frauen sind –«
»Das ist keine Frau!«
Die Abdampfhaube einer Backofenesse knallt klirrend ins Schloss. Der Wirt zuckt zusammen. Ich tue so, als müsste ich den Halt meiner Frisur prüfen, und streiche mir dazu sanft über den Nacken. Ein paar Strähnen landen auf meiner Schulter und ich schenke dem Wirt ein Lächeln. Schneller als erwartet rastet die Frontklappe des...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | AI • Athos • Deutscher Science Fiction Preis 2023 • Ethik • KI • Kriminalgeschichte • Künstliche Intelligenz • Liebesgeschichte • Mord • Mordfall • Religion • Science-fiction • Science-Fiction 2023 • Universum • Zukunft • Zukunft: Science Fiction |
ISBN-10 | 3-608-11853-5 / 3608118535 |
ISBN-13 | 978-3-608-11853-7 / 9783608118537 |
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