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Rombo (eBook)

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
264 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77233-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rombo -  Esther Kinsky
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Im Mai und im September 1976 erschüttern zwei schwere Erdbeben eine Landschaft im nordöstlichen Italien. An die tausend Menschen sterben unter den Trümmern, unzählige sind ohne Obdach, viele verlassen ihre Heimat. In Esther Kinskys preisgekröntem Roman berichten sieben Bewohner eines abgelegenen Bergdorfs, Männer und Frauen, von ihrem Leben, in dem das Beben tiefe Spuren hinterlassen hat. Von der gemeinsamen Erfahrung von Angst und Verlust spleißen sich bald die Fäden individueller Erinnerung ab und werden zu eindringlichen und berührenden Erzählungen tiefer, älterer Versehrung.



Esther Kinsky wurde in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Lyrik, Essays und Erzählprosa ebenso umfasst wie Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet.

Landschaft


Aus der Höhe, von den karstigen Wölbungen unterhalb des Gipfels des Monte Canin ist das ganze Tal sichtbar, eine unregelmäßige Ausdehnung sanfterer Erhebungen und kleiner, bühnenartiger Hochebenen, umringt von Gebirge. Die Dörfer sind auf Anhöhen, manche mit Schutz am Felsen. Die lieblicher gelegenen, umgeben von offenem Land, sind dem Erdbeben fast ganz zum Opfer gefallen. Ruinen hier, abgezirkelte weiße Reihenhauszeilen da, kantige Eindringlinge in einer von Wind und Wasser und Stein-an-Stein geschliffenen Gegend. Außerhalb der Siedlungen gestaute Gesteinsschübe, Moränen, angesammelter materieller Widerstand gegen die Bewegung. Wiesen, Weiden, kleine Streifen bewirtschaftetes Land. Auf größerer Höhe, durch steile Waldhänge von den Dörfern getrennt, Almen und Hochwiesen. Viel Stein. Die Flüsse, Bäche, Rinnsale schreiben das Ihre ins Tal, weiße Zeichen und Linien der Beharrlichkeit, ohne Ziel als die Einfurchung im Festen. Wege, Straßen schreiben eine andere, unbeholfenere Schrift der ausgehandelten Zugänglichkeit. Woher, wohin. Kein Ausweg ist absehbar aus dem Tal, ringsum Berge, von den blaubewaldeten Hängen und schroffkantigen Felsfronten über die grauen und lila Furchen und Rinnen und die zahnigen Gipfel und gelblichen Bruchstellen und Wundflächen der Berge in alle Richtungen ein Verlust des Horizonts.

Anselmo


Zuerst wollten wir raus, meine Schwester und ich, bloß raus, als alles anfing zu schwanken; nicht raus!, hat der Vater gebrüllt und uns unter den Türsturz gezerrt, er hatte Hände wie Eisen. Putz und Mörtel rieselten, ein Stück Mauer brach ein, wir konnten nichts sehen und bekamen keine Luft vor Staub, und mir kam die Erinnerung an die Kiesgrube in Deutschland, wo meine Schwester und ich uns in einer Höhle versteckt haben, als wir sagen sollten, ob wir bei der Mutter bleiben oder mit dem Vater zurück nach Italien wollten. In der Höhle rieselte auch so der Sand auf uns herunter, ganz plötzlich, und wir kriegten keine Luft und bekamen Angst, das werde ich nie vergessen, wir haben uns beide die Hosen nassgemacht. Ich weiß nicht mehr, wie lange das Erdbeben gedauert hat, eine Stunde oder eine Minute. Draußen schrien Leute. Wir konnten nicht an der Haustür raus und mussten durch den Hof. Überall lagen Steine und Erde. Mir ist, als wäre es noch hell gewesen, aber es kann nicht mehr hell gewesen sein. Eine Nachbarin lag auf der Straße, vielleicht war sie aus Angst umgefallen, oder etwas hatte sie getroffen, sie stöhnte, als mein Vater und ein Nachbar sie aufhoben, sie wollten sie tragen, aber dann wussten sie nicht wohin. In unserer Straße war ein großer Riss. Ich glaube, der Himmel war grün, dunkelgrün. Mir war kalt. Dann fiel mir ein, dass ich am Fenster noch mit dem Indianer gespielt hatte, der war das Einzige, was ich von dem Westernfort mitgenommen hatte, als wir mit dem Vater nach Italien zurück sind. Das Fort bleibt hier, hat meine Mutter damals gesagt, als wir gepackt haben, und das war schlimmer als alles andere. Aber den Indianer hatte ich in der Hosentasche, das wusste sie nicht. Der Indianer war das Erste, was mir einfiel. Ich stand auf der Straße unter dem grünen Himmel und dachte an den Indianer und ob er noch am Fenster war. Ich weiß nicht mehr, wie ich wieder rein bin ins Haus, und wann, vielleicht am nächsten Tag, um ihn zu suchen. Alles war voller Staub und Putzbrocken, und die Fensterbank war schief. Ich habe den Indianer gleich gefunden. Und auch meine Fiedel habe ich gerettet, aber das war schon am Abend gewesen, gleich nach dem Erdbeben oder noch währenddessen, sie war fast unversehrt, bis auf den groben Staub darin, und einen Kratzer. Man weiß nie, was einem einfällt in der Not, und dann verdreht sich alles. Früher war mir bei dem Indianer immer Deutschland eingefallen, das war mein Deutschlandindianer, aber nach dem 6. Mai war er mein Erdbebenindianer. Sobald ich ihn sah, fiel mir das Erdbeben ein. Und wie ich vor Staub keine Luft bekam.

Vipern


Die Viper ist eine heimische Giftschlange. Sie findet Unterschlupf in den vielen Hohlräumen und Spalten im Felsen, im Winter kann sie sich tief in das von Hohlräumen durchsetzte Gestein und Erdreich zurückziehen, Tunnel- und Straßenbauer berichten immer wieder von den Knäueln ineinander verschlungener Vipern, auf die sie beim Durchstoßen von Felsmasse getroffen sind.

Die Viper ist der Umgebung gut angepasst und zwischen Felsen und Gestein und auf der Erde schwer zu entdecken. Sie sucht selten den Angriff, ist lärmscheu und stellt sich oft starr wie ein Stock, wenn Menschen in ihre Nähe kommen. Doch wer unachtsam geht, stürzt, stolpert, mit der Hand in schütteres Gebüsch auf steinigem Boden fährt, der schreckt sie auf. Man erkennt die Viper am dreieckigen flachen Kopf. Der Vipernfang ist eine Mutprobe, wird aber nach längerer Übung auch zur begehrten Fertigkeit, mit der man sich Geld verdienen kann. Man muss noch rascher sein als das kleine Tier, blitzschnell und beherzt mit der Hand so nach ihm greifen, dass der Daumen auf dem Nackenansatz zu liegen kommt und der Kopf sich nicht mehr bewegen kann. Der hilflose Körper will sich noch wehren, indem er sich mit großer Kraft peitschend hin und her wirft, aber wenn der Griff um den Kopf fest ist und die Daumenkuppe starr und ohne Zaudern auf dem dünnen Knochen des Schädelansatzes verharrt, kann der Körper nichts mehr ausrichten. Die gefangenen Schlangen werden in eine Flasche gegeben und zum Apotheker getragen, wo sie einiges Geld erbringen. Die Apotheker ziehen das Gift aus dem Zahn und verwenden es zu medizinischen Zwecken. Lebende Vipern werden höher bezahlt als tote.

Mara


Ja, das Erdbeben war ein Ereignis in meinem Leben, das kann ich nie vergessen. Vielleicht ist es das einzige, das mir immer im Gedächtnis bleiben wird, bis an die Stunde meines Todes. Was danach kommt, weiß ja keiner. Ob man sich auch nach dem Tod noch erinnert. Ich war sehr nervös gewesen, den ganzen Abend. Das Licht war am Spätnachmittag so stechend und trotzdem so trüb, als könnte man es greifen, so schmierig. Ich hab geschwitzt beim Aufräumen, und das Hemd hat mir am Rücken geklebt, und ich bin bloß im Unterkleid gewesen, und da, beim Aufräumen war es, wie es angefangen hat. Erst dieser Wind, geheult hat er im Hof, auf einmal, etwas ist draußen umgefallen, und es war mir so kalt, ganz plötzlich. Dann dieser Laut. Dieses dunkle Rollen. Es war so lebendig. Erst hab ich gedacht, der Hund grollt, der war den ganzen Tag so närrisch gewesen, dass ich ihm am liebsten einen Stein an den Kopf geworfen hätte, dabei hab ich ihm sogar den Rest von der Suppe gegeben, als ich fertig mit Essen war. Da kam also das Grollen, ganz ferne erst, oder, nein, nicht ferne, sondern von ganz tief, ich war grade fertig mit Aufräumen, da zitterte der Boden unter meinen Füßen, und eine Dose fiel vom Bord und sprang auf, und die ganze Küche hat nach der Schafgarbe gerochen; der Schlüssel, der Schlüssel, hab ich bei mir gerufen, denn die Mutter war ja noch in der Kammer, und sie war jetzt ganz still. In der Schürze, ist mir eingefallen, und ich hab den Schlüssel aus der Tasche gerissen und bin zur Kammer, da krachte es schon in den Wänden, aber außer dem Grollen und dem Stöhnen in den Wänden war es so still, ich hab die Mutter von der Liege gezerrt, wo sie gesessen ist, und bin mit ihr raus, sie hatte sich den Zopf aufgelöst, und das Haar war schon voller weißem Grus, sie machte ganz kleine Schritte, wie ein Kind, das so tun will, als wäre es ganz fein und eine Prinzessin, dabei war mir, als müsste alles ringsum gleich zusammenstürzen, so ein Lärm war es, aber ein dumpfer Lärm, vielleicht fiel da ja noch nichts, und das kam erst später, und so bin ich aus dem Hof auf den Weg getreten und hab einen Augenblick lang gedacht, jetzt sieht es aus, als führte ich die Mutter zum Brautaltar, und dazu hatte sie ja auch noch diese weißen Sprenkel im Haar. Aber niemand hat uns bemerkt, es hat gekracht, und Leute haben geschrien, und die Hunde haben gebellt, und ich war im Unterkleid, hab ich gemerkt, und die Mutter hatte sich auch...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-77233-3 / 3518772333
ISBN-13 978-3-518-77233-1 / 9783518772331
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