Kleine Philosophie der Welt- und Selbsterkenntnis (eBook)
514 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-2965-5 (ISBN)
Joachim Schaare, geboren 1948, ist Versicherungskaufmann, Medienanalytiker, Autor und Lehrer. Er studierte Deutsch, Geschichte, Sachunterricht und einige Semester Vergleichende Religionswissenschaft. Er publizierte zahlreiche Aufsätze und die Bücher: - Erziehung zur Autonomie. Pädagogik, Psychologie, Philosophie - Von der Illusion zur Realität. Beiträge zu einer Philosophie des Realismus, der Aufklärung und der Lebenskunst - Warum ich Freigeist bleibe. Kleine Philosophie der Dauer und Vergänglichkeit - Mythos, Skepsis und Logos im Zeitalter der Dekadenz. Erster Band: Die "leise Stimme der Vernunft" und realistische Welterfahrung in Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie - Mythos, Skepsis und Logos im Zeitalter der Dekadenz. Zweiter Band: Eine Abrechnung mit dem kranken Zeitgeist - Freigeistiges Brevier. Erster Band. Gedankensplitter, Aphorismen und Epigramme zu Leben, Philosophie und Kulturkritik
ZWEI
Der Waldgang
Wohl wechseln die Argumente, doch ewig unterhält die Dummheit ihr Tribunal. Man wird hinausgeführt, weil man die Götter verachtete, dann weil man ein Dogma nicht anerkannte, dann wieder, weil man gegen eine Theorie verstieß. Es gibt kein großes Wort und keinen edlen Gedanken, in dessen Namen nicht schon Blut vergossen worden ist ….Es ist das natürliche Bestreben der Machthaber, den legalen Widerstand und selbst die Nichtannahme ihrer Ansprüche als verbrecherisch darzustellen, und diese Absicht bildet besondere Zweige der Gewaltanwendung und ihrer Propaganda aus.
Ernst Jünger
Ernst Jünger war ein gläubiger Mensch. Nicht primär der Erkenntnis war das Werk abgewonnen, sondern dem Glauben. Er will nicht zersetzen, sondern schaffen, nicht theoretisieren, sondern fruchtbar sein. Geist sei nicht erworben, sondern »Mitgift des Lebens«. Dies soll den Dichter unanfechtbar machen, als einen über der »Realität schwebenden Seher und Künder«; Arnold (1990) sagt dazu: »Dass damit die Abweisung des Intellekts, die Unterordnung der Wissenschaft unter die Erkenntnisprospektion des Geistes einhergehen, versteht sich. Der Intellekt, das ist der ›ungebundene‹ Geist – ohne Bindung an Blut und Erde« (S. 24 f.). Kultur werde zur Zivilisation, Schicksalsgemeinschaften zu zufälligen Zusammenwürfelungen von Menschen, zu Massen, Vaterländer zu Verkehrshindernissen. Der Verstand sei alles, der Charakter gelte nichts, Kunst werde zur Beliebigkeit ohne Bodenständigkeit, ohne blutmäßige Kraft, ohne Eigenart. Umwege und Irrwege sein seiner Autorschaft fremd. Jünger beschreibt – indem er eine oppositionelle Haltung gegenüber den Siegermächten einnimmt – den Anbruch eines totalitären Zeitalters, wobei er kaum zwischen Sowjet-Kommunismus, nationalsozialistischer Herrschaft und der westlichen democracy zu unterscheiden scheint. Je älter er wurde, desto mehr setzte er auf Solitäre, auf den großen Einzelnen.
Jünger verabschiedet sich damit auch von der Sphäre des Politischen, weil er als Anarch, als Waldgänger keine offene Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner mehr suchte. Jenseits von westlicher und östlicher Ideologie geht Jünger seinen Weg, der nur der Weg eines Einzelnen sein konnte. In der 1960 erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke bei Klett »entschärfte« Jünger seine Intentionen, was bei Armin Mohler zur Empörung und schließlich zum Bruch mit Ernst Jünger führte (vergl. Maass S. 106 ff.).
Jünger ist eine vielfältig schillernde Persönlichkeit, ein Autor der Widersprüche. Er war Fremdenlegionär, Stoßtruppführer der kaiserlichen Armee, Besatzungsoffizier in Frankreich, LSD-Experimentator, Käfersammler, Sprachforscher, Büchersammler, Weltreisender, Familienvater und Übersetzer. Sein Weg führte vielfach nach innen, führte zu schmerzhafter Selbsterkenntnis, zur christlichen und gnostischen Religiosität (Konnitzer).
In seinem Essay »Der Waldgang« heißt es: »Im Waldgang betrachten wir die Freiheit des Einzelnen in dieser Welt. Dann ist auch die Schwierigkeit, ja das Verdienst zu schildern, das darin liegt, in dieser Welt ein Einzelner zu sein. . Dass sie sich, und zwar notwendig, verändert hat und noch verändert, wird nicht bestritten, doch damit verändert sich auch die Freiheit, zwar nicht in ihrem Wesen, wohl aber in der Form. Wir leben im Zeitalter des Arbeiters … Der Waldgang schafft innerhalb dieser Ordnung die Bewegung, die sie von den zoologischen Gebilden trennt. Er ist weder ein liberaler noch ein romantischer Akt, sondern der Spielraum kleiner Eliten, die sowohl wissen, was die Zeit verlangt, als auch noch etwas mehr« (Jünger, S. 307)
Und an anderer Stelle sagt Jünger: »Waldgänger aber nennen wir jenen, der, durch den großen Prozess vereinzelt und heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht. Das könnte das Schicksal vieler, ja aller sein – es muss also noch eine Bestimmung hinzukommen. Diese liegt darin, dass der Waldgänger Widerstand zu leisten entschlossen ist und den, vielleicht aussichtslosen, Kampf zu führen gedenkt. Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, dass er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt« (S. 317). Angesichts der Diktaturen im 20. Jahrhundert, vor deren Vertretern »Millionen« zittern und deren Leben von den »Entschlüssen« der Mächtigen »Millionen« abhängen, ist der Waldgang vonnöten. »All diese Enteignungen, Abwertungen, Gleichschaltungen, Liquidationen, Rationalisierungen, Sozialisierungen, Elektrifizierungen, Flurbereinigungen, Aufteilungen und Pulverisierungen setzen weder Bildung noch Charakter voraus, die beide den Automatismus eher schädigen. Wo daher in der Werkstättenlandschaft auf die Macht geboten wird, erhält derjenige den Zuschlag, in dem sich das Bedeutungslose durch starken Willen überhöht« (S. 311). »Die ausweglose Umstellung des Menschen ist seit langem vorbereitet, und zwar durch Theorien, die eine logische und lückenlose Welterklärung anstreben und mit der technischen Entwicklung Hand in Hand gehen. Es kommt zunächst zur rationalen, sodann auch zur gesellschaftlichen Umkreisung des Gegners, dem schließt sich zu gegebener Stunde die Ausrottung an. Es gibt kein hoffnungsloseres Schicksal als in einen solchen Ablauf zu geraten, in dem das Recht zur Waffe geworden ist« (S. 313).
Der Waldgänger und der Anarch sind die Jüngerschen Leitbilder; es sind unabhängige Einzelne, die ihre Freiheit gegen den »Konformitätsdruck«, gegen die totalitären Tendenzen jedes Regimes, gegen die »Massenmeinung« trotz eigener Gefährdung bewahren. Das ist eine zeitüberdauernde Aufgabe, da auch in Gegenwart und Zukunft solche Gefahren lauern. Hartmut Sommer stellt dazu fest, dass solch ein Leitfaden wie der 1951 erschienene »Waldgang« den Widerstand in »feinmaschig überwachten Gesellschaften« notwendig werde, da er zugleich eine Überwindung des Nihilismus, gegen Vernutzung und Missbrauch darstelle. »Der ›Wald‹ ist das Bewusstsein der eigenen substantiellen Freiheit, die im Wissen um den ›unverletzlichen Kern‹ im Menschen gegründet ist, im Wissen um die Unzerstörbarkeit der Seele …« (S. 188). Aber Jünger jagt mit jener »Unsterblichkeit« und seinen christlichen Glaubenssätzen Phantomen und Phantasien nach; aber dennoch wird er als großer Schriftsteller eine realistische und menschliche »Unsterblichkeit« in seinen Werken, im Denken all jener finden, die ihn gekannt oder studiert haben, denn es gibt zeitlebens einen unzerstörbaren Lebenskern im Menschen, der sich erst im Widerstand gegen die Mächte stählen kann. Heimat, Friede und Sicherheit strömen den Menschen gewiss nicht aus jenseitigen Quellen zu, sondern aus seinem stoischen Beharrungsvermögen und jenen Einwurzelungen, die der Wald symbolisiert. Das Handeln des Waldgängers orientiert sich so gesehen an überzeitlichen Werten; und indem er die »Quellen der Sittlichkeit« auslotet, wird er fähig zu Aktionen sein, die Ausdruck der Freiheit sind und deren »Vorbildwirkung« auch »stärkste Machtapparate« erschüttern kann.
Jünger antwortete 1985 Julien Hervier auf die Frage, wie er zu den Nationalsozialisten gestanden habe: »Natürlich war eine Reihe von sehr guten Gedanken da, deshalb hatten sie ja auch den großen Zulauf. Zum Beispiel, dass sie die Folgen des Versailler Vertrages weitgehend rückgängig machen wollten, das leuchtete mir natürlich ein. Aber die Art und Weise der Ausführung, die hat mich eben zunehmend befremdet, und eigentlich der wirkliche Abstand, den habe ich erst nach dieser Kristallnacht gewonnen. Das waren Dinge, die mir also von Grund auf widersprachen, und das hat auch eine der Ursachen gegeben zu meiner Konzeption von ›Auf den Marmorklippen‹. Da habe ich ja diese Verhältnisse, natürlich auch in mythischer Weise, sehr genau geschildert, und die Betreffenden, die fühlten sich ja dann auch betroffen, sofort« (Arnold 1990, S. 29). Gemeint waren hier Goebbels und Göring. Jünger bewies – wie stets – großen Mut und Weitblick, er schrieb sich beinahe um Kopf und Kragen, denn Staatlichkeit, egal unter welchem Regime, so sieht es Jünger, bedeutet immer eine fortschreitende Beschneidung und Vereinnahmung des Individuums. Ausspähung, Geheimterror und die Existenz von Lagern sind warnende Hinweise aller Freiheitsbeschränkungen des Einzelnen und des Volkes. Seine Maxime, die er lebte, heißt gemäß den französischen Moralisten: »Vorsatz: mäßig leben. Ein Auge für den Unglücklichen. Würdiges Verhalten« (Meyer, S. 412). »Der Waldgang soll eine historisch wirkungsreiche Entfremdung wenn nicht rückgängig machen, so doch abmildern. Es ist nicht Zufall, dass...
Erscheint lt. Verlag | 2.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7557-2965-2 / 3755729652 |
ISBN-13 | 978-3-7557-2965-5 / 9783755729655 |
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