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Die wilde Wut des Wellensittichs (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-501-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die wilde Wut des Wellensittichs -  Peter Probst
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So witzig wie liebevoll erzählt Peter Probst von einer Generation im Aufbruch, die sich mit dem, was sie vorfindet, nicht mehr abfinden will, und zeichnet ein Sittenbild der bundesdeutschen Gesellschaft der 70er-Jahre, so fern und doch so nah. Wir müssen hier raus, das ist die Hölle. Wir leben im Zuchthaus. Wir sind geboren, um frei zu sein - der Song von Ton Steine Scherben bringt Peter Gillitzers Lebensgefühl auf den Punkt. Sein Vater verbietet ihm alle Freiheiten, es sei denn, sie finden unter Aufsicht oder in der Pfarrgemeinde statt. Peter würde sein konservatives Elternhaus am liebsten sofort verlassen, aber er ist zu jung. Und wo findet das freie Leben wirklich statt? In einer Kommune in Gräfelfing vielleicht, die er heimlich besucht? Zum Glück lernt er ein Mädchen kennen, das sich nicht einmal daran stört, dass er einen unsichtbaren Freund an seiner Seite hat: Peter Gabriel, den exzentrischen Sänger der Band Genesis. Die wilde Wut des Wellensittichs erzählt mit scharfem Blick für Situationskomik und hinreißenden Dialogen vom Erwachsenwerden, von den Höhen und Tiefen, von Selbstbehauptung und Niederlagen, vom Einbruch der Politik in das private Leben, vor allem aber von der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, die so, wie sie ist, nicht bleiben kann.

Peter Probst, geboren 1957 in München, studierte Deutsche und Italienische Literatur und Katholische Theologie. Früh begann er mit dem Schreiben von Drehbüchern, u.a. für den Tatort. Für seine Fernsehspiele erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Bei dem Sachbuch Verliebt, verlobt ... verrückt? arbeitete er mit seiner Frau Amelie Fried zusammen, mit der er in München lebt. Zuletzt erschien der Roman Wie ich den Sex erfand (2020).

Peter Probst, geboren 1957 in München, studierte Deutsche und Italienische Literatur und Katholische Theologie. Früh begann er mit dem Schreiben von Drehbüchern, u.a. für den Tatort. Für seine Fernsehspiele erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Bei dem Sachbuch Verliebt, verlobt … verrückt? arbeitete er mit seiner Frau Amelie Fried zusammen, mit der er in München lebt. Zuletzt erschien der Roman Wie ich den Sex erfand (2020).

1


Die Rechnung klang einleuchtend. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich jeder der fünf Musiker nach dem Auftritt zehn Groupies angeln sollte, würde für uns vier Münchner bei geschätzt fünfhundert Zuschauerinnen eine gigantische Auswahl übrig bleiben. Sonst wären wir nie zu einem Konzert der Bay City Rollers gegangen, die den Fotos in der Bravo nach zu schließen fast ausschließlich weibliche Fans hatten.

Ich war in den Osterferien mit meinen Klassenkameraden Markus und Hans-Jürgen zu einem Sprachaufenthalt ins britische Seebad Worthing geschickt worden. Holger, der schon fast siebzehn war und in die Klasse über uns ging, hatten meine Eltern beauftragt, während meines ersten unbegleiteten Auslandsaufenthalts auf mich aufzupassen – ausgerechnet ihn.

»That’s your big chance, Gillitzer, do you understand?«, hatte er beim Ticketkauf gesagt. »Wenn nichts mit einem Roller läuft, werden die Mädels sich auf dich stürzen und, heißgetanzt wie sie sind, sofort Sex haben wollen.«

Ich hatte zwar Sorge, bei einem solchen Ansturm den Überblick zu verlieren und aus Versehen mit einer Engländerin am Strand zu landen, die mir nicht gefiel, oder mit mehreren, die sich nicht einigen konnten, wer mich kriegte, und mich in Stücke rissen. Trotzdem hatte ich keinen Moment gezögert, mich meinen Freunden anzuschließen, denn der Southern Pavilion am Ende der Landungsbrücke war eine Kirche der Rockmusik. Hier hatten schon Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, The Who, Janis Joplin und Genesis gespielt.

Genesis mit Peter Gabriel als kreativem Kopf und Frontmann!

Nachdem meine Liebe zu Franz Josef Strauß in letzter Zeit deutlich abgekühlt war, war Gäib, wie ich ihn nannte, wenn ich mit ihm allein war, mein neuer heimlicher Gesprächspartner geworden.

Peter Gabriel. Ich hielt es für keinen Zufall, dass er genauso hieß wie der Erzengel Gabriel, der Maria verkündet hatte, dass sie vom Heiligen Geist schwanger geworden war. Unser Klassenlehrer, Herr Habermann, der uns in Deutsch und katholischer Religionslehre unterrichtete, hatte Gabriel als Engel des Wachstums, der Wiederauferstehung und der Visionen bezeichnet. Allein deswegen konnte ich mir keinen besseren Ratgeber vorstellen als Gäib.

Eingequetscht zwischen fünfhundert Mädchen kämpften wir uns über das Promenadendeck voran, da fing mein Herz plötzlich wild zu pochen an. Es gab keinen anderen Zugang zum Pavilion, also musste auch Peter Gabriel über diese Planken zu seinem Konzert geschritten sein. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um das Holz zu berühren oder sogar zu küssen, aber dann hätten mich die schon ziemlich aufgekratzten Engländerinnen niedergetrampelt und es wäre wieder mal nichts mit dem Sex geworden.

Seit meinem ersten Mal vor eineinhalb Jahren war auf diesem Feld nichts mehr passiert. Hetti hatte mich zwar von meiner lästigen Unschuld befreit, aber mir schon bald danach gestanden, dass sie erfahrenere Partner bevorzugte. Bei meinen folgenden Anbahnungsversuchen stellte ich mich eher ungeschickt an. Ich schrieb für Mädchen, die sich einen Rocker wünschten, Gedichte und spielte vor denen, die auf Kuschelsex standen, den bösen Buben. Es war, als wolle etwas in mir verhindern, dass meine mich ununterbrochen heimsuchenden erotischen Fantasien Wirklichkeit wurden.

»Magst du nicht ausnahmsweise dein blödes Käppi absetzen?«, sagte Markus, der als Sohn einer SPD-Stadträtin sonst eher kein Spießer war.

Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Das schwarze Käppi, in das rundum zierliche Edelweiße und Enziane und vorne das Wort Sustenpass und das Schweizer Wappen eingestickt waren, war mein Markenzeichen.

»Du willst doch auch mal eine richtig knallen, oder?«, hatte Gäib eines Nachts zu mir gesagt. Er stand in einem schwarz glitzernden Umhang gehüllt vor meinem Bett. Sein Gesicht war weiß geschminkt, die Augen mit Kajalstift umrandet.

»Na ja, knallen …«

»Dann halt rammeln oder bumsen.«

Gäib war eigentlich überhaupt nicht vulgär, er wählte diese Sprache nur, um die meist aus Arbeiterfamilien stammenden Musikerkollegen seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund nicht spüren zu lassen. Ich erklärte ihm, dass er bei einem Arztsohn wie mir keine derartige Rücksicht nehmen müsse, und wir hatten uns auf »vögeln« geeinigt.

Mal richtig vögeln wollte ich tatsächlich mit jedem Tag dringender trotz der Stolpersteine, die ich mir selbst in den Weg legte.

»Dann musst du erst mal was an deinem Styling verbessern, Pete«, hatte Gäib gesagt.

»Wieso an meinem Styling?«

Was war schlecht an meiner ausgefransten Jeans mit dem mit Kuli aufgemalten Peace-Zeichen? Oder an meiner weinroten Cordjacke mit dem von unserer Hausangestellten Hertha auf den Ärmel genähten Regenbogen?

»Das reicht nicht, wenn du dich von der grauen Masse abheben willst. Die Girls müssen auf den ersten Blick checken, dass du nicht nur ganz okay, sondern exceptional bist.«

»Na ja, exceps …«

»Nimm dir ein Beispiel an mir.«

Ich kannte Fotos von Genesis-Konzerten, bei denen Peter Gabriel im roten Kostüm mit einer Fuchsmaske, mit Fledermausflügeln am Kopf oder als Blume aufgetreten war. Aber dafür war der Münchner Westen im Jahr 1974 noch nicht reif. Gäib hatte ja grundsätzlich recht, dass ich mehr aus mir machen sollte, aber dafür musste ich etwas finden, das zu mir, Untermenzing, Pasing und vielleicht sogar zu Allach passte.

Das Sustenpass-Käppi hatte in einem Abfallcontainer neben unserer Einfahrt gelegen. Unsere Nachbarin, Herlinde, hatte endlich einen Mann zum Heiraten gefunden und ausgemistet, bevor sie zu ihm aufs Land zog. Ich fragte sie nicht nach dem ursprünglichen Besitzer des Käppis, weil ich nicht hören wollte, dass sie mal was mit einem Senn gehabt oder in ihrer Funktion als Personalchefin bei der Caritas einen Schweizer eingestellt hatte. Lieber stellte ich mir vor, dass Gäib das Käppi zwischen den verblichenen Ausgaben der Münchner Katholischen Kirchenzeitung und einer Sammlung verstaubter Trockenblumensträuße versteckt hatte.

Für mich.

Noch am Container nahm ich all meinen Mut zusammen, platzierte das Sennen-Käppi auf meinem Scheitel und ging so zur Schule.

Erste Stunde, Geschichte. Der Lehrer, der im Krieg einen Arm verloren hatte, rief in seinem Vortrag über Bismarck mit vibrierender Stimme: »Blut und Eisen! Blut und Eisen!« und lief vor lauter Begeisterung in den Gang zwischen unseren Bänken.

»Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Blut und Eisen.«

Das war das dritte Mal, dachte ich. Da bemerkte er mein Käppi.

»Runter damit, Gillitzer!«

Ich reagierte nicht.

»Bist du schwerhörig?«

Ich seufzte. Einer wie er würde nie begreifen, dass ich exzeptionell war und deswegen ein Zeichen setzen musste.

»Oder ist das …?«

Er begann zu stammeln.

»Du bist doch kein …?«

Er sprach das Wort nicht aus und beschrieb stattdessen mit dem Zeigefinger einen Bogen über seiner Stupsnase, als wäre sie krumm. Ich verstand nicht, was er mit dieser Geste meinte, konnte aber spüren, wie seine Autorität mit jeder Sekunde mehr schrumpfte. Deswegen sagte ich »doch«.

»Aber, gehst du nicht in den katholischen Religionsunterricht beim Kollegen Habermann?«

Ich konnte mir nicht erklären, was das mit der Schweiz zu tun haben sollte, und sagte wieder nur »doch«.

»Eigentlich wurde für solche wie dich doch der Ethikunterricht eingeführt … und für die Ungläubigen natürlich.«

Langsam ging mir sein Gestammel auf die Nerven.

»Ich muss das tragen.«

»Ich weiß schon. Tja.«

Er murmelte noch etwas von »Religionsfreiheit«, zog sich hinter sein Pult zurück und rettete sich mit Bismarck. Begeistert von der magischen Kraft meines Sustenpass-Käppis setzte ich es von diesem Tag an nur noch zum Schlafen ab.

»Ihr müsst unbedingt auf einen High Tea in den Pavilion gehen«, hatte unser Englischlehrer, Herr Bergmüller, uns eingeschärft, »da könnt ihr reinstes, britisches Art déco bewundern. Allein die filigranen Schmiedearbeiten auf der Galerie mit dem Sonnenzeichen und die hohen, bleiverglasten Fenster! Ihr ahnt nicht, wie sehr ich euch beneide. Leider war ich ewig nicht mehr da.«

»Seit dem Krieg...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • Bayern • Coming of Age • Die Wut des Wellensittichs • Erwachsenwerden • katholische Pfarrgemeinde • konservatives Elternhaus • München • Peter Gillizer • Peter Probst • Situationskomik • Wie ich den Sex erfand
ISBN-10 3-95614-501-1 / 3956145011
ISBN-13 978-3-95614-501-8 / 9783956145018
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