Das Buch der Kommentare (eBook)
400 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76965-2 (ISBN)
Zum Anlass seines 90. Geburtstags erscheinend, ist dies vielleicht das persönlichste Buch von Alexander Kluge. Das Buch der Kommentare folgt dem spielerischen Geschwisterkind Zirkus. Kommentar auf dem Fuße, bietet diesem zugleich aber die Stirn, führt den Leser mit bitterem Ernst hinein in den »unruhigen Garten der Seele«.
Ausgangspunkt der Erzählung ist der düstere Advent 2020. Wir erleben eine Karambolage zweier Lebenswelten: Ein Virus drängt sich in unser Leben ein und stellt an unsere Gewohnheiten und unsere Intelligenz hartnäckige Fragen - vertraute Fragen und doch in ganz neuer Beleuchtung: Wie verlässlich sind die obersten Führungsetagen unserer Welt? Wie zerbrechlich ist der Mensch? Was ist ein »Selbst«, ein »Ego« und ein »Ich«? Wie erzählt man von der Nähe? Und welche Rolle spielt dabei die Orientierung: DER KOMMENTAR?
»Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie sind Bergwerke, Katakomben, Brunnen, die stollenartig in die Tiefe graben. Es reizt mich, diese besondere Form der Narration neu zu erproben.« Mit dieser programmatischen Ausdeutung des Begriffs »Kommentar« führt Kluges neues Buch weit zurück in die antike Bibliothek von Alexandria und in die mittelalterliche Scholastik, inspiriert durch die kürzlich erschienene Geschichte der Philosophie von Jürgen Habermas. Zugleich schlägt der Autor, 1932 geboren, den Bogen über die Knotenpunkte des »Langen Jahrhunderts«, das vor seiner Geburt begann und 2022 nicht enden wird. Erzählerisch erfassen die Kommentare unsere unruhige Gegenwart und berühren die Konturen der Zukunft.
<p>Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis,Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.</p> <p>»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«<br /> <em>Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)</em></p>
STATION 1
Die Herausforderung, die vom düsteren Advent 2020 ausgeht
Abb. 1: »Heiligabend 2020«.
Abb. 2: »Ein blassblauer Planet«. Falschfarben.
Blick auf einen seltsamen Dämon, der in keinem Sagenbuch der Antike verzeichnet ist
Das aus der Lungenzelle soeben ausgebrochene Virus zeigte im Elektronenmikroskop ein wüstes Aussehen. Die Virologin sah verblüfft auf das ungestüme Bild. Das Wesen selbst hatte bei seiner Abenteuerfahrt, aber auch bei seinen vielen Teilungen, zahlreiche Fehler in der Weitergabe seines genetischen Codes begangen. Und so hatte das RNA-Stück (man kann nicht sagen »das Tier«), dieses Ding oder »diese Architektur« oder »dieser Alien« oder »diese Mutation«, ein merkwürdiges Aussehen. Fetzen von Zellmaterial der Wirtszelle rings um den früher geometrisch eleganten Körper geschlungen, Eindruck eines Tigermauls, um das herum Reste eines geschlagenen Schafes sich bewegten – so wollte es die Virologin bezeichnen, die einzige Zeugin dieses Moments. An der Stelle der fehlenden Moleküle, die das Virus abgeworfen oder verloren hatte, waren fremde Moleküle in die Hülle buckelartig aufgenommen. Die Proteinhülle hatte sich ausgebuchtet. Kaum noch Ähnlichkeit mit dem Wesen, das ursprünglich in den menschlichen Kreislauf eingewandert war und das noch den Abbildungen in den Lehrbüchern einigermaßen entsprochen hatte.
Von jetzt an waren noch weitere Mutationen im Taktschlag von unter einer Milliardstel Sekunde zu erwarten, die zu unerwarteten Fraktionen von einigen Millionen Individuen binnen kurzer Menschenzeit führen konnten. Das alles sah die Virologin – es war die Abendstunde vor Heiligabend – in ihrem Elektronenmikroskop nicht als Einzelheit, sondern in der Schwemme der inzwischen durch Teilung aus den ursprünglichen Eindringlingen entstandenen Milliardenschwärme. Ein jedes mit zerfetztem Gewebe, fremdem und eigenem, um sich herum, dazwischen die schützende proteinträchtige Haut des Virus, die durch nichts zu besiegen ist außer von kräftiger Seife.
Eigenartiger Sitz einer uns fremden Intelligenz
Viren, sagte die Virologin – und wies zugleich darauf hin, dass der Ausdruck Virus immer, auch im schärfsten Elektronenmikroskop, eine Menge von einigen Millionen, Milliarden oder auch Billionen von Exemplaren, einen Klumpen, bezeichnet –, sind zur Vergesellschaftung verurteilt. Ein einzelnes Individuum seiner Art lebt nicht lange. Seit Jahrmillionen, wie gesagt: als Pulk, sind sie »intelligent«. Obwohl wir von keinem Virenhaufen sagen könnten, dass er irgendeinen »Verstand« hätte, einen »Willen« oder ein »Motiv«. Blindlings mutieren die Viren, wenn sie sich teilen. Sie verkleben hinter sich ihren Arbeitsplatz. Ja, fügte die Forscherin hinzu, man kann nicht einmal genau sagen, wo die Stellen liegen, die in diesen winzigen »Körpern« das Leben enthalten. Winzlinge. Und schließlich entscheidet die Reaktion der Umwelt, in die sie hineingeraten, in der sie Mutationen vollführen – absichtslos, irrtümlich, aus unbändiger Bereitschaft, Fehler zu machen –, über Misserfolg oder Erfolg der Vermehrung: über ihre Vernichtung oder ihr Überleben in gigantischer Größenordnung. Eine Generation ist mit der anderen nicht identisch, steht aber in einem Fortsetzungszusammenhang, so dass man, so die Formulierung der Virologin, von einem kontinuierlichen Faden von bis zu 3,5 Milliarden Jahren Länge reden kann. Man kann sagen: Das sind Zufallsketten. Aber es sind Ketten …
Herausforderung an unsere Landesverteidigung
Die (vorübergehende) Unzähmbarkeit des Virus wirft uns Menschen auf uns selbst zurück. Wir zählen unsere Waffen. Wir verändern unsere Gewohnheiten. »In Abschottung aus Einsicht«. Wir sind lernfähig.
Unsere Bundeswehr ordnet Soldaten ab zum Schutz von Altersheimen. Gegen den Gegner können sie mit ihrer Ausbildung und ihrer Bewaffnung wenig ausrichten. Sie stellen sich geschickt an, gelegentlich auch unbeholfen. Wie »ungelernte Hilfskräfte«. Dem Gegner sind sie mit ihrer Schießkunst unterlegen.
Ein zentrales Problem, so die Virologin Karin Mölling, ist die Lebensweise in Metropolen. Zu den Bedingungen der Krise zählen die Verkehrsströme auf dem Planeten, ein Luxus, der zum Begriff »Kriegszustand« nicht passt. Pandemien erfordern eine dezentrale Lebensweise. Für den Fall eines kriegerischen Konflikts, vielleicht unter Einsatz von Atomwaffen oder bisher unbekanntem Kriegsgerät, existieren keine Pläne für die Räumung von Metropolen.
Unentschiedenes Wetter vor und um Weihnachten in Mitteleuropa
Mitte Dezember bewirkt die aufkommende Westströmung des Wetters allmählich einen Wärmeausbruch. Horizonte und Himmel werden feucht über Deutschland. Wir, die wir im November die Wintersachen hervorgeholt und uns winterlich eingekleidet haben, schwitzen am ganzen Körper und stinken in den Achselhöhlen.
Dieses Zögern der Winterzeit im Advent, als käme etwas Überraschendes auf uns zu, führt zu Beklemmungen im Gemüt. Es entsteht eine Zeit der Erwartung entschiedener Kälte. Solche Kälte, die aber meist erst im Januar auftritt, kann in Tagen oder Wochen kalkuliert werden, eine solche artikulierte Wetterperiode endet also mit Gewissheit. Die schlaffe, unentschiedene Witterung Mitte Dezember (vom 24. bis zum 31. Dezember) macht dagegen den Eindruck, sie werde nie enden. Sie legt sich aufs Gemüt wie eine »Schlammperiode des Geistes«. Schlamm ist kein Element. Er ist nicht fest, nicht endlich, nicht hart, nicht unterschieden und nicht entschieden.
Desorientierung unseres Hundes zu Heiligabend
Mein Hund sitzt in Wartestellung. Er erwartet einen Bissen, ein Stück vom »Tisch der Herren«. An sich hat er seine Abendmahlzeit bereits hinter sich: Nassfutter aus Huhn mit Distelöl und Kalb aus der Dose (Mischfutter für Hunde bis zu einer Größe von vier Dezimeter). Das ist jedoch different zu dem, »was von der Herren Tische fällt«. Das Letztere hat den Reiz der Überraschung für den Hund, des Unerwarteten, des Hoheitlichen. Oft bemerke ich, dass der Hund unser Verhalten als einen Irrtum ansieht. Der Irrtum besteht darin, dass er nicht als Mensch, Mitglied der Menschengesellschaft, der er doch ist, von uns wahrgenommen wird. Die Anteilnahme als Familienangehöriger erlebt er nur, wenn es ihm schlecht geht, er seine Pfote verletzt hat. Sonst wird ihm die Teilhabe vorenthalten. Er sitzt nicht auf einem Stuhl mit am Tisch. All das beruht auf Missverständnis.
Demzufolge erhält er zu Heiligabend nur ein winziges Stück von den Tellern, von denen die Erwachsenen essen. Nervös sitzt er unter dem Tisch, sichtlich enttäuscht, ja gedemütigt. Für ihn hält dieses Weihnachtsfest, durch das Virus beschädigt und beschränkt, nur Irritationen bereit. Personen anwesend, die er nicht kennt. Ein Brocken Rindfleisch, und er wäre mit Jesus versöhnt. Er kennt keinen Hund mit Nachnamen Christus. Man nimmt den Geruch vom Hintern ab als Hund. Ein Geisteswesen von vor mehr als 2000 Jahren hat keinen Geruch irgendwelcher Art.
Die Ausräumung überflüssiger Feiertage in einer Situation des Deutschen Reiches, welche die Anspannung aller Kräfte erfordert / Vertrauliche Informationen direkt aus einer Teestunde des Führers
Im Restaurant Horcher gestern legte Ministerialrat Berndt aus dem Reichspropagandaministerium – er gehört dort zum engsten Stabe von Goebbels – die Gedanken des Führers dar zum Weihnachtsfest 1942. Sobald irgendwie Zeit sei, habe der Führer in einer Teestunde gesagt, werde sich die Reichsführung der Kirchenfrage zuwenden. Dem Unfug der kirchlichen Feiertage (vor allem deren Häufung zum Jahreswechsel) müsse ein Ende gemacht werden. Bismarck habe mit seiner Wendung gegen die Machenschaften des Vatikans auf Reichsgebiet nur halbe Arbeit geleistet. Da erstarrt die Front im Osten zu Eis. Der Feind bedroht unsere Stellung in Nordafrika....
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bibliothek von Alexandria • Christentum • Desorientierung • Ego • Engel • Europa • Fragmentierung • Gegenwart • Gespenster • Journalist des Jahres 2016 • Jürgen Habermas • Klopstock-Preis 2019 • Mortier Award 2021 • Narration • neues Buch • Scholastik • Selbst • Virus |
ISBN-10 | 3-518-76965-0 / 3518769650 |
ISBN-13 | 978-3-518-76965-2 / 9783518769652 |
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