Die Schritte der Nemesis
In den 1910er Jahren forderte der russische Theaterregisseur und -theoretiker Nikolaj Evreinov (1879-1953) die Theatralisierung des Lebens. Als Stalin zwanzig Jahre später in Moskau drei politische Schauprozesse mit viel Aufwand inszenieren ließ, saß Evreinov bereits im Pariser Exil. Er hatte Russland 1924 verlassen. Nun liest er akribisch die Protokolle der Prozesse in der russischsprachigen Presse, sammelt Material über Nikolaj Bucharin und die anderen Angeklagten, berät sich mit Experten und schreibt schliesslich ein Stück, seine Antwort auf die Inszenierung einer Justizfarce. Mit dieser Antwort wollte er womöglich auch seine Idee von der Theatralisierung des Lebens rehabilitieren. Denn Theatralisierung des Lebens bedeutet nicht, falsche Geständnisse aufzuführen, Verschwörungen zu konstruieren, Fakten zu fabrizieren oder gedungene Zeugen zu casten. Evreinov ging es in seiner Theatertheorie darum, das Theater des Lebens nicht unsichtbar zu machen. Sein Stück ist deshalb keine historische Rekonstruktion, sondern ein imaginärer Blick hinter die Kulissen, bei dem die verantwortlichen politischen Drahtzieher am Ende das eigentliche Verbrechen gestehen: das Theater.
Nikolaj Evreinov (1879–1953), Theatertheoretiker, Regisseur und Dramatiker, der mit seinen Theorien zur »natürlichen« Theatralität des Menschen, zum »Theater als solchen« und zum »Theater für sich« bekannt wurde. Seine Theaterstücke, u.a. Monodramen und Stücke, die seine Idee der Theatertherapie aufführten, waren ästhetisch eher konventionell. Mit Wiederholung bzw. Reenactment beschäftigte sich Evreinov bereits in dem von ihm mitbegründeten Starinnyj Theater (Altertümliches Theater), wo er historische Aufführungen rekonstruierte und reinszenierte. Auch nach seiner Emigration nach Paris (1924) verfolgte er die Theatralisierung der Sowjetunion und schrieb u.a. ein Stück über die Schauprozesse, Die Schritte der Nemesis (Šagi nemezidy), das diese als Theater reinszeniert. Beim Sturm auf den Winterpalast war Evreinov Chefregisseur und wurde dafür von der Militärverwaltung »abkommandiert«.
Sylvia Sasse ist Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Sie ist Mitbegründerin des ZKK (Zentrum für Künste und Kulturtheorie), Mitglied des ZGW (Zentrum Geschichte des Wissens) und Mitherausgeberin von »Geschichte der Gegenwart« (www.geschichtedergegenwart.ch).
Gleb J. Albert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Zürich und assoziiertes Mitglied am Zentrum »Geschichte des Wissens«. Er hat zur Geschichte der frühen Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung gearbeitet und forscht aktuell im Rahmen der DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis zur Geschichte der globalen Softwarepiraten- und »Cracker«-Szene der achtziger und frühen neunziger Jahre.
7 - 10 Statt eines Vorworts (Sylvia Sasse)11 - 184 Die Schritte der Nemesis (Nikolaj Evreinov)185 - 208 Das Gestehen des Theaters. Nikolaj Evreinovs 'Uminszenierung' der Moskauer Schauprozesse (Sylvia Sasse)209 - 232 Evreinovs Archiv (Gleb J. Albert)
Erscheinungsdatum | 02.05.2022 |
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Reihe/Serie | DENKT KUNST |
Übersetzer | Regine Kühn |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Maße | 118 x 190 mm |
Gewicht | 280 g |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Gerichtsprozess • Performativität • Politik • Reenactment • Revolution • Theater • Verbrechen • Widerstand |
ISBN-10 | 3-0358-0514-8 / 3035805148 |
ISBN-13 | 978-3-0358-0514-7 / 9783035805147 |
Zustand | Neuware |
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