Der makedonische Offizier (eBook)
140 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76967-6 (ISBN)
Im geheimen Auftrag Alexanders des Großen lebt er seit einigen Jahren in einem fernen asiatischen Reich. Es erstreckt sich in einem gewaltigen blauen Tal, eingeschlossen von einem »Himmelsgebirge«, dessen Wände »undurchdringlich sind für den Wind und für die Freiheit«. Statt das Bewässerungsprojekt für den dortigen Despoten durchzuführen, bereitet er einen Aufstand gegen ihn vor.
Andrej Platonow, 1899 in Woronesch geboren, begann mit 14 Jahren zu arbeiten, absolvierte später das Eisenbahnertechnikum und war in den 20er Jahren als Ingenieur für Bewässerungstechnik und Elektrifizierung tätig. Seit 1918 publizierte er Lyrik, Erzählungen und journalistische Arbeiten. Seine Hauptwerke, Tschewengur (1926) und Die Baugrube (1930), konnten nicht erscheinen. Platonow starb 1951. Erst in den 80er Jahren setzte seine Wiederentdeckung ein.
»Nicht zur Veröffentlichung bestimmt«, heißt es in einer Akte des sowjetischen Geheimdiensts über Andrej Platonow und sein Romanprojekt »Der makedonische Offizier«. Zwischen 1932 und 1936 entstanden, blieb es Fragment und wurde erst Mitte der neunziger Jahre in Russland veröffentlicht. Der dichte Text enthält nicht nur die schärfste Kritik an Stalin, die Platonow jemals formulierte, sondern auch seine Vorahnung einer von Menschen verursachten globalen Katastrophe.«
7Der makedonische Offizier
Roman aus einem längst vergangenen Leben
In alter Zeit war Asien dicht bevölkert; lebendiges Grün bedeckte seine Fluren bis hin zu den Bergen und den Ufern ferner Meere, und die in Asien siedelnde Menschheit empfand sich ebenso als Avantgarde der Natur wie die Menschen späterer Jahrhunderte.
Über die Straßen, festgestampft vom Gewicht der Tiere und Reisenden, zogen überall Menschen dahin zwischen Städten, die mitunter solche Ausmaße annahmen, dass die Wege zwischen ihnen nur sehr kurz waren und ein Kamel sie in einem halben Tag zurücklegen konnte. Wenn ein freier neugieriger Mensch auf einen Berg hinaufstieg, so mochte es ihm von dort aus scheinen, dass das Leben in Asien sorglos und glücklich sei – derart üppig blühten die Pflanzen, derart eifrig reiften die Früchte, und die Menschen waren unterwegs mit der Beschwingtheit wahrhaftigen Lebens, gehüllt in dichte, farbige Gewänder, die Anmut und Kraft des Körpers vor den toten Strahlen des Mondes schützten; das Mondlicht, so glaubte man damals, trifft am Himmel auf die Strahlen der Sonne, und die Sonnenkraft tötet die Mondstrahlen und bringt sie tot von oben in die Herzen der Menschen herab – und macht sie traurig oder wahnsinnig.
Der freie Mann, der auf einem Berg des Himmelsgebirges stand, welches das gewaltige blaue Tal des asiatischen 8Reiches umschloss, stammte selbst aus einem weit entfernten Land. Vor mehr als dreißig Jahren wurde er in der kleinen griechischen Republik Megara geboren, und seit vier Jahren schon lebte er hier, auf geheimen Befehl des Königs Alexander von Makedonien. Doch dieser Mann verhehlte seinen Namen nicht und nannte sich vor dem ganzen Volk Kutemalias offen Firs aus Megara.
Firs war seit langem mit seinem Schicksal ausgesöhnt, denn er hatte nie aufgehört, sich über das Leben zu verwundern, obwohl seine Jugend schon hinter ihm lag. Jeder Schrecken des Daseins, der gewöhnlich alle Menschen von Zeit zu Zeit trifft, setzte Firs anfangs in Verwunderung über eine solch sonderbare Fügung der Umstände – die Betrübnis darüber kam erst später.
Der Megarenser betrachtete an jenem Tag lange die, von oben aus gesehen, glückseligen Weiten seiner neuen Heimat. Fast zwanzig Tage braucht ein Fußreisender, um das kutemalensische Land der Länge nach und zehn Tage, um es der Breite nach zu durchmessen. Rings um Kutemalia jedoch – entlang dem dunstigen Rund des Horizonts – steht die tote Armee der hohen Berge, die Himmelsgrenzen bedeckt mit uraltem Schnee, und an ihrem Fuße liegt nebelgleich das geschwächte, rote Licht der Sonne; der Himmel in Kutemalia ist fast immer klar, in seiner Wolkenlosigkeit wirkt er stumm und traurig, obwohl ihn bald das ewige Licht der Sonne, bald das Schimmern der Sterne erfüllt. Von allen Seiten beschirmt das Himmelsgebirge Kutemalia und schützt das Werk von Millionen Kutemalensern vor der feindlichen Welt, die sich im unendlichen Erdenraum hinter den Bergen ausbreitet. Nur 9von zwei Seiten her stehen schmale Wege nach Kutemalia offen – von Südosten und von Nordwesten –, wo der Fluss Tschu in das Land eintritt und wo er es wieder verlässt. Dort erheben sich zwei steinerne Türme, in jedem leben zweitausend Soldaten, die vor zehn Jahren den letzten Angriff eines verirrten Bergvolkes abgewehrt hatten. Seit dieser Zeit waren die Soldaten nicht ausgewechselt worden: Hatte das Heer einmal gesiegt, wurde es in Kutemalia niemals wieder nach Hause entlassen. Wenn aber die Kutemalenser besiegt worden waren, so wurden die unversehrten Soldaten unverzüglich nach Beendigung des Krieges heimgeschickt – als Leichname, in die sie die Garde des Herrschers von Kutemalia verwandelt hatte; die kutemalensische Garde selbst jedoch stellte sich niemals in offener Front einem ausländischen Feind entgegen.
Die kutemalensischen Soldaten, die nur die Wahl hatten zwischen dem lebenslangen steinernen Turm, abgeschieden vom geringsten Lebensglück, und dem ewigen Grab – wenn sie einen Feind auch besiegten, sie taten es gleichgültig und nicht heldenhaft, und viele der Soldaten stürzten sich von ihren Posten in die Bergschluchten hinab, damit die Wehmut in ihnen verstummte und sie die ferne Freiheit nicht mehr spürten, die der warme Wind herwehte und die hinaufdrang mit den vergessenen Geräuschen aus dem kutemalensischen Tal.
[Der Megarenser, ein ehemaliger Offizier des makedonischen Königs, verstand anfangs den Nutzen einer solchen Heeresordnung nicht, und nur]
Der Megarenser suchte oft die Hänge des kleinen Berges Ak-Su auf, der einsam inmitten der Tallandschaft des 10kutemalensischen Reiches liegt. Am Fuße jenes Berges befand sich ein großer Seidenbetrieb, dem ein besonderer königlicher Verwalter vorstand, denn die Regierung Kutemalias hatte eine besondere Leidenschaft für Seidenstoffe und Schönheit, dieser Umstand verwunderte Firs ebenso und er wusste keine Erklärung dafür.
Auf den Seidenplantagen von Kutemalia arbeitete die Perserin Ophria, eine gefangene Sklavin, verdammt zur Arbeit mit den Seidenraupen bis zum Tod. Als der Megarenser einmal in der Umgebung von Sobsa, der Hauptstadt Kutemalias, unterwegs war, hatte er die junge Frau gesehen – sie war so bleich, als wäre sie in einem Land geboren, wo ewig die Mitternacht über dem unbeweglichen Eis steht. Damals fragte Firs diese Frau, deren liebliches Gesicht ihn gleich anzog: was ihr denn so Trauriges widerfahren sei, wo ihr Körper doch voll unverbrauchter Liebe ist, das ganze Leben kann unter Leid verschüttet sein, wenn man es nicht besiegt, sondern sich ihm ergibt?
Die Frau erhob sich.
»Sieh, wie ich gehe«, sagte sie. »In der Heimat besaß ich die Freiheit, ich war eine Bürgerin, ich konnte nachdenken über ferne Dinge und liebte einen Philosophen. Aber jetzt bin ich eine Sklavin und die Liebe ist in mich eingeschnürt und eingeknotet – sieh nur, edler Mann!« – die Frau hob ihr Gewand, und Firs erblickte Seidenbänder, die das Organ der Liebe fest verschlossen und mit mehrfachen, geheimen Knoten über dem Schoß und auf dem Bauch verschnürt waren; diese Knoten wurden, wie der Megarenser erfuhr, von einer eigens dafür bestimmten Alten geknüpft – man konnte sie nur zerschneiden oder ver11heddern, aber nicht aufknüpfen und genauso wieder verknoten. Firs kam eine solche Bewahrung der Keuschheit sonderbar vor, er irrte sich aber – es war keine Sorge um die Jungfräulichkeit, es war eine gewerbliche Einrichtung: unter den Seidenbändern, die das lebendige Wesen der Liebe in eine Mumie verwandelten, befand sich ein besonderes Säckchen, das tief ins leibliche Geheimnis hineingelegt worden war, und in diesem Säckchen waren Seidenraupen untergebracht, die vermöge der Feuchtigkeit, der Wärme und der Reizung, die von den Bewegungen der Frau herrührten, schnell heranwuchsen und erstarkten – dann krochen sie aus der Umschnürung hervor. In dem Moment wurden die Seidenraupen eingesammelt, und man legte der Frau ein neues Säckchen mit jungen Raupen hinein. Dank dieses Verfahrens trat keine Sterblichkeit auf unter den Raupen, und die Raupen waren wesentlich leistungsfähiger, so dass es der staatlichen Wirtschaft dienlich war, wenn die Frauen die Raupen austrugen.
Als die Perserin anfing zu gehen, empfand Firs Scham, denn ihre Bewegungen waren derart leidenschaftlich und anstößig, als wolle sie unverzüglich Liebe.
»Warum bist du so bleich?«, fragte der Megarenser. »Hast du etwa mit einer Salbe die persische und kutemalensische Sonne besiegt?«
[»Ich habe die Sonne mit meinem Leid besiegt«, antwortete die Frau. »Ich war dunkel, doch jetzt bin ich bleich.«]
»Ich bin vor Leid bleich geworden, und seitdem erfreut die Sonne mein Gesicht nicht mehr«, sagte die Perserin.
Am selben Tag küsste der Megarenser sie an dem öden Ort, wo sie sich begegnet waren. Die Frau erklärte sich da12mals dazu bereit, ihn zu lieben, nachdem sie erfahren hatte, dass auch Firs zur Hälfte ein Gefangener sei und dem Verlies irgendwo in den Bergen nur deshalb entronnen, weil er Hydrauliker ist, ein Wassergelehrter – in Kutemalia gibt es nicht genügend Wasser.
Seit dieser Zeit treffen sich Firs und die Perserin Ophria zur festgesetzten Stunde und lieben sich, indem sie sich umarmen, ohne die Seidenbänder anzurühren, welche die Jungfräulichkeit und die Seidenraupen bewahren.
...Erscheint lt. Verlag | 13.12.2021 |
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Übersetzer | Michael Leetz |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Angabe fehlt |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alexander der Große • alexander von makedonien • Bewässerung • Despotie • Großer Terror • Industrialisierung • Maxim Gorki • Megara • Ökologie • Russland • Schlüsseltext • Sklavenaufstand • Sowjetunion • Stalinismus • Totalitarismus • Umweltkatastrophe • Zentralasien |
ISBN-10 | 3-518-76967-7 / 3518769677 |
ISBN-13 | 978-3-518-76967-6 / 9783518769676 |
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