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Sensenträume -

Sensenträume (eBook)

Texte aus dem Literaturlabor Leverkusen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
164 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-6348-2 (ISBN)
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Sensenschwingend ziehen die Knechte gegen die Ritter des Bischofs zu Felde, am Vorabend des Ersten Weltkrieges trotzt ein junger Bauer den neumodischen Erntemaschinen. Das Füchschen plant den Aufstand und der König der Sensenschmiede sieht seine Kräfte schwinden, ein Kampftanz endet tragisch und Frau Tödin spricht persönlich auf dem Amt vor... Inspiriert von einer Postkartenausstellung im Industriemuseum Freudenthaler Sensenhammer legen die Autorinnen und Autoren des Literaturlabors Leverkusen 22 messerscharfe Texte vor, die sich um die Sense ranken - ein Werkzeug, aufgeladen mit Tod und Leben und allem, was dazwischen liegt.

Der Sensenkönig


Da saß er nun und schaute auf das Sensenblatt. In seinem weißen Hemd. Das war der Wunsch des Fotografen gewesen, wegen des Lichts. Seit einer Stunde wartete er darauf, dass sie endlich das Foto schießen könnten, aber so lange schon kletterte der Fotograf als Herr Schnittke hatte er sich vorgestellt im Anzug die Leiter hinauf und herunter, immer an einem anderen Ort, um den richtigen Lichtwinkel und eine Befestigung für die starke Lampe zu finden.

Anscheinend war er jetzt fertig. Wie ein Mondstrahl fiel das Licht von oben auf die Sensenblätter herunter, die als Antwort aufgleißten. Die hatte er gestern noch gebreitet, unter dem Schwanzhammer, sie trugen alle seine Handschrift.

Eigentlich sollte er jetzt in der Kirche sitzen, in seinem Sonntagshemd. Doch die Werkstatt war feierlich still und vertraut wie die Kirche. Staubteilchen tanzten schwerelos in dem langen Lichtstrahl. An anderen Tagen hieb der Schwanzhammer mit seinem harten, blinden Schlag auf das Metall, pochend wie der Herzschlag eines großen Tieres. Ohrenbetäubend und übermächtig.

Diese wunderbare Stille, die jetzt die Werkstatt anfüllte, gab es nur in dem kurzen Moment, bevor er die Maschine morgens anschaltete, und am Abend, wenn sie endlich Ruhe gab. Dieser stille Augenblick war nur der Übergang zur Arbeit, er bemerkte ihn sonst nie. Ja, was machte er eigentlich hier in dieser ausgedehnten Ruhe? Er sollte bei seiner Frau und seiner Tochter sein, in der Kirche.

Aber der Fabrikant hatte ihn gebeten, ihn, den König der Sensenschmiede, den besten Breiter hier und auch weiter, ihn hatte er gebeten, sich mit seinen Sensenblättern fotografieren zu lassen. Wofür? Na, für den Absatz. Nicht für seine Schmiede oder die Fabrik des Unterneh mers, nein, sondern für den Laden, der ihrer beider Werkstücke in der Stadt vertrieb. Das machte ihn wütend. Warum von dem Gewinn abgeben an Leute, die keinen Hammerschlag an der Sichel getan hatten? Nur weil die in der Stadt saßen und sie nicht? Weil man eine Sensenschmiede nun mal nicht in einer Stadt betreiben konnte? »Schmarotzer«, schimpfte er innerlich und sah von seinen glänzenden Schuhen zu dem schnieken Fotografen hoch, der von der Leiter gestiegen war und ihn anschaute. Aber der sah ihn nicht, das sah er nun wiederum, der sah nur prüfend auf das weiße Hemd mit den Lichtreflexen und die gehämmerten Sicheln, die da lagen wie eine strahlende Monstranz.

Er folgte dem Blick des Fotografen auf die gekrümmten, goldenen Sicheln. Seine Sensenblätter, für ihn waren sie seine Kinder, die Früchte seiner Hände, diese Sensenblätter, die nur er so breiten konnte. Dünn waren sie wie ein Florett, hart wie Damaszenerstahl, so sagte man. Der Degen der Bauern. An dem Rücken, den er stehen ließ an jedem Blatt, an dem konnte man seine Meisterschaft erkennen, an dem scharfen Schlagschatten und an der offenen Rundung, immer der gleichen, die Werkstücke glichen einander wie die Blätter einer Linde. Wie von einem blinden Heiligen geschmiedet, hatte mal ein Laufbursche gesagt. Aber der Sensenrand war nicht geschmiedet, sondern gehämmert, was bedeutend mehr Geschick erforderte. Er streichelte über die Wölbung. Die formten seine Hände immer wie im Traum. Das konnte man niemanden lehren.

Er richtete sich auf. Das Licht glitt über die Rücken der Sicheln am Boden, als wären sie feine Wasseradern.

Der Fotograf, der inzwischen eine Zigarette geraucht hatte, machte sich wieder an seiner Kamera zu schaffen, er solle nur ganz ruhig sitzen bleiben, hatte er ihm gesagt, nachdem er ihm statt der Wippe einen niedrigen Holzstuhl gegeben hatte. Nie saß er hier und saß ruhig.

Er stellt seine Sensenblätter her, mindestens sechs Stück bei jedem Stundenschlag, und wenn es mehr waren, dann feierte er mit einem Bier am Abend. Die Schmiede aus der Fabrik achteten ihn, denn was er konnte, das konnten sie nicht, und das wussten sie. Oft genug hatten sie es ausprobiert und waren gescheitert. Der Eigentümer hatte nie davon abgelassen, ihn anzuwerben, immer wieder hatte er es versucht, vergebens. Doch warum sollte er seine eigene Schmiede aufgeben, wenn seine Sensenblätter besser waren als die, die dort gefertigt wurden?

Er verdiente gut mit ihnen. Sein Häuschen war größer und schmucker als das der anderen, seine Tochter trug Kleider aus der Stadt und ging in dieselbe Schule wie die Tochter des Fabrikanten. Wenn er abends verrußt, erschöpft und dreckig nach Hause kam und sich wusch, sah er mit Freude, wie fein und sauber sie am Esstisch saß und eine Zeitschrift las. Sie gab ihm erst einen Kuss auf die Wange, wenn er gewaschen war.

Er hatte Zeit, also versuchte er sich vorzustellen, wie viele Sensen er im Lauf der dreiunddreißig Jahre, die er jetzt schon Sensenschmied war, gefertigt haben musste. Große Weizenfelder, niedergestreckt mit einer Walze aus blitzenden Sensenblättern, Berghänge, überzogen mit einer Armee von Sensen, Kriege, wo der Tod Ernte hielt mit seinen Sensen, die die Sonne beleuchtete, bevor sie niedergingen … es waren zu viele. Ihm wurde schwindelig.

In jeder seiner Sensen war ein Stückchen von ihm, wie in einem Kind, wie in seiner Tochter. Und so hatte er sich im Laufe der Jahre verteilt über das ganze Land, über die angrenzenden Länder, über den Kontinent, vielleicht sogar übers Meer nach Amerika oder Neuseeland.

Er richtete sich auf und dehnte seine Schultern, die steif geworden waren. Der Fotograf stöhnte. »Bleiben Sie ruhig, wir sind gleich so weit.«

Der König schaute auf, zum Fotografen hin. Diese Leute aus der Stadt! So fremd. Ob das auch eine Kunst war, so einen Fotoapparat zu bedienen? Sicher nicht so, wie eine Sense zu hämmern. Ob der seine Fotos alle wiedererkennen konnte? Ob er feststellen konnte, dass sie von seiner Hand stammten? Er bezweifelte es, aber fragen mochte er nicht.

Seine Tochter wollte Sekretärin werden. Sie würde keinen Schmied heiraten. Das freute ihn für sie. Vielleicht würde sie so einen Fotografen heiraten? Er seufzte und sah, dass der Fotograf seine Haare mit Pomade behandelt hatte. So nervös, so dünn, so leise. Ein Stadtmensch eben. Der würde in der Werkstatt keine Woche überleben.

Er schaute wieder auf das Sensenblatt, das er nun schon lange Zeit mit seiner alten Zange hielt, damit es auch den richtigen Glanz abgäbe. Dabei war es längst fertig. Noch nie hatte er so lange Zeit mit einem seiner Sensenblätter zugebracht, sonst hieß es immer: schnell, weg, weg. Als ob sie ihm aus der Hand sprängen, sobald sie nicht mehr glühten. Und schon war der nächste rotleuchtende Rohling da, vom Laufburschen aus dem Ofen gebracht. Die Feuerhitze blieb bei ihm und die Freude, sie geformt zu haben, zu seinen Sensenblättern, seinen Sprösslingen, auch wenn er nicht genau wusste, wie.

Der Fotograf schraubte immer noch herum und war nicht zufrieden.

Sein Blick senkte sich wieder auf das gleißende Sensenblatt. Er ließ den Lichtstrahl mit einer kleinen Drehung der Hand auf dem Metall tanzen. Eigentlich war er es, der da glänzte, sang und sprang. Das gehämmerte Metall antwortete mit einer sehr feinen Bewegung, die den Glanz in kleine Schwingungen versetzte. So viel Zeit, auf ein Sensenblatt zu schauen. Das goldgehämmerte Metall bebte leise, ganz von allein. Es war wie ein vertrautes Gespräch unter Freunden, ruhig und nahe. Er versank in diesem Zwiegespräch.

Doch plötzlich schreckte er aus seiner Träumerei auf, denn er hatte mit einem Mal wahrgenommen, warum das schimmernde Blatt zitterte. Es bebte nicht von allein in seiner Hand. Nein, seine Hand war es, die zitterte, seine rechte Hand, die das Sensenblatt hielt. Finger, die bebten, seine Finger? Nein, Finger einer fremden Hand, die ihm nicht gehorchte.

Ein eisiger Strahl fuhr in sein Inneres, eine Offenbarung, kalt wie Stahl. Er sah seinen Vater, der deswegen das Sensenhandwerk hatte aufgeben müssen und nur noch Sensen verkaufen konnte, auf Wanderschaft mit den Sensen das ganze Jahr, nicht einmal vorführen hatte er sie mehr können. Jetzt war es also so weit bei ihm. Seine Handschrift auf den Sensenblättern würde verwischen, weil sie so ungenau werden würde, wie die der anderen. Er sah kein Licht mehr vor sich, wie sonst immer, jemand hatte es gelöscht, nur undurchdringliche Dunkelheit starrte ihn an. Ein paar Jahre könnte er sich noch halten. Dann wäre sein Ruf ruiniert. Aber er hatte immer noch mehr Haare als sein Vater zu der Zeit, als die Kraft ihn verließ. War das ein Trost?

Hieß es nicht, man lebte in anderen? Er lebte mehr in Dingen als in anderen Menschen. Er gab den Sensen seine Seele, und die ging mit ihnen auf Wanderschaft. Wohin auch immer sie verkauft wurden, seine Sensen. Aber er konnte immer noch sehen. Alles, was seine Seele sah. Deswegen spuckte er auf jedes Sensenblatt, als Taufe, damit es nie vergaß, wer es zum Leben erweckt hatte.

Seine Frau hatte das nie verstanden. Sie sagte immer: »Du musst doch nicht mehr arbeiten! Setz dich doch zu mir in den Garten, wir haben doch genug.«

Aber er brauchte ein Reich, in dem er König war. Sie hatte das Haus und ihre Tochter. Er das Reich seiner...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7557-6348-6 / 3755763486
ISBN-13 978-3-7557-6348-2 / 9783755763482
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