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Das Flirren der Dinge (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
368 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61276-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Flirren der Dinge -  Raffaella Romagnolo
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Antonio ist auf einem Auge blind - und trotzdem wählt der große Fotograf Alessandro Pavia von allen Kindern im Waisenhaus ausgerechnet ihn als Lehrbuben aus. Er nimmt ihn mit in sein luftiges Atelier über den Dächern von Genua und bringt ihm seine Kunst bei. Im frisch vereinigten Italien gilt es viel festzuhalten. Doch als bei einem Arbeiteraufstand eine junge Hebamme vor Antonios Linse läuft, sieht er mehr als ihre Gestalt. Vielleicht die Zukunft?

Raffaella Romagnolo, geboren 1971 in Casale Monferrato, unterrichtet Geschichte und Italienisch an einem Gymnasium. Seit 2007 schreibt sie auch Romane - mit Erfolg. Sie wurde mehrmals für den Premio Strega nominiert und ihr Roman ?Bella Ciao? wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Raffaella Romagnolo lebt in Rocca Grimalda im Piemont.

Leer gleicht Alessandro Pavias Dachboden einem Exerzierplatz. Seit Tagen packt Antonio in den wenigen freien Momenten zusammen, lädt sich die Sachen auf die Schultern und stapelt sie vier Stockwerke tiefer im dunklen, nicht nur von menschlichen Gerüchen erfüllten Hauseingang. Schimmel, Fisch, Mäusepisse. Dann biegt er bald hier, bald dort, in eine der Gassen ein, liefert die Pakete ab und kassiert den ausgemachten Betrag. Für sich behält er nur das Nötigste. Die zwei Feldbetten, zum Beispiel, die in dem leeren Raum so verloren wirken wie er. Zwei, denn es könnte sein, dass er einen Schlafplatz untervermieten muss. Auch wenn in dem ebenerdigen Loch, in dem er ab morgen Nacht wohnen wird, nicht viel Platz ist. Vico Indoratori, drei Minuten zu Fuß vom Dachboden der Piazza Valoria entfernt, ein Zimmer, drei auf drei Meter, und dahinter noch ein winziges, feuchtes, dunkles Kämmerchen. Mit dem, was er im Augenblick verdient, kann er sich keine hellen Räume leisten. Auch wenn das nicht die Absprache war. Die zwei Feldbetten also, und die zwei Matratzen, die zwei Decken und die zwei Kopfkissen, ein Stuhl, die Waschschüssel mit dem Krug, ein paar abgelegte Kleider, die Uhr, ein Arbeitstisch, eine Kiste mit Glasplatten und der Apparat mit Stativ, der sich auch für das Fotografieren im Freien eignet. Ruménta – Schrott –, nach Meinung des neuen Chefs, der nur Genueser Dialekt mit ihm spricht. Und Antonio hat beschlossen, ›a ruménta‹ nicht wegzuwerfen.

Das Mittagslicht setzt die Scheiben in Brand, der weiße Vorhang bauscht sich kaum. Dahinter erahnt Antonio den Altan, hoch über den Dächern der Stadt. Die Wand ist von den grauen Umrissen der abgebauten und anderswo wieder aufgebauten Regale gezeichnet. Wer hätte sich so viel Platz vorstellen können? Zehn Tage, zehn Tage waren nötig, um auszuräumen, was noch übrig war, nachdem der neue Chef die gesamte Ausrüstung an Säuren und Pulvern, den Vorrat an Kollodium, die Stöße albuminierten Papiers, die tragbare Dunkelkammer, die Becken, die Objektive und fast alle Glasplatten abtransportiert hatte. In den Tagen des Umzugs eilte Antonio die Treppen hinauf und hinunter, beladen wie ein Maulesel. »Gondón! Merdaieu! Galùscio!«, schimpf‌te der Mann derweil. Er haderte mit Pavia, weil der ihn, so fand er, nach Strich und Faden beschissen hatte. Aber ein bisschen haderte er auch mit dem jungen Lehrling. Hatte man je einen einäugigen Fotografen gesehen?

Der neue Chef hat nie in Betracht gezogen, hier herauf umzuziehen. Sein Studio befindet sich zwar an der Piazza Valoria 4, und beim Zensus gilt der Mann als ›Nachfolger‹ des Fotografen Alessandro Pavia, aber in Wirklichkeit liegt die Werkstatt, wo Antonio den Dienst aufgenommen hat, in der Gegend der Strada Nuova, in einem Luxuspalast. Der Nachfolger sagt nicht ›Werkstatt‹, er sagt ›Atelié‹, er sagt: »Bitte sehr, hier meine Karte. Auf der Rückseite findet Ihr den Hinweis auf mein Atelié«, und zieht dabei den Hut, wie es Pavia nie eingefallen wäre. Je mehr Perlenreihen am Halse der Dame, umso tiefer verneigt er sich. Vor dem Vetter zweiten Grades eines Marchese hat Antonio gesehen, wie er dessen Knie mit der Stirn streif‌te.

Auch das Atelié befindet sich in einem Dachboden und geht auf einen Altan hinaus, ganz und gar vergleichbar mit jenem, der Antonios Blick erfüllt. Die gleichen Dächer, das gleiche Gezänk der Möwen, das gleiche Blau. Auf Licht kann man nicht verzichten, wenn man vom Fotografieren lebt. Doch im Unterschied zum Dachboden an der Piazza Valoria erreicht man das Atelié, indem man vier Treppenrampen mit Ausblick aufs Meer hinaufsteigt. Marmor, Handlauf, auf jeder Etage eine Büste oder eine bemalte Vase. »Ihr könnt es nicht verfehlen, es ist die Tür am Ende der Prachttreppe«, sagt er zu den Kundinnen. Bei Sonne schimmert im Marmor eine bläuliche Äderung en pendant mit dem Treppenläufer, der unter dem Schild ATELIER DE PHOTOGRAPHIE endet.

Kurz gesagt, im Vergleich zu dem Dachboden hat das Atelié ein ganz anderes Flair. Das Wartezimmer mit dem Capitonné-Sofa, der glänzende Fußboden, das Aufnahmezimmer mit der Ausstattung und den Kulissen, der Duft nach Bohnerwachs, das Dienstmädchen mit Handschuhen und Spitzenhäubchen, das feine Porzellan, das Schokoladenkännchen, die Bonbonschale. Das Dienstmädchen ist gleichzeitig auch Köchin, Wäscherin, Büglerin und scâdin, das heißt Bettwärmer. Hässlich wie die Sünde, aber verführerische achtzehn Jahre alt, beim Zensus Floriana; im Atelié, Madmuasel Floran. Hintergründe gibt es viele, in lebhaften Farben gemalt und auf bewegliche Staffeleien montiert, Antonio hat die Aufgabe, sie in Ordnung zu halten und den Kundinnen zu zeigen.

»Messié Antuan wird Euch die verschiedenen Möglichkeiten vorführen.«

Zeigen: nicht kommentieren oder beraten.

»Eine Ansicht des Hofs von Versailles würde Euren Teint ins rechte Licht rücken«, empfiehlt derweil der Nachfolger. Oder: »Die Palme würde Euch eine originelle exotische Aura verleihen.«

Messié Antuan trägt bei der Arbeit eine Uniform: Gehrock, Kinnriemen, weiße Handschuhe wie die von Madmuasel Floran, schwarzseidene Binde über dem Auge und Lackschuhe. Ein Totengräber erster Klasse.

»Die römischen Ruinen verlangten eine mise im imperialen Stil, fürchte ich.«

Die Uniform gehört dem Atelié, nicht Messié Antuan. Messié Antuan ist gehalten, sich jeden Abend in der Kabine – u lêugo, dem Abort – umzuziehen, bevor er das Atelié verlässt.

»Der Meerblick würde besser zu Eurer entzückenden Toilette passen.«

Alle fallen darauf herein, dann kommen sie mit Ehemännern, Liebhabern, Nachwuchs wieder, und die Geschäfte gehen glänzend.

Um diese Zeit, zwanzig Minuten vor dem Mittagsläuten und ohne die Unmenge von Zeug, die Antonio ausgeräumt hat, ist der Dachboden an der Piazza Valoria voller Licht. Die Stativkamera ist gar nicht so übel zugerichtet. Pavia benutzte sie selten, nur wenn der Kunde ein anderes Format wünschte als die Visitkarten. Antonio hat den Block repariert, der das Objektiv hält. Die in seinem Besitz verbliebenen Platten sind wenige, aber sie sind perfekt. Und außerdem kann er mit dem Kollodium besser umgehen als der Nachfolger, der, das hat Antonio sofort gemerkt, eine Menge vergeudet.

»Schöner Scherz, diese Scheiße!«, sagt der Junge laut.

Er wird anderswo erwartet und ist schon spät dran, kann sich aber nicht von dem Dachboden trennen. Die Stimme hallt von den kahlen Wänden wider.

»Hört Ihr mich? Schert Euch zum Teufel!«

Nie hat er so mit Pavia gesprochen. Er schließt die Augen, versucht, die Gesichtszüge des Meisters vor sich zu sehen – den struppigen Bart, die flammenden Augen –, aber es fällt ihm schwer. »Hättet Ihr mich nicht mitnehmen können?«, jammert er.

 

September des Vorjahrs. Bei Sonnenuntergang kam Pavia nach Hause, fegte die ewig herumliegenden Sachen vom Stuhl, setzte sich, schleuderte die Stiefel von sich, dann die Socken, begann seine Füße zu massieren und kreuzte schließlich die Fersen auf dem Rand des nächststehenden Feldbetts, die Arme über dem Bauch verschränkt, im Lauf der Jahre aufgebläht wie ein Kissen. »Ich hätte dir den Laden hinterlassen«, sagte er, die Wand, das Fenster zum Altan, den orangefarbenen Himmel, die langen Schatten fixierend. »Das Problem ist, dass ich Geld brauche, und zwar viel, damit ich hier verschwinden kann.«

Antonio schnitt gerade Papier für den Druck zu. Unentschieden, ob er die Petroleumlampe anzünden sollte, hob er den Blick, das Messer in der Hand.

»Der Nachfolger wird dir nicht gefallen. Schon den ganzen Tag schleift er mich durch die Gegend, um Papiere zu unterschreiben. Dann hatte ich noch ein paar Rechnungen zu begleichen. Jedenfalls habe ich dir eine Liste von Läden gemacht, die du meiden sollst. Ich möchte nicht, dass sie sich mit dir anlegen. Geizkrägen. Blutsauger. Der Drogist von Sottoripa ist der Schlimmste von allen. Halte dich von ihm fern. Der geröstete Kaffee drei Lire. Das Ein-Kilo-Päckchen, nicht etwa der ganze Sack. Und der Weinhändler von der Piazza Banchi, dieser Dieb, dieser Hurensohn. Halte dich fern, kapiert? Scheiße, ich spüre meine Füße nicht mehr. Mach nicht so ein Gesicht. Ich hab’s dir doch gesagt: Ich brauche Geld.«

Antonio stand da, mit der Miene dessen, der versteht und doch nicht versteht, das Papiermesser halb erhoben.

»Und tu endlich das Messer weg, du wirst doch einen armen, gehetzten Mann nicht zu Hackfleisch machen wollen.« Pavia lachte, aber er lachte nicht wirklich.

Antonio legte die Klinge weg, als hätte er sich die Finger verbrannt. Er nahm einen Geruch wahr, den er vergessen glaubte, und es traf ihn hart, er musste sich an der Werkbank festhalten. Es roch nach Pammatone, hier, im Dachboden an der Piazza Valoria. Oder besser gesagt, nach dem Zimmer des Vorstehers – die Schlange, das Warten, die Antwort. Enttäuschung. Verlassenheit. »Wohin geht Ihr?«, brachte er mühsam heraus, doch innerlich dachte er: »Ihr verlasst mich?« Innerlich schrie er: »Und ich? UND ICH

Pavia sah ihn immer noch nicht an. Er stand auf und begann, barfuß durchs Zimmer zu gehen. Er wirkte seltsam, so dick auf nackten Füßen, ein schwankender Kegel, der gleich davonrollt. Er wühlte hier und da, bis er fand, was er suchte, einen Sack, verschlossen mit einer durch Metallringe laufenden Kordel. Er fing an, ihn mit Wäsche vollzustopfen, schob auch die Trompete...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2022
Übersetzer Maja Pflug
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Di luce propria
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Adoption • Familie • Fotografie • Fotokunst • Genua • Hebamme • Italien • Italienische Geschichte • Italienische Literatur • Magischer Realismus • Mailand • Patchworkfamilie • Übersinnliches • Vatersuche • Waisenjunge • Zukunft • Zukunftsvisionen
ISBN-10 3-257-61276-1 / 3257612761
ISBN-13 978-3-257-61276-9 / 9783257612769
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