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Freiheit (eBook)

Vier Variationen über Zuwendung und Zwang

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
400 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27367-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freiheit - Maggie Nelson
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Maggie Nelson wirft Fragen auf, die uns dazu auffordern, neu über Freiheit nachzudenken. Nach 'Bluets' und 'Die Argonauten' verknüpft sie erneut gekonnt Philosophie mit radikaler Kritik.
Was es heißen könnte, frei zu sein, beschäftigt Maggie Nelson fast ihr ganzes Leben. Kaum ein anderer Wert ist so eng mit unserer Vorstellung vom Menschsein verbunden. Doch seine Bedeutung entgleitet ihr immer wieder. Handelt es sich um einen andauernden Lebenszustand oder um einen einmaligen Moment, der uns befreien wird? Ist Freiheit unerlässlich für Gerechtigkeit und Wohlergehen?
Maggie Nelson erkundet kontroverse Debatten in der Kunstwelt, das Erbe der sexuellen Befreiung, die schmerzhaften Paradoxien der Sucht und die Unabwendbarkeit der Klimakrise und vollzieht damit selbst eine Praxis der Freiheit. Sie bietet keine einfachen Antworten, sondern wirft Fragen auf, die uns dazu auffordern, neu über Freiheit nachzudenken.

Maggie Nelson, geboren 1973, ist Dichterin, Kritikerin und Essayistin. Sie lehrt an der University of Southern California und lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Für ihr hoch gelobtes Buch Die Argonauten, 2017 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 2020 Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses.

Einleitung


Halt! Stopp, wenn du über Freiheit reden willst


Ich wollte ein Buch über Freiheit schreiben. Spätestens seit das Thema als unerwarteter Subtext in einem Buch von mir über Kunst und Gewalt aufgetaucht war, wollte ich dieses Buch schreiben. Ich hatte damals angefangen, über Gewalt zu schreiben, und dann, zu meiner eigenen Überraschung, festgestellt, dass Freiheit durch die Ritzen drang, Licht und Luft in die stickige Zelle der Gewalt. Als ich schließlich erschöpft von der Gewalt abließ, wandte ich mich der Freiheit direkt zu. Ich fing mit »What is Freedom?« von Hannah Arendt an und begann, Material zu sammeln.

Aber schon bald kam ich wieder vom Weg ab und schrieb ein Buch über Zuwendung.1 Einige meinten, das Buch über Zuwendung sei zugleich eines über die Freiheit — was mir gefiel, weil ich es selbst so empfand. Eine Zeit lang dachte ich, dass ein Buch über Freiheit womöglich gar nicht mehr notwendig wäre — von mir nicht, vielleicht auch von niemand anderem. Gibt es einen ähnlich abgenutzten, ungenauen, ideologisierten Begriff wie »Freiheit«? »Mir war Freiheit früher mal wichtig, aber jetzt geht es mir vor allem um Liebe«, sagte eine Freundin zu mir.2 »Freiheit klingt für mich wie ein korruptes und entleertes Codewort für Krieg, wie ein Exportprodukt, wie etwas, das ein Patriarch ›gewährt‹ oder ›entzieht‹«, schrieb eine andere.3 »Es ist ein weißes Wort«, sagte eine weitere.

Meist sah ich es ähnlich: Warum sollte ich mich nicht einem Wert zuwenden, der weniger umkämpft, dafür aber offensichtlich zeitgemäß und würdig ist, wie etwa Verpflichtung, Hilfsbereitschaft, Zusammenleben, Resilienz, Nachhaltigkeit oder das, was Manolo Callahan als »ungehorsame Gemeinschaftlichkeit« bezeichnet hat?4 Warum nicht anerkennen, dass sich die große Zeit der Freiheit womöglich ihrem Ende zuneigt, dass die anhaltende Obsession mit ihr ein Todestrieb sein könnte? »Deine Freiheit ist mein Tod!«, steht auf den Schildern von Demonstrierenden in Zeiten einer Pandemie; »Deine Gesundheit ist nicht wichtiger als meine Freiheit«, rufen ihnen andere ohne Maske entgegen.5

Und trotzdem konnte ich nicht von ihr lassen.

Ein Teil des Problems liegt im Wort »Freiheit« selbst, dessen Bedeutung keineswegs selbstverständlich oder allgemeingültig ist.6 Tatsächlich funktioniert es eher wie das Wort »Gott«, insofern wir uns bei seiner Verwendung nie sicher sein können, worüber wir überhaupt reden und ob wir über das Gleiche sprechen. (Sprechen wir über negative Freiheit? Über positive Freiheit? Anarchistische Freiheit? Marxistische Freiheit? Abolitionistische Freiheit? Libertarische Freiheit? Die Freiheit weißer Siedler? Die dekoloniale Freiheit? Neoliberale Freiheit? Zapatistische Freiheit? Geistige Freiheit? und so fort). Was alles zu Wittgensteins berühmtem Diktum führt: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Ich musste neulich an diesen Satz denken, als ich auf meinem Uni-Campus an einem Tisch mit einem Transparent vorbeikam, auf dem stand: »Halt! Stopp, wenn du über Freiheit reden willst.« Und ob ich das will!, dachte ich. Also hielt ich an und fragte den jungen weißen Mann, vermutlich Bachelor-Student, über welche Art von Freiheit er reden wolle. Er musterte mich von oben bis unten und sagte dann langsam, mit einem bedrohlichen, aber auch unsicheren Unterton: »Halt die normale alte Freiheit.« Erst da sah ich, dass die Buttons, die er verkaufte, thematisch zu drei Kategorien gehörten: Schutz des ungeborenen Lebens, Hetze gegen links und Recht auf Waffenbesitz.

Dass die Bedeutung eines Worts in seinem Gebrauch liegt, ist, wie Wittgensteins Werk deutlich macht, kein Grund zur Lähmung oder Klage. Es lässt sich vielmehr als Aufforderung verstehen, genau nachzuvollziehen, welches Sprachspiel gespielt wird. Diesen Ansatz verfolgt das vorliegende Buch, in dem »Freiheit« die Rolle eines immer wieder verwendbaren Zugtickets einnimmt, gezeichnet und perforiert von den vielen Bahnhöfen, Händen und Behältnissen, durch die es geht. (Ich borge mir diese Metapher von Wayne Koestenbaum, der damit beschrieb, wie im Werk von Gertrude Stein »ein Wort, oder eine Folge von Wörtern, permutiert, umgestellt wird«. »Was das Wort bedeutet, geht Euch nichts an«, schreibt Koestenbaum, »aber wohin das Wort reist, geht Euch sehr wohl etwas an.«) Denn zu welchen Verwirrungen das Sprechen über Freiheit auch immer führen kann, sie unterscheiden sich ihrem Wesen nach nicht von den Missverständnissen, die wir beim Sprechen über andere Dinge riskieren. Und miteinander sprechen müssen wir, auch oder gerade, wenn wir, wie George Oppen es einmal formuliert hat, »den Worten nicht mehr trauen«.

Eine Krise der Freiheit


Rückblickend scheint mir mein Festhalten an dem Begriff zwei Gründe zu haben.

Der erste wurzelt in meiner schon lange währenden Frustration über die Vereinnahmung des Wortes durch die Rechte (wie am Tisch des jungen Mannes mit seinen Buttons). Diese Vereinnahmung vollzieht sich bereits seit Jahrhunderten: Der Leitspruch »Freiheit für uns, Unterwerfung für euch« ist in den USA so alt wie das Land selbst. Die Rechte hat ihren Einsatz jedoch noch einmal erheblich erhöht nach den 1960er Jahren, in denen »Freiheit«, wie der Historiker Robin D. G. Kelley in Freedom Dreams schreibt, »das Ziel [war], das unser Volk anstrebte; free war ein Verb, ein Akt, ein Wunsch, eine militante Forderung. Ich erinnere mich noch gut an Slogans wie ›Free the land‹, ›Free your mind‹, ›Free South Africa‹, ›Free Angola‹, ›Free Angela Davis‹, ›Free Huey‹«. In nur wenigen brutalen, neoliberalen Jahrzehnten wurde der Schlachtruf der Freiheit, wie er im Mississippi Freedom Summer, in den Freedom Schools, Freedom Riders, der Women’s Liberation und Gay Liberation erklungen war, von Bewegungen wie dem Freedom Caucus, der American Freedom Party, Kapitalismus und Freiheit, Operation Enduring Freedom, dem Religious Freedom Act und dergleichen übernommen. Diese Verschiebung hat politische Philosoph*innen (wie Judith Butler) dazu veranlasst, unsere Zeit als eine »postliberatorische« zu bezeichnen — wobei, wie der Dichter und Philosoph Fred Moten anmerkt, »prä-« genauso treffend wäre.7 So oder so könnte die Debatte darüber, wo wir uns zeitlich im Verhältnis zur Freiheit gerade befinden, als Symptom der von Wendy Brown beschriebenen »Krise der Freiheit« gelesen werden, »in der die verschiedenen antidemokratischen Kräfte unserer Zeit« (die selbst in sogenannten Demokratien gedeihen können) Subjekte hervorgebracht haben — einschließlich derer, die »unter dem Banner ›progressiver Politik‹« agieren —, denen »die Orientierung über den Wert der Freiheit abhandengekommen« zu sein scheint und die zugelassen haben, dass »die Sprache des Widerstands die Leerstelle füllt, die eine umfassendere Praxis der Freiheit hinterlassen hat.«8 Angesichts einer solchen Krise eröffnete das Festhalten am Begriff eine Möglichkeit, sich dieser Ersetzung zu verweigern, die verbliebenen oder durch das Vakuum neu entstandenen Potenziale des Wortes zu prüfen und sich zu behaupten.

Der zweite Grund — der den ersten verkompliziert — ist meine langjährige Skepsis gegenüber der emanzipatorischen Rhetorik vergangener Epochen, insbesondere gegenüber einer, die Befreiung als einmaliges Ereignis oder Ereignishorizont behandelt. Nostalgie gegenüber früheren Vorstellungen von Befreiung — von denen viele auf Mythologien der Offenbarung, gewaltsamen Umbrüchen, revolutionärem Machismo und teleologischem Fortschrittsdenken beruhen — scheint mir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa der Erderwärmung, meist unbrauchbar, wenn nicht sogar schädlich. »Freiheitsträume«, die sich die Ankunft der Freiheit durchweg als großen Tag der Abrechnung ausmalen (wie Martin Luther Kings »Tag, an dem alle Kinder Gottes … sich die Hände reichen und die Worte des...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Übersetzer Cornelius Reiber
Sprache deutsch
Original-Titel On Freedom. Four Songs of Care and Constraint
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Argonauten • Befreiung • Black • bluets • Care • Commons • Dana • Dodge • Drogen • Emanzipation • Feminismus • Frei • Freiheit • Gemeinschaft • Gerechtigkeit • Harry • Klima • Klimakrise • Klimawandel • Kolonialismus • Kunst • Kunstkritik • Lives • matter • Philosophie • Populismus • Praktiken • Praxis • Queer • Radikal • Rassismus • Rechte • Revolution • Schutz • Sexismus • sexuelle • Sucht • Theorie • Trump • Unabhängigkeit • Universität • Vereinnahmung • Zwang
ISBN-10 3-446-27367-0 / 3446273670
ISBN-13 978-3-446-27367-2 / 9783446273672
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