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Löwenherz (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
192 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27335-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Löwenherz - Monika Helfer
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Monika Helfer macht aus Lebenserinnerungen Literatur. Nach 'Die Bagage' und 'Vati': der neue Roman um eine Familie aus Vorarlberg
Monika Helfer erinnert sich an ihren Bruder Richard. Seit dem Tod der Mutter wachsen sie und ihre Schwestern getrennt vom kleinen Bruder auf. Sie sehen sich selten, verlieren die Verbindung. Es ist die Zeit des Deutschen Herbstes. Richard ist da bereits ein junger Mann, von Beruf Schriftsetzer. Er ist ein Sonderling, das Leben scheint ihm wenig wichtig. Verantwortung übernimmt er nur, wenn sie ihm angetragen wird. So auch, als ihm auf merkwürdige Weise eine verflossene Liebe ein Kind überlässt, von dem er nur den Spitznamen kennt. Die unfreiwillige Vaterrolle gibt ihm neuen Halt, zumindest für eine Zeit. Ein inniges Portrait, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande.

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman Schau mich an, wenn ich mit dir rede (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für Die Bagage (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane Vati (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und Löwenherz (2022).

8


Am letzten Septemberabend, Kartoffelfeuergeruch lag über der Stadt, gerade erst waren Richard und Schamasch von ihrer Arbeit nach Hause gekommen, stand eine Frau vor seiner Wohnungstür, auch sie hatte der nette Nachbar unten hereingelassen. Sie sei die Nachbarin von Kitti. Kitti habe ein Mädchen auf die Welt gebracht, sie sei noch im Spital und sehr traurig. Sie habe sie gebeten, Putzi zu ihrem Vater zu bringen. Putzi sitze unten im Auto. Ob sie das Kind hereinholen dürfe. Mit einem Unterton, der deutlicher war als der Oberton: Wenn du dich schon bisher so wenig um deine Tochter gekümmert hast, du Hallodri, dann tu es jetzt!

»Ja, klar«, sagte Richard nur. Ich brauche mich nicht anzustrengen, um sein Gesicht vor mir zu sehen: ein unübertrefflich erwachsener Ausdruck, wie ihn nur jemand zusammenbringt, der nicht erwachsen ist. »Ja, klar.«

»Papa!«, rief Putzi, als sie die Stiege hinaufkletterte, einen Fuß vor, den anderen nach, den einen wieder vor, den anderen wieder nach. Schamasch wedelte mit dem Schwanz, dass es ihm fast die Hinterbeine vom Boden riss, und bellte, aber nur ein Mal. Sie hielt Richard ihre Ärmchen entgegen, eine Rotznase hatte sie und schniefte, er lupfte sie hoch und drückte sie an sich und machte dabei sein unübertrefflich erwachsenes Gesicht — wie ein Kind, das nicht mehr aus noch ein weiß.

Da standen sie nun in seinem kleinen Zimmer, der falsche Papa und die falsche Tochter. Putzis Höschen war nass. Die Frau hatte einen kleinen Koffer dagelassen, den öffnete er, fand darin fünf Windeln und ein paar frische Anziehsachen, grob hineingestopft, wie wenn man jemanden loswerden will.

»Hast du Lust auf etwas?«, fragte er. Er sprach mit Putzi wie mit einer Erwachsenen, als wäre sie eine wie er, aber er war ja auch nicht erwachsen, nicht, was man darunter versteht.

»Ja, habe ich«, sagte sie und schaute ihn glücklich an.

»Und auf was?«

»Ja, habe ich«, wiederholte sie.

»Willst du jassen?«

»Ja, will ich.«

Sie wusste natürlich nicht, was Jassen ist. Er holte ein Paket Jass-Karten aus dem Kasten und legte die Karten auf. Es sind die schönsten Spielkarten, die es gibt, das ist meine Meinung. Auf jeder Karte ist ein Bild, aus dem man eine Geschichte lesen kann. Zum Beispiel das sogenannte Weli, das heißt so, weil obendrüber »Weli« steht. Niemand weiß, was das bedeutet. Es ist der Schell-Sechser. Ein Grabstein ist abgebildet, ein Trauerbaum senkt sich darüber, und merkwürdigerweise sind auch noch eine Eichel und ein Herz darauf. Besonders gut gefiel Putzi der Herz-Achter mit dem Elefanten, über den eine rot-gelb gestreifte Decke gelegt ist, oder der Herz-Sechser mit dem Löwen oder die Laub-Ass mit dem Einhorn und dem Hirsch, die sich beide aufbäumen, oder die Schell-Ass mit dem Schwein. Geduldig, mit Freude und viel Gelächter brachte mein Bruder dem Kind das Jassen bei. Dann spielten sie ernst und um Geld. Dazu füllte Richard zwei Marmeladengläser mit Zehngroschenstücken auf, die er bei der Bank eingewechselt hatte. Auf ein Glas klebte er eine kleine Zeichnung von Putzi, auf das andere schrieb er seinen Namen, seinen vollen Namen: Richard Helfer.

Nun fragte er: »Welche Farbe willst du haben? Gelb, Rot oder Grün?«

»Grün«, sagte Putzi.

»Warum Grün?«

»Rot.«

»Warum Rot?«

»Grün.«

»Grün heißt Laub.«

»Rot.«

»Rot heißt Herz.«

»Rot.«

»Gut, Rot.«

Er habe, erzählte er mir, überlegt, zur Polizei zu gehen, Putzi dort einfach abzugeben. Sie sei ihm auf der Straße zugelaufen. Was tut einer, dem ein Kind zuläuft? Er geht zur Polizei. Ein Mann mit Gewissen tut das. Mit dem Köfferchen in der Hand sei sie ihm zugelaufen. Das habe er aber verworfen, der Koffer sei zu schwer für ein Dreijähriges. Außerdem schaute ihn Putzi so lieb an, so unheimlich lieb. Außerdem kannte man ihn auf dem Posten, weil man ihn schon öfter mit Marihuana erwischt hatte, allerdings nie genug, um ihn dranzukriegen. Kittis Nachbarin war auch schon weg. Als Richard das Kind auf den Arm hob, war sie schon halb über die Stiege unten gewesen. Gleich hatte er das Auto abfahren hören.

Also kam er mit dem Kind zu mir. Mein Mann, mein erster, war auf Vertreterreise, er warb für einen sensationellen Klebstoff, der die Moleküle der beiden zu verbindenden Teile miteinander verwob, als wären sie ein Stück. Oliver und Undine waren bei meiner Schwester Gretel und der Großmutter. Gretel wusste, dass ich einen Liebhaber hatte, sie wusste auch, dass ich mich scheiden lassen wollte und dass wir beide es ernst meinten miteinander. Sie mochte Michael. Vom ersten Augenblick an. Sie hatte seine Hand genommen und so heftig geschüttelt, als wäre sein Arm ein Teil von einem Brunnen, mit dem man Wasser aus dem Boden pumpen kann. An diesem Abend, wie berichtet, lernten Richard und Michael einander kennen. In meiner Küche war ein Kanapee, da legten wir Putzi darauf, deckten sie mit Undines Decke zu. Eine Weile schaute sie uns stumm an aus ihren funkelnden Augen, dann schlief sie ein. Ich habe gehört, wie sie im Schlaf seufzte. Wie eine Erwachsene. Und wir drei tranken Wein, Richard baute einen Joint, den ließen wir rundumgehen.

Bis in den November hinein, fast zwei Monate, hörte er nichts von Kitti. Er tat allerdings auch nichts, um sie zu finden. Wie bei allem in der Welt rechnete er nicht damit, dass jemand erwarte, auch nur die geringste Initiative habe von ihm auszugehen. Er hatte sich damit abgefunden, dass ein Kind bei ihm lebte, das Papa zu ihm sagte. Er lernte, Putzi für die Nacht zu wickeln. Er kochte verschiedenes Mus. Er brachte ihr bei, mit dem Schöpflöffel das Mus auf den beiden Tellern zu verteilen. Das Mus war zäh und der Haufen auf ihrem Teller fast so groß wie ihr Köpfchen. Er brachte ihr, die viel zu klein dafür war, die Ziffern bei und die Buchstaben in ihrem Namen, P, U, T, Z, I. Und brachte ihr die Ziffern und die Buchstaben in Spiegelschrift bei, er war ja Schriftsetzer, wie der Vater, so die Tochter. Er besorgte Buntstifte, für jede Ziffer einen, 1 war hellgelb, 2 hellrot, 3 braun, 4 hellgrün, 5 kräftig grün, 6 kräftig rot, 7 orange, 8 blau, 9 violett. Er unterhielt sich mit Putzi, wie er sich mit Schamasch unterhielt, nämlich wie er sich mit seinem Freund, dem mit den verqueren Armen, unterhielt, nämlich in einem ruppig liebevollen, ironischen Erwachsenenton.

Wenn er ihr einen bunt gedrehten Lutscher mitbrachte, sagte er: »Schau, Putzi, ich habe da etwas besonders Grausiges für dich gefunden.«

Hätte ihn einer gefragt, hätte er geantwortet: Nein, ich habe keine Probleme. Schamasch und Putzi liebten einander wie Geschwister, also. Putzi vermisste ihre Mutter nicht, also. Putzi liebte ihn, wie je eine Tochter ihren Vater geliebt hat, also. Tagsüber, wenn er arbeitete, war Putzi bei mir, manchmal bei Gretel, selten bei Michael. Er gewöhnte sich an, früh aufzustehen. Also wo sollten die Probleme sein? Mein Mann, bei allem Unschönen zwischen uns, war doch ein Großzügiger, er hatte irgendwann in seinen Dreißigern akzeptiert, dass sein Leben und mein Leben, das Leben seiner Eltern und sonst noch die meisten Leben um ihn her, besonders das Leben seines Schwagers, dass jedes für sich ein unbeherrschbares Durcheinander war, da richtete ein niedliches kleines Mädchen mit abgrundtief ernsten Augen und einem immer lächelnden Mund kein weiteres Chaos mehr an. Und meistens, wenn er am Abend nach Hause kam, hatte Richard Putzi ja auch schon wieder abgeholt.

Am Anfang fragte ich ihn noch manchmal: »Wie soll das weitergehen, Richard?« Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass diese Situation irgendwie nicht legal sein könne, ein Mann, der mit dem Kind einer Frau zusammenlebe, die er nicht öfter als drei-, viermal gesehen habe.

Er antwortete: »Schauen wir.«

Ich sagte: »Die meldet sich nie wieder!«

Er antwortete:...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bruder • Deutscher Herbst • Die Bagage • Familie • Familiengeschichte • Lebenserinnerung • Michael Köhlmeier • Siebziger Jahre • Vati
ISBN-10 3-446-27335-2 / 3446273352
ISBN-13 978-3-446-27335-1 / 9783446273351
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