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Wir waren wie Brüder (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27368-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir waren wie Brüder - Daniel Schulz
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'Ein ebenso wichtiges wie wuchtiges Buch über den Naziterror nach der Wende, über eilig zurückgelassene Kirschgärten in Brandenburg und Söhne, deren Väter plötzlich Versicherungen verhökern.' Dmitrij Kapitelman
Er ist zehn, als in der DDR die Revolution ausbricht. Während sich viele nach Freiheit sehnen, hat er Angst: vor den Imperialisten und Faschisten, vor denen seine Lehrerinnen ihn gewarnt haben. Vor dem, was kommt und was er nicht kennt. Wenige Jahre später wird er wegen seiner langen Haare von Neonazis verfolgt. Gleichzeitig trifft er sich mit Rechten, weil er sich bei ihnen sicher fühlt. So sicher wie bei Mariam, deren Familie aus Georgien kommt und die vor gar nichts Angst hat. Doch er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. 'Wir waren wie Brüder' ist eine drastische Heraufbeschwörung der unmittelbaren Nachwendezeit - und ein nur allzu gegenwärtiger Roman über die oft banalen Ursprünge von Rassismus und rechter Gewalt.

Daniel Schulz wurde 1979 in Potsdam geboren und wuchs in einem brandenburgischen Dorf auf. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig. Nach ersten Stationen bei Zitty, Märkische Allgemeine und Freies Wort ging er zur taz, wo er heute das Ressort Reportage leitet. 2018 erhielt er den Reporterpreis und 2019 den Theodor-Wolff-Preis. 'Wir waren wie Brüder' (2022) ist sein literarisches Debüt.

Makarow


Wir planen den Krieg am Tarzanbaum. Pistole klauen, rüber nach West-Berlin, irgendeinen umnieten. Dann schießen die zurück, und schon gibt es Krieg.

»Müsste gehen«, sage ich.

»Ach ja, wie denn? Glaubst du, dein Vater gibt dir das Ding einfach?« Uwe Möller. Sitzt ganz oben, wo die Äste schon dünn werden, und hat wie immer eine große Fresse.

»Ich weiß, wie ich die Knarre kriege«, sage ich.

Uwe zieht die Nase hoch. Seine hellen Haare sträuben sich in alle Richtungen, als hätte sich ein tollwütiges gelbes Eichhörnchen auf seinem Kopf festgebissen. Mario und Lars sagen nichts, sie gucken auf ihre Füße, auf ihre braunen Sandaletten. Sie sitzen auf der Affenschaukel, das ist der dickste Ast der alten Kastanie. Knapp einen Meter über der Wurzel wächst er aus dem Stamm, breit und gerade wie eine Bank. Ich lehne am Baum und streiche mit der linken Hand über die Rinde, über Gräben und Huckel. So muss sich Elefantenhaut anfühlen.

Die Pistole hole ich mir von meinem Vater. Der hat eine Makarow, weil er Offizier ist, Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee. Über ihm kommt nur noch der Oberst und dann die Generäle. Er arbeitet im Wehrkreiskommando, mein Vater sagt We-Ka-Ka dazu oder Dienststelle. Jeden Morgen fährt er mit unserem grünen Wartburg die drei Kilometer nach Starow, das ist die nächste Stadt. Wenn der Westen uns angreift, muss mein Vater von dort die Verteidigung des ganzen Kreises anführen. Zurzeit liegt er aber nur auf unserer Sitzecke in der Küche herum wie ein gestrandeter Wal.

Im Kindergarten wollten sich Uwe und Lars immer gegenseitig beweisen, wer von ihren Vätern den besseren Trecker fährt. »Meiner kommt mit dem Panzer und ballert die beide um«, habe ich dann gesagt.

Jetzt, wo es drauf ankommt, guckt er nur noch Fernsehen: Demonstration in Leipzig, Demonstration in Berlin. Die wollen die DDR abschaffen. In China ist die Armee mit dem Panzer über die Demonstranten drübergefahren. Hier sind sie dazu zu feige.

»Mit uns rechnet keiner.« Das habe ich Uwe gesagt, und Lars und Mario auch. Wir klauen eine Waffe, und wenn die Mauer aufgeht, fahren wir nach West-Berlin. Da ballern wir auf irgendeinen Typen. Der muss ja nicht gleich tot sein oder so. Dann schießt die West-Polizei auf uns und unsere auf die. Wenn Krieg ist, gewinnen wir.

»Was wäre denn so schlimm, wenn wir alle Westen wären?« Uwe hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt, er guckt hoch in die bunten Blätter. Mario und Lars sagen immer noch nichts. Uwes Vater würde das wahrscheinlich gut finden, wenn wir Westen wären. Wenn der säuft, meckert er über alles: seine Arbeit, die SED, dass die Eier aus dem Konsum so oft nach Fischmehl schmecken. Gut, das ist wirklich eklig.

Ich will Uwe antworten, aber ich weiß nicht, wie. In Anton bis Zylinder, dem Lexikon für Kinder steht, im Westen leben die Imperialisten und beuten die Arbeiter aus. Frau Reiher hat in Heimatkunde gesagt, Imperialisten schützen die Faschisten. Eigentlich sind sie sogar selbst welche, sie geben es nur nicht zu.

Wir haben Verwandte drüben, in Berlin und im Saarland, die kommen manchmal zu Besuch. Das sind keine Imperialisten, aber arm sind die auch nicht. Die sind irgendwo dazwischen.

»Das ist wie in der Geschichte von Trini«, rufe ich zu Uwe hoch. »Da schneiden die Reichen den Armen die Nasen und Ohren ab, wenn die aufmucken.«

Uwe guckt zu mir runter wie eine Eule auf Mäusejagd. »Was ist das wieder für Weiberkram?«

»Das ist ein Buch«, sage ich, und die Sonne sticht mir durch die Blätter in die Augen. »Das ist ein super Buch«, sage ich, noch mal lauter. Am liebsten würde ich Uwe anbrüllen, aber ich schlucke das runter. Wenn ich schreie, sagt Uwe wieder, ich klinge wie ein Mädchen, und lacht mich aus. »Das ist ein Buch über Mexiko, da kämpfen ganz viele Jungs, das ist überhaupt kein Weiberkram!« Einatmen. Ausatmen. Ich muss langsam reden.

»Mexiko!« Uwe spuckt das Wort aus wie einen abgelutschten Kirschkern, »klar, da schneiden die sich sogar das Herz raus.«

»Du kapierst gar nichts«, sage ich. »Wenn die aus dem Westen gewinnen, sind die hier die Bestimmer.« Hat der noch nie gesehen, wie die Erwachsenen ein Paket von drüben aufmachen? Wie kleine Kinder sind die. Der Kaffee! Die Schokolade! »Das ist wie im Cowboyfilm«, sage ich. »Erst schenken die Weißen den Apachen Glasperlen und Schnaps. Und dann nehmen sie ihnen alles weg oder murksen sie gleich ab.«

»Du hast doch eine Riesenschacke.« Uwe tippt sich mit dem Finger an die Stirn. »Du glaubst echt, die machen uns kalt, oder was?«

»Quatsch!« Meine Stimme schraubt sich hoch. »Das ist doch nur ein Gleichnis.«

»Ein Gleichnis!« Uwe kreischt wie eine Frau in einem Krimi. Mit einem Stein könnte ich ihn da oben runterwerfen, das blöde Arschloch. Mario grinst, und Lars auch.

Wenn ich mir vorstelle, dass der Westen gewinnt, wird es in meinem Magen ganz heiß. Und greift uns jemand an, so hat er nichts zu lachen, die Volkssoldaten wachen und stehen ihren Mann, haben wir neulich gesungen, im Musikunterricht. Selbst die Faschisten haben bis zum Ende gekämpft, und wir machen einfach gar nichts.

Oma Lisbeth sagt, ich bin ein lieber Junge, aber tief in mir drin, da sieht es ganz anders aus. Da kocht eine Giftbrühe wie im Kessel von Baba Jaga. Besonders wenn die Großen glauben, sie können alles mit mir machen. Dann werde ich sauer.

Es gibt die rote und die weiße Wut. Bei der roten Wut steigt das Feuer vom Magen in den Kopf, und ich will nur noch schreien und schlagen. Aber wenn ich es schaffe, das Feuer zu stoppen, bevor es zu einem roten Nebel in meinem Kopf wird, kann ich damit etwas machen, wie ein Zauberer, ich verwandele es in weiße Wut. Als wir noch in der alten Wohnung gewohnt haben, in Block vier, da sollte ich mir einmal die Hände waschen. Meine Mutter fand sie nicht sauber genug. Sie hat mich zwei Mal zurück ins Badezimmer geschickt, und als sie ihr dann immer noch zu dreckig waren, habe ich den Bimsstein genommen, mit dem sie sich immer die Hornhaut von den Füßen schrubbt. Und zwar für alles. Es tat ganz schön weh, besonders unter den Achseln. Aber sie hat mehr geheult als ich.

»Wie willst du an die Knarre rankommen?« Lars wirft eine Murmel in die Luft und fängt sie wieder auf, seinen besten Glasbucker, ein Riesending. Im Inneren ist eine rotgelbe Spirale, als würde eine kleine Galaxie in der Kugel feststecken.

Lars ist der Größte und Dickste von uns, viel dicker als ich in meinen fetten Phasen. Er hat einen Russenschnitt, einen Iwan, raspelkurze dunkle Haare. Seine Nase ist spitz und lang wie die Mohrrübe bei einem Schneemann, und er hat schon ein paar Barthaare über dem Mund. Lars kann alles bauen: die besten Buden, die besten Bögen, die besten Erbsengewehre. Wie er das macht, verrät er nie.

»Das mit der Knarre ist popeleinfach«, sage ich. »Die liegt bei uns im Wohnzimmer.« Durch Zufall habe ich das mitgekriegt. Letzten Dienstag ist Deutsch ausgefallen, weil Frau Grube nicht da war. Die Großen sagen, die ist in die Tschechoslowakei abgehauen. Also war ich früher zu Hause. Vor der Wohnungstür standen schon die Schuhe von Mutti und Vati, obwohl die normalerweise viel später Feierabend haben. Meine Mutter hat so laut geschrien, ich konnte sogar vor der Tür hören, dass mein Vater seine Armeepistole nicht in der Schrankwand verstecken soll.

Mario lehnt sich nach hinten, er streckt seine dünnen braungebrannten Beine aus. Wie eine Wippe schwenkt er vor und zurück, dann hängt sein Kopf über der Erde, und die Beine stehen in der Luft. Er hält sich nur mit den Händen an der Affenschaukel fest und sagt: »Guck mal, Uwe!« Seine riesige Hornbrille fällt ihm vom Gesicht in den schwarzen Sand. Aber Uwe guckt nicht, er schnaubt nur wie ein Pferd. Mario macht einen Überschlag, ohne sich den Kopf am Ast zu rammen, steht auf beiden Füßen und hebt seine Brille wieder auf.

Ich...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1990er • abgehängt • Angst • Berlin • Böhse • Brandenburg • Dorf • Faschismus • Freunde • Gewalt • Hannibal • Hendrik Bolz • investigativ • Journalist • Jugend • Kommunismus • Lukas • Manja • Mauerfall • Mecklenburg • Nachwendezeit • Nazi • Neonazis • Nullerjahre • onkelz • Ostdeutschland • Osten • Präkels • Preis • Recherche • Rechte • Rechtsextremismus • Reporterpreis • Rietzschel • Sommer • Sowjetunion • Testo • Theodor • Transformation • Trauma • Vorpommern • Wende • Wolff
ISBN-10 3-446-27368-9 / 3446273689
ISBN-13 978-3-446-27368-9 / 9783446273689
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