Ein Giro in Triest (eBook)
296 Seiten
Picus (Verlag)
978-3-7117-5461-5 (ISBN)
Christian Klinger, geboren 1966 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften. Seit 2017 Zweitwohnsitz in Triest. Er veröffentlichte zahlreiche Krimis und Beiträge in Anthologien, erhielt den Luitpolt-Stern-Förderungspreis und war auf der Auswahlliste des Agatha-Christie-Krimipreises (2011). Im Picus Verlag erschienen der Roman »Die Liebenden von der Piazza Oberdan« sowie die historischen Kriminalromane rund um Inspektor Gaetano Lamprecht: »Ein Giro in Triest«, »Die Geister von Triest« und »Eine Corsa in Triest«. www.christian-klinger.at
Christian Klinger, geboren 1966 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften. Seit 2017 Zweitwohnsitz in Triest. Er veröffentlichte zahlreiche Krimis und Beiträge in Anthologien, erhielt den Luitpolt-Stern-Förderungspreis und war auf der Auswahlliste des Agatha-Christie-Krimipreises (2011). Im Picus Verlag erschienen der Roman »Die Liebenden von der Piazza Oberdan« sowie die historischen Kriminalromane rund um Inspektor Gaetano Lamprecht: »Ein Giro in Triest«, »Die Geister von Triest« und »Eine Corsa in Triest«. www.christian-klinger.at
1.
Die Sonne war hinter dem Monte Belvedere hervorgekommen und tauchte alles in ein weißes Licht. Mit in den Himmel geschnittenen Konturen hob sich das Wäldchen gegen den Horizont am Ende der Straße ab.
»Es ist …«, sprach er leise vor sich hin, dabei tief Luft holend, um sie danach gleich wieder kräftig auszublasen. »Es ist … unfair …«, wiederholte er keuchend, »dass gerade jetzt ein Einsatz hereinkommen muss.«
Er streckte sich durch, dachte daran, dass er heute gern früher Schluss gemacht hätte, und beobachtete seinen Schatten, der neben ihm über die Fahrbahn flitzte. Ein angenehmer Vormittag im Büro war dahin. Er keuchte weiter. Oben, nach der letzten Kurve, ragte der Obelisk wie ein aufgestellter Stachel in die Luft. Er steuerte das gleichnamige Hotel am rechten Straßenrand an. Sein Ziel lag hinter der nächsten Biegung.
Gaetano Lamprecht stieg aus dem Sattel und lehnte sein Fahrrad gegen eine Mauer. Die letzten Schritte legte er zu Fuß zurück. Sein Herz schlug heftig wie eine Dampfwalze. Er drückte die flache Hand gegen seinen erhitzten Brustkorb und atmete tief ein. Schloss kurz die Augen und zählte die Schläge unter seinen Rippen mit. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …
Bedachten Schrittes querte er schließlich die Straße. Von hier oben hatte der Blick über den Golf einen besonderen Reiz. Vor seinen Augen erstreckte sich unter einem blassblauen Himmel das Meer zwischen dem Hafen und der istrischen Küste. Die Stadt wirkte wie von den Seestürmen an den Hügel von San Giusto gespült. Bunte Muscheln im Sand, aufgefädelt von den Wellen. Gaetano kam öfter an dieser Stelle vorbei, an der schon Napoleon sich der Aussicht erfreut haben soll. Als der junge Polizeiagent gänzlich zur Ruhe gefunden hatte, drehte er sich um. Er fuhr über die Spitzen seines schmalen Schnurrbarts und steuerte mit ernster Miene die beiden Polizisten an, die beim Fundort der Leiche wachten.
»Und?«, kam es knapp. Er war über die Entdeckung, von der die Wachleute in Opicina heute Morgen Meldung erstattet hatten, wenig erfreut. Ausgerechnet an einem Samstag, mehr oder weniger schon im Wochenende, hatte er gedacht, als er aus Triest geschickt worden war. Sicher war damit auch der Sonntag beim Teufel und er würde auf sein Training verzichten müssen. Also hatte er aus der Not eine Tugend gemacht und sich gleich auf den Weg hinauf zum Karst begeben. Allerdings hatte er in seinem dunklen Rock stark geschwitzt und ihm war immer noch unerträglich heiß. Normale Kleidung war für solche Touren völlig ungeeignet. Er tupfte Stirn und Nacken mit einem Taschentuch ab.
Die beiden Polizisten wirkten ratlos und warfen einander entsprechende Blicke zu. Lamprecht schaute sich um, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Zwei weitere Uniformierte hatten sich an der Straße postiert und verscheuchten einige Gaffer, die aus Neugier zum Schauplatz vordringen wollten. Handwerker, Mägde oder Tagelöhner, die sich das Geld für die Straßenbahn in die Stadt sparten und an diesem sonnigen Tag zu Fuß nach Triest aufbrachen. Murrend und mit zum Tatort verdrehten Hälsen zogen manche weiter, während andere an der nächsten Kurve in ausreichender Entfernung zu den Polizisten stehen blieben, um weiterhin gaffen zu können, beseelt davon herauszufinden, was da passierte, und vor allem was da passiert war.
Die zwei Polizisten bei Lamprecht waren seltsame Gestalten, die in ihrer Erscheinung kaum unterschiedlicher sein hätten können: Der eine war hager, hatte ein schmales Gesicht mit langer Nase und seine Jacke war ihm zu weit. Sie hing schlaff von seinen Schultern und wirkte, als hätte er sie gegen die seines großen Bruders getauscht. Dafür spannten dem anderen die Knöpfe um den Bauch. Obwohl er einen Kopf kürzer als der Lange war, waren sein Gesicht und sein Bauch doppelt so breit. Der Dicke sagte: »Eine alte Vettel hat ihn heute Morgen gefunden, als sie hier Holz sammeln wollte. Wir haben ihre Aussage, die uns aber nicht weiterbringen wird. Aber wir haben dieses Soldbuch bei ihm gefunden. Ein Ludwig Farnese, gebürtig aus Görz.«
Lamprecht nahm das Heft entgegen. Er hatte inzwischen seinen Rock abgelegt und war versucht, sich mit dem gereichten Beweisstück Luft zuzufächeln. Er trat an die hängende Leiche heran und betrachtete die hechtgraue Uniform. Die Hose zeigte im Schritt einen eingetrockneten Fleck, die Augen starrten in die Ferne. Der Bursche war nur wenig jünger als er selbst, aber mit den glatt rasierten Wangen wirkte er beinah knabenhaft.
Gaetano Lamprecht wusste, dass er hier richtig am Platz war. Wenn es einen aufklärungsbedürftigen Todesfall in Seiner Majestät k. u. k. Armee gab, musste ein richtiger Kriminalist her. Diese Dorfgendarmen, das sah er sofort, waren mit so einer delikaten Angelegenheit heillos überfordert.
»Aber ich glaube«, meldete sich einer der uniformierten Polizisten zu Wort, »Sie haben sich umsonst hierherbemüht.«
Lamprecht griff sich mit der rechten Hand an den Mund und zwirbelte seinen Schnurrbart. Er wusste, mit dieser Geste war am ehesten sein Missfallen zu unterstreichen, und nach einer künstlich gedehnten Pause fragte er: »Und was lässt Sie diesen Schluss ziehen?« Mit den zusätzlich verengten Augen erreichte er die gewünschte Wirkung. Der Polizist, der vorhin ungefragt seine Meinung geäußert hatte, stammelte: »Allora …, ich meinte nur, weil es sich offenbar um einen Selbstmord handelt.« Er deutete auf die an einem dicken Ast hängende Leiche.
Als ob sie zu Unrecht auf diese Weise angesprochen worden wäre, drehte sie sich bei diesen Worten weg. Eine leichte Brise wehte landeinwärts und bewegte den Leichnam an seinem Seil. Die Luft schmeckte sogar hier oben nach dem Salz, das der Wind unten den Wellen entriss, und der intensive Duft von trockenen Nadeln vom nahen Wald stieg Lamprecht in die Nase. Er fragte: »Warum nimmt den armen Kerl denn keiner ab?« Es lag allerdings eher eine Aufforderung in seinem Tonfall.
»Ich dachte, wir müssen auf den Doktor warten«, flüsterte der Dicke zum Dünnen. Dann quälte sich das ungleiche Duo, den toten Soldaten aus seiner auch für eine Leiche unschicklichen Lage zu befreien. Sie besprachen sich, wie sie vorgehen wollten, ehe der eine auf eine bereitgestellte Leiter stieg und den Knoten löste. Der andere umfasste den hängenden toten Körper, um ihn hernach zu Boden gleiten zu lassen. Doch das Seil gab die gehaltene Last allzu plötzlich frei und diese riss den Langen zu Boden, wo er halb unter dem Leichnam zu liegen kam wie sonst die Pärchen, die einen lauen Sommertag hier auf den Wiesen genossen.
Lamprecht wandte sich ab, weil er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. Doch dann begann er sogleich die nähere Umgebung abzusuchen. Die beiden Tollpatsche hatten in der Zwischenzeit wieder eine adäquate Position eingenommen. Auch der Dicke hielt sich mit weiteren Äußerungen zurück und beide warteten auf Anweisungen des Inspektors, der aus der Polizeidirektion in Triest hierhergeschickt worden war.
Der Erhängte lag mit dem Rücken auf dem Boden und Lamprecht trat an ihn heran. Er bückte sich hinunter und hob Jacke und Hemd des Toten etwas an. Er drehte den Körper unter den verwunderten und auch angewiderten Blicken der Umstehenden auf die Seite, schob die Kleidungsstücke ganz hinauf und besah den vom Waffenrock befreiten Rücken, bevor er ihn dann wieder in seine Ausgangsposition zurückfallen ließ. Als er sich aufrichtete, deutete er auf die Uniformjacke: »Hier fehlt ein Knopf.«
An einer Stelle war tatsächlich nur mehr ein Stück des Fadens zu erkennen, der einen der Messingknöpfe, die die Jacke zierten, gehalten haben musste.
Jetzt war es der Hagere, dem die unfreiwillige Intimität mit der Leiche frischen Wagemut gebracht haben musste, der sprach: »Den wird er wohl verloren haben, als er sich umgebracht hat. Er legt sich die Schlinge um den Hals, und als es dann so weit ist, beginnt er zu strampeln und dabei reißt er sich einen Knopf von der Jacke. So ungefähr.« Mit spastischen Zuckungen demonstrierte er den mutmaßlichen Todeskampf.
»Wenn das so wäre, dann müsste sich der Knopf hier finden. Tut er aber nicht«, konstatierte Lamprecht. »Wieso trägt er eigentlich einen Waffenrock?«, fragte er weiter.
»Keine Ahnung«, antwortete der runde Polizist. »Vielleicht wollte er sich noch in eine adrette Montur werfen, bevor er seinem Schöpfer gegenübertritt.«
Lamprecht beugte sich hinunter und schüttelte den Kopf. Mehr zu sich murmelte er: »Oder er war auf dem Weg zu einem Manöver …«
Dann schnellte er hoch, drehte sich zur Leiter hin und fragte: »War die schon da?«
Die zwei Wachmänner schauten einander fragend an, dann sagten sie: »Nein, die haben wir von einem Dachdecker geborgt.« Sie deuteten auf einen Karren an der Straße, auf den Dachschindeln...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2022 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 1914 • Bianchi • Erzherzog Franz Ferdinand • Habsburger • Irredentismus • Italianità • Italien • Karst • Monarchie • Mord • radfahren • Rennrad • Sarajevo • Soldaten |
ISBN-10 | 3-7117-5461-9 / 3711754619 |
ISBN-13 | 978-3-7117-5461-5 / 9783711754615 |
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