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Demut (eBook)

Ein Berlin-Roman in den schillernden 20ern, von einem der aufregendsten Autoren der Gegenwart
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00988-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demut -  Szczepan Twardoch
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Eben noch kämpfte Alois Pokora im Weltkrieg. Dann erwacht er im Krankenhaus in Berlin - und die Welt ist eine andere: das Jahr 1918, der Kaiser geflohen, die alte Ordnung zerbricht. Der Bergmannssohn Alois, der Erste in der Familie mit Schulbildung, sehnt sich nach seiner Liebe Agnes - lässt sich aber bald von der soghaften neuen Freiheit erfassen, geistig, revolutionär, auch erotisch. Er gerät in die Berliner Halbwelt, schult für die dubiose «Baronin» eine Kampftruppe, trifft Rosa Luxemburg. Nach einer Schießerei mit Kaisertreuen rund ums Berliner Schloss kann er gerade noch heim ins verwunschene Schlesien flüchten. Wo sich ebenfalls alles verändert hat. Unerwartet muss Alois sich der eigenen Herkunft stellen - und steht endlich Agnes gegenüber. Doch Alois ist zwischen alle Fronten geraten. Mit weltmalerischer Wucht erzählt Szczepan Twardoch vom Weltkrieg und vom umstürzlerischen Berlin mit seinen Kaputten, Geschlagenen und den feierwütigen Überlebenden, den Umbrüchen, die bald ganz Europa erfassen. «Demut» ist ein gewaltiger Roman über einen Mann im Strudel der Zeit, der zwischen Emanzipation und Selbstzweifel steht und in einer explosiven, ungeheuer freien Epoche seinen Weg sucht.

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien. Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

1 Deutschland muss sterben, damit wir leben können


An dein Gesicht denke ich, wenn am schwarzen Himmel, noch tief über dem Horizont, der erste weiße Stern aufblinkt. Die weiche Linie von Kiefer, Wangen, Nase, Mund und Augen. Du, Agnes. Die Geometrie deiner Züge, tief in mein Hirn gebrannt, tiefer als die Gesichter meiner Eltern.

Der Stern des Schrapnells zerfällt in Kaskaden. Kurz darauf hallt von weitem ein Donnern her. «Ist noch nicht so weit, wir warten noch», flüstere ich den Männern zu, die ich liebe, flüstere, als das Donnern verstummt, flüstere zu ihren von Helmen bekuppelten Silhouetten, erkenne kaum ihre Umrisse in dem von Mondlicht übergossenen Graben. Mond, nicht gut, wolkenloser Flandernhimmel, lieber würde ich in der Dunkelheit des Neumonds gehen, doch darüber entscheide nicht ich. Ich entscheide so gut wie gar nichts, kein Mensch bin ich, nur ein kleiner Teil eines großen Organismus, mein Zug in meiner dem Stab zugeordneten Divisionskompanie, die Division in der Armee, die Angriffspfeile auf den Stabskarten, die Front, die langen Versorgungslinien, es gibt mich nur an dem Ort und in der Funktion dieser Maschinerie, jenseits dieses Ortes und dieser Funktion existiere ich nicht.

An deine Hände, Agnes, denke ich, wenn ich auf die phosphoreszierenden Zeiger der Uhr im Lederetui schaue, die nach militärischer Mode an den Ärmel der Uniformbluse geschnallt ist, es ist drei Uhr siebenundzwanzig. Drei Uhr siebenundzwanzig, dreiundzwanzigster Oktober, Agnes.

Es ist noch nicht so weit. Noch nicht so weit. «Ruhe, Männer», sage ich, und sie verharren reglos, gespannt wie lebende Bögen, die jederzeit losschnellen können. Ich höre, wie dem neben mir knienden Schützen namens Gusinda die Zähne klappern. «Ruhe, Männer, Ruhe.»

Hoch über uns pfeift der Himmel und blitzen gleich darauf neue Sterne und donnern, und ich denke an deine Hände, daran, wie du mir die rechte zum Kuss reichtest, als ich dich das letzte Mal sah, vor sechs Monaten und drei Tagen. Ich hätte nicht geglaubt, dass du mir die Hand reichst, ich stand an der Tür und hatte schon die Handschuhe übergezogen, als du mir deine entgegenstrecktest, hastig streifte ich diese Armeehandschuhe wieder ab, du hieltest mich mit einem einzigen Blick auf, und ich begriff, dass du gar nicht wolltest, dass ich deine Hand ergreife, gar nicht wolltest, dass ich sie an die Lippen führe. Du hobst die Hand nicht hoch, du bist viel kleiner als ich, ich musste mich also bücken, ich faltete die Hände hinter dem Rücken und drückte einen Kuss auf deine Hand, gleich neben den goldenen Ring. Ich roch dein Parfüm, erst damals. Ich weiß, was für ein Duft das ist, du hattest ihn wenige Monate zuvor von mir bekommen, hast ihn selbst ausgesucht, eine französische Vorkriegsnote, natürlich Caron Narcisse Noir, Bergamotte und Orangenblüte, Zibet und Moschus und Sandelholz, eine Rarität in der Kriegswirtschaft, die meine Finanzen viele Monate lang strapazierte. Jetzt gab ich dir das Heft als Geschenk, ich hatte es in der Tasche eines englischen Leutnants gefunden, der bei unserem Artillerieangriff den Kopf verlor. Ich sprach nicht davon, dass der Kopf des Leutnants, noch immer im flachen Helm, neben seinen Füßen gelegen hatte. Das Heft trug den Titel Prufrock and Other Observations, es war von einem mir zuvor unbekannten Dichter namens Eliot, darin fand ich ein Gedicht mit dem Titel The Love Song of J. Alfred Prufrock, das großen Eindruck auf mich machte. Ich wollte diesen Eindruck mit dir teilen. Du nahmst das Büchlein wortlos entgegen. Zogst die Hand nicht sofort zurück, und ich verharrte so, mit den Lippen auf deiner Haut, einem Hauch deiner Parfümdüfte. Durch mehrere offene Türen der Enfilade sah ich deinen Mann im Hausrock und in Pantoffeln, ostentativ im Sessel sitzend und hinter dem Oberschlesischen Wanderer verschanzt, er musste uns sehen und so tun, als sähe er uns nicht. Kurz darauf löstest du die Hand von meinen Lippen und strichst mir mit den Fingern übers Haar, so wie man einen zottigen Hund zaust, erst da richtete ich mich auf und sah dich an. Du sahst mich an mit einem Lächeln, in dem Zärtlichkeit und Spott sich mischten, und ich wagte nicht zu gehen, Agnes, und wusste, wenn ich es tun würde, wenn ich dich aus den Augen verlöre, würde ich dich jetzt für immer verlieren.

Trotz seiner Anwesenheit dort war alles, was sich hinter den Türen deiner Wohnung befand, Abgrund, dunkel, leer. Alles, was ich begehrte, was ich zu begehren wagte, war, dein Gesicht zu sehen. Sterben wollte ich mit dem Blick auf dein Gesicht, Agnes, und du ließest schließlich diese zwei Worte fallen, mit plötzlich scharfer, preußischer Stimme, dem mir nur zu gut vertrauten Unteroffizierston, «Geh jetzt!», und wandtest dich ab, und ich, mit einem Mal aufgeklärt, verstand: Es war geschehen, ich musste jetzt gehen, drehte mich also auch um, öffnete die Tür und trat hinaus in den Abgrund des Treppenhauses, hinaus in die Leere der Straße, in die Dunkelheit einer Welt, die nicht du bist, Agnes, in der es dich nicht gibt.

Eine Welt, in der es dein Gesicht nicht gibt, Agnes, weder deinen Blick noch die raren und kurzen Momente, da du mich für eine Sekunde deine Haut berühren ließest, wie gerade eben.

Eine Welt, in der ich seit vier Jahren genau weiß, was das Ziel meiner Existenz ist, welcher Sache und wem ich diene, zum ersten Mal im Leben, doch bringt es mir nicht mehr so viel Erleichterung und Freude wie einst, ganz zu Anfang des Krieges.

Schwer stieg ich die Treppe hinab, trat langsam aus dem Tor und blieb auf der Straße stehen, gegenüber dem Café Kaiserkrone, ich zog den Handschuh ab und berührte meinen Mund, die Lippen, die vor einem Augenblick deine Hand geküsst hatten. Ich schaute auf die Uhr und dachte, ich müsse mich von deinem Fluch befreien, Agnes, auch wenn ich damals so gut wie heute weiß, das ist unmöglich. Ich muss mich von dir befreien, Agnes, dabei will ich es gar nicht. Ich ließ die Straßenbahn vorbei, dann ging ich hinüber und setzte mich draußen, im Garten, an ein Tischchen, der Kellner kam sofort herbeigeeilt, als er die Offiziersuniform sah und das Band des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, denn das war damals eine andere Welt, diese sechs Monate zuvor, eine andere Ära, da war noch nicht alles auseinandergeflogen, zumindest in Schlesien spuckten die Leute noch nicht aus beim Anblick einer Offiziersuniform, was mich jetzt eigentlich wundert, denn Grund dazu hatten sie damals genau wie heute. Ich bestellte ein Bier, Brühwurst und ein Viertel Schnaps, so wie mein Vater es getan hätte, vor dem Krieg, bei jenen seltenen Anlässen, bei denen das aushäusige Essen ihm trotz seiner Knausrigkeit vertretbar erschien. Bier, Wurst, ein Viertel Schnaps. Ich aß ohne Appetit, die Wurst war ein abscheulicher Ersatz aus Geschlinge, nach dem Aufschneiden des Darms ergoss sich eine graue Masse auf den Teller, und ich dachte etwas, für das ich erschossen worden wäre, hätte ich es laut gesagt: So sieht unsere kommende Niederlage aus, so die britische Blockade. Niederlage hin oder her, ich aß es, weil ich hungrig war, aß in Gedanken an meinen Vater, trank das Bier und den Schnaps, wenigstens Bier und Schnaps schmeckten noch so, wie sie sollten. Ich versuchte mich zu erinnern, wie oft ich hier vorbeigekommen war, am Café Kaiserkrone. Vor zehn, fünfzehn Jahren hatten die Gartentische noch an einem Flüsschen gestanden, das später zugeschüttet wurde, aber die kleine Allee heißt zur Erinnerung daran weiter die Wilde Klodnitz, Dzika Kłodnica. Ich kam hier vorbei, als ich noch aufs Gymnasium ging, und später, wenn ich Gleiwitz besuchte, immer in Gedanken an dich, Agnes.

Ich erinnere mich, wie wir vor dem Krieg mit meinem Studienfreund Dionizy Braun-Towiański in diesem Garten saßen, du schlossest dich mit einem gewissen Heinrich Gottrop an, der zuvor in das Studentenzimmer bei euch gezogen war, mein altes Zimmer, und dich schon damals anhimmelte, dir aber noch keinen Antrag gemacht hatte. Das muss 1913 gewesen sein, der letzte Herbst vor dem Krieg, später Oktober, aber noch warm, wir aßen zu Mittag, dann saßen wir ganze Nachmittage hier herum, bis zur Dämmerung, tranken Schnaps, waren fröhlich und laut. Die Damen schauten, missbilligend, dass du in lärmiger männlicher Gesellschaft sitzt, selbst trinkst und eine Matrosenbluse und einen Rock im Suffragetten-Stil anhast, etwas, was man sonst auf den provinziellen Gleiwitzer Straßen nicht sah. Das amüsierte uns ebenso wie dich, épater les bourgeois. Dionizy stieg betrunken auf den Stuhl und deklamierte auf Französisch Verlaines Chanson d’automne, eine empörte Familie mit zwei pummligen Kindern verließ demonstrativ das Lokal. Wir waren glücklich damals, sogar als Gottrop dich nach Hause begleitete und Dionizy mich überreden wollte, ein Bordell aufzusuchen, und sehr enttäuscht war von meinem entschiedenen Nein, mich daraufhin stehenließ und für den Rest der Nacht verschwand, ich weiß bis heute nicht, wohin.

Das war eine andere Welt, und an dem Tag, an dem ich dich das letzte Mal gesehen habe, vor sechs Monaten und drei Tagen, stand ich, satt gegessen und getrunken, auf, zog die graue Feldbluse straff, steckte mir eine Zigarette an und ging zum Gleiwitzer Bahnhof, um in die wirkliche Welt zurückzufahren, die ganze Zeit donnerten nicht etwa die Geschütze mir im Kopf, nicht die explodierenden Granaten, sondern deine Worte, «Geh jetzt, geh!».

«Geh jetzt», höre ich sogar jetzt, «geh jetzt», ein halbes Jahr, drei Tage und acht Stunden später. «Geh jetzt.»

Jemand berührt mich an der Schulter.

Ich drehe mich um, es ist Kiesel. «Es ist so weit»,...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2022
Übersetzer Olaf Kühl
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920er • 20er Jahre • Aufsteiger • Babylon Berlin • Berlin • Bestseller • Bestseller 2022 • Breslau • Deutschland • Entwicklungsroman • Erster Weltkrieg • Historischer Abenteuerroman • Historischer Roman • Karl Liebknecht • Kommunismus • literarischer historischer Roman • Literatur Polen • Nationalismus • Novemberrevolution • Obsession • Polen • Polen Roman • Polnische Bücher • polnische Romane • Revolution • Roman Erster Weltkrieg • Rosa Luxemburg • Schlesien • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-00988-0 / 3644009880
ISBN-13 978-3-644-00988-2 / 9783644009882
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