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Maksym (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01136-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Maksym -  Dirk Stermann
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Dirk Stermanns Roman «Sechs Österreicher unter den ersten fünf», der sich allein in Österreich über hundertfünfzigtausendmal verkaufte, hatte einen Helden namens Dirk Stermann. Nun hat der Autor ein neues Buch über diesen Mann geschrieben. Es beginnt wie eine amüsante Gesellschaftssatire aus dem heutigen Wien: Dirk und seine Frau stehen vor einem Problem. Sie muss für ein paar Monate beruflich ins Ausland, aber er hat jetzt wirklich keine Zeit, sich den ganzen Tag um den gemeinsamen Sohn, Hermann, zu kümmern. Professionelle Hilfe muss also her. Freunde empfehlen, sehr modern, einen männlichen Babysitter. Sie hätten einen Ukrainer, sehr erfahren und gebildet, immer ein Zitat von Joseph Roth auf den Lippen. Und Dirk entscheidet sich, gegen all die blonden jungen Frauen, ebenfalls für einen Ukrainer. Auch wenn Maksym eigentlich nie Klassiker zitiert. Und erst macht der schweigsame Osteuropäer seine Sache auch ganz gut. Aber dann beginnt er, neben dem Sohn auch den Vater zu sitten. Und von da an scheint es nur noch eine Richtung zu geben: abwärts. Ein Roman, wie ihn nur Dirk Stermann schreiben kann: komisch, grausig, herzerwärmend.

Dirk Stermann, geboren 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er zählt zu den populärsten Kabarettisten und Fernsehmoderatoren Österreichs und ist auch in Deutschland durch Fernseh- und Radioshows sowie durch Bühnenauftritte und Kinofilme weit bekannt. 2016 erschien sein Roman Der Junge bekommt das Gute zuletzt, und NDR Kultur urteilte: «Ein lustiger deutscher Medienstar, der als österreichischer Romancier sehr ernst genommen werden sollte.» 2019 folgte Der Hammer und 2022 Maksym.

Dirk Stermann, geboren 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er zählt zu den populärsten Kabarettisten und Fernsehmoderatoren Österreichs und ist auch in Deutschland durch Fernseh- und Radioshows sowie durch Bühnenauftritte und Kinofilme weit bekannt. 2016 erschien sein Roman Der Junge bekommt das Gute zuletzt, und NDR Kultur urteilte: «Ein lustiger deutscher Medienstar, der als österreichischer Romancier sehr ernst genommen werden sollte.» 2019 folgte Der Hammer und 2022 Maksym.

EINS Zehennebel


In dieser Geschichte komme ich nicht gut weg. Vielleicht hätte ich ja doch meine Handschuhe ausziehen sollen? Auf der Kärntner Straße hatte mich eine Wahrsagerin angesprochen. Die Dame mit dem bunten Halstuch und der tiefen Stimme fragte mich freundlich und in gebrochenem Deutsch, ob sie mir aus der Hand lesen dürfe. Es war Winter, und ich trug Handschuhe. Die Wollhandschuhe, die ich zu heiß gewaschen hatte. Jetzt waren sie verfilzt und eigentlich eine Nummer zu klein, aber ich trug sie trotzdem, obwohl ich meine Finger in dem steifen Gewebe kaum bewegen konnte. Handschuhe wie in Schockstarre. Trotzdem wärmten sie besser als keine Handschuhe, und ich wollte sie nicht ausziehen, und durch den Handschuh konnte sie nicht lesen.

«Ausziehen», sagte sie.

«Nein, zu kalt», entgegnete ich.

«Doch, ich will deine Hand sehen!»

«Nein, ich will nicht, dass Sie meine Hand sehen und dann irgendetwas Schlimmes vorhersagen. Ich will es lieber nicht wissen.»

«Doch, ich sage dir die Zukunft voraus. Ich bin Hellseherin.» Kalte Atemwolken drangen aus ihrem Mund. Als rauchte die Hexe ohne Zigarette.

«Nein, danke. Sehr freundlich. Und wenn Sie wirklich die Zukunft kennen, wissen Sie ja, dass ich meinen Handschuh nicht ausziehen werde.»

«Ich sehe die Zukunft, und ich sehe deine Hand in der Zukunft.»

«Na ja, vielleicht im Sommer mal. Aber jetzt hat es Minusgrade. Ich zieh den Handschuh nicht aus. Und wie gesagt, ich will es überhaupt nicht wissen.»

Sie starrte mich wütend an. In ihren überschminkten Wimpern funkelten Eiskristalle.

«Tja, also dann», sagte ich fröhlich und schritt ungelesen davon.

«Du wirst an der nächsten Straßenkreuzung totgefahren», schrie sie mir nach.

Vermummte Passanten schauten mich neugierig an. Ein Todgeweihter.

Ich ging über die nächste Straßenkreuzung bei der Staatsoper. Kein einziges Auto ringsumher. Vielleicht war sie gar keine echte Hellseherin, sondern einfach nur eine arme Frau aus einem südosteuropäischen Land. Ihr Fluch hatte auch eher etwas von Dunkelsehen. In Ungarn, der Ostslowakei oder Rumänien hatte sie sich entscheiden müssen, ob sie als Hellseherin oder beinlos bettelnde Frau arbeiten wollte. Sie hatte sich für Beine entschieden.

Statt des Autos, das mich totfuhr, kam ein Anruf aus New York.

 

Der Wetterbericht im Radio verkündete Zehennebel. Ich schaute auf meine Füße.

«Zähen Nebel», sagte Nina. «Die meinten zähen Nebel, nicht Zehennebel. Was soll das denn bitt schön sein: Zehennebel?»

Ich zuckte mit den Schultern und aß ein Stück von der kalten Pizza Caloria. Eigentlich sollte jede Pizza so heißen, selbst die mit Spinat oder ohne alles. Irgendetwas Unheimliches geschieht im Ofen mit dem Teig, das alle Kohlehydrat-Tabellen sprengt. Teig, Öl, Käse, Hitze. Unheilige Verbindungen. Und dann geht man auf wie der Teig selbst.

«Hab ich dir erzählt, dass ich gestern an einem Schulhof vorbeigegangen bin?»

Sie schüttelte den Kopf, wie sie es nur an Wochenenden tat. Langsamer als normal. Erschöpft von der ganzen Woche. In der Hand hielt sie ihre Kaffeetasse mit der Aufschrift «Carpe That Fucking Diem».

«Die Pizza ist von vorgestern», sagte sie, als wäre ich ihr Feind. Sie war wütend eingeschlafen, geladen aufgewacht und hatte sich diese Tasse genommen. Sie hätte auch die Tasse mit dem Reh nehmen können oder die mit dem schielenden Eichhörnchen, die mir von einem Schwerstbehinderten aus einem Heim in Niederösterreich geschenkt worden war. Nach meinem Auftritt war er gekommen und hatte mir die selbst bemalte Tasse lächelnd überreicht. Er sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte, und ich bedankte mich. Das Eichhörnchen schielt so stark, dass es seinen eigenen Schweif sehen kann. Den Oachkatzlschwoaf, den ich hervorragend aussprechen kann, sehr zum Ärger vieler Österreicher. Die sind immer enttäuscht, wenn der gschissene Deitsche sich da überhaupt nicht schwertut. Oachkatzlschwoaf, Oachkatzlschwoaf. Dafür kann ich Hendl noch immer nicht richtig aussprechen. Bei mir klingt es wie Händel. Wann immer ich dialektal versage, behaupte ich, in meinem Tal spräche man so.

«Dein Tal gibt es nicht», sagt Nina.

«Doch, es ist das Tal, in dem alle so sprechen wie ich», sage ich. Eine Melange aus Dialektwörtern des ganzen Landes.

«Neandertal?», tippt sie.

«Nein, zwischen Donau und Inn. Sehr versteckt.»

 

Die «Carpe That Fucking Diem»-Tasse hatte mir mein depressiver Lateinlehrer Guminski zum Abitur geschenkt. Er fuhr Fiat und wusste, was das in den späten Siebzigerjahren bedeutete.

«Fiat ist Latein und heißt: Es möge etwas geschehen. Das denke ich mir jedes Mal, wenn die Scheißkarre nicht anspringt. Also jedes Mal, wenn ich die Scheißkarre starten will.»

Ich hatte die Tasse jetzt schon über dreißig Jahre. Von Düsseldorf hatte ich sie mit nach Wien genommen, mehrmals umgezogen war ich mit ihr. Von der Papagenogasse in die Kettenbrückengasse, vom Rudolfsplatz in den Alsergrund. Verschiedene Frauen hatten in der Früh aus ihr getrunken.

«Und, was war auf dem Schulhof?», fragte Nina gelangweilt und schluckte den viel zu heißen Kaffee, ohne eine Miene zu verziehen. Sie ist komplett hitzeunempfindlich. Schält dampfende Kartoffeln mit der bloßen Hand, greift ohne Handschuh in Öfen, holt gekochte Eier ohne Löffel aus dem sprudelnden Wasser. Mit den Fingern. Würde es bei uns brennen, sie würde das Feuer mit der flachen Hand ausdämpfen.

«Da war ein kleines Mädchen. Vielleicht elf oder zwölf. Und sie schrie die anderen am Pausenhof an: Wenn ich erst die Pille nehme, ficke ich euch alle vom Platz!»

«Wow. Tolle Geschichte. Weißt du, du bist ein wunderbarer Mensch, aber ich mag dich nicht», sagte sie, warf mir die «Carpe That Fucking Diem»-Tasse vor die Füße und stürmte hinaus. Der heiße Kaffee dampfte auf dem Boden.

«Also doch Zehennebel», rief ich ihr hinterher. «Das Radio hatte doch recht.»

Aber sie hörte mich wohl nicht mehr. Ich klebte die Tasse, legte mich ins Bett, das noch nach ihr roch, und nutzte den Tag. Mehrere Minuten lang. Dann stand ich auf und ging Hermann wickeln, und wie immer sang ich dabei mit ihm eine für ihn abgewandelte Version meines liebsten Arbeiterliedes. «So flieg, du flammende, du rote Fahne, voran dem Wege, den wir zieh’n. Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Säuglinge von Wien.»

Ich wickelte Hermann, so wie meine Mutter den anderen Hermann Stermann gewickelt hatte in den letzten Jahren seines Lebens, als er tablettensüchtig war und immer schwächer wurde.

«Jeden Tag habe ich deinen Opa gewickelt und gewaschen», hatte meine Mutter mir später erzählt. «Aus Scham hat er sich nie dafür bedankt. Wir schwiegen und taten, als gäb’s das nicht.»

«Als wäre er ganz normal aufs Klo gegangen?»

«Ja.»

 

Hermann Stermann war im Gefängnis auf die Welt gekommen. Sein Vater Heinrich war Polizist und wohnte mit seiner Familie im Gefängnis in Beeck, einem Stadtteil von Duisburg. Die Wohnung lag im Stockwerk über den Zellen und war gut belegt. Hermann, der kleine Peter, der andere Bruder, dessen Namen ich nie wusste, und die zwei Schwestern, die beide Diakonissen wurden. Meine Urgroßmutter, die nichts Einnehmendes an sich hatte und leer und böse wirkt auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das ich in meinem Arbeitszimmer hängen habe. Heinrich mit imposantem Backenbart, mein Großvater mit Segelohren, der kleine Peter schief sitzend auf einem zu großen Sessel im Fotostudio. Peter wirkt verschreckt. Vielleicht ahnte er schon den Magenkrebs, der ihm gegen Ende des Zweiten Weltkriegs während eines Bombenangriffs in einem Berliner Keller den Tod bringen sollte. Peter war Maler, der einzige Künstler in meiner Familie. Ein sehr düsteres Ölgemälde hängt in meinem Wohnzimmer. Ein Bahnübergang in einer Duisburger Arbeitersiedlung. Mattes Licht kommt von einer Laterne. Verschwommen erkennt man dunkle, gebeugte Körper, auf dem Weg zur Arbeit, es ist vielleicht sechs Uhr morgens, an einem Wintertag. Der Himmel hängt tief und schwarz. Das Bild ist wirklich bedrückend. Aber von meinem Großonkel. In der Schule sollten wir im Kunstunterricht mit Öl malen. Ich schlug vor, im Stil Peter Stermanns zu malen. Meine Lehrerin traute mir das nicht zu und überredete mich stattdessen, Ansichtskarten von Duisburg zu übermalen. Also gab ich auf den blauen Himmel einfach in dicken Schichten schwarze und graue Ölfarbe. Sonst veränderte ich die Karten nicht. Die fertigen Bilder sahen anders aus als die meines Großonkels, aber sie gefielen mir. Trotzdem bekam ich eine 5.

Meine Großtanten: resignative Mädchen, eins sechzehn, eins achtzehn, die ihre beste Zeit weder vor noch hinter sich haben. Von Duisburg-Beeck, wo es in meiner Vorstellung immer Winter und sechs Uhr früh war, direkt ins Diakonissen-Mutterhaus Kaiserswerth, in dem sie irgendwie lebten, bis sie starben und auf dem angrenzenden Friedhof ihre letzte Ruhestätte fanden.

Mein Urgroßvater steht in der Mitte seiner Familie. Heinrich, mit der soliden Anstellung. Als er ein junger Mann war, hatte sein Freund Theodor König ihn gefragt, ob er nicht mit einsteigen wolle in die Gründung einer Brauerei. Heinrich hatte abgewinkt: «Bier braut man nicht, das trinkt man. Gefängnisse sind sicherer. Eingesperrt wird immer.» Theodor König gründete also seine Brauerei allein und nannte sie nach sich selbst. König Pilsener.

Hätte Heinrich anders entschieden, wäre ich heute ein Bierbaron. Hat er aber nicht. Und so kam mein Großvater Hermann nicht im reicheren Duisburger Süden in einer Villa auf die Welt, sondern im Norden, in einem...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alleinerziehender Vater • Au Pair • Deutschsprachige Literatur • Familienleben • Gesellschafsroman • Kind • Österreich • Popliteratur • Roman • Satire • Sechs Österreicher unter den ersten fünf • trockener Humor • Ukrainer • Vater Sohn Beziehung • Wien • Willkommen Österreich
ISBN-10 3-644-01136-2 / 3644011362
ISBN-13 978-3-644-01136-6 / 9783644011366
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