Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie »The Expanse« haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.
Antrieb
Die Beschleunigung drückt Solomon in den Pilotensitz und legt sich wie ein Gewicht auf seine Brust. Die rechte Hand landet auf dem Bauch, die linke fällt auf die Polsterung neben seinem Ohr. Seine Fußgelenke werden gegen die Beinstütze gepresst. Der Schock trifft ihn wie ein Schlag, überfallartig. Sein Gehirn, das Produkt von Millionen Jahren der Evolution von Primaten, ist nicht darauf vorbereitet. Es betrachtet es als Angriff und dann als Sturz und dann als schrecklichen Traum. Die Jacht ist kein Produkt der Evolution. Ihre Alarmsignale sind rein informativer Natur. Übrigens, wir beschleunigen mit vier G. Fünf. Sechs. Sieben. Über sieben. Auf dem Monitor der Außenkamera schießt Phobos vorbei, und dann ist nur noch das Sternenfeld zu sehen, das so unveränderlich wirkt wie ein Standbild.
Es dauert fast eine Minute, bis er versteht, was passiert ist, dann versucht er zu grinsen. Das Hochgefühl lässt sein schwer arbeitendes Herz noch schwerer arbeiten.
Das Interieur der Jacht ist creme- und orangefarben. Das Steuerpult ist ein einfacher Touchscreen und so alt, dass es an den Rändern schon grau wird. Es ist nicht schön, aber funktional. Solide. Ein Alarm meldet, dass die Wasseraufbereitung ausgefallen ist. Solomon ist nicht überrascht – er überschreitet die zugelassenen Werte – und überlegt, wo genau die Fehlfunktion liegt. Da der gesamte Schub auf der Hauptachse des Schiffs lastet, tippt er auf das Rückflussventil des Tanks, aber er freut sich schon darauf, es zu überprüfen, sobald der Testflug vorbei ist. Das Gewicht seiner Hand verblüfft ihn, als er sie zu bewegen versucht. Eine menschliche Hand wiegt ungefähr dreihundert Gramm. Bei sieben G wären das nur knapp über zweitausend. Eigentlich sollte er sie noch bewegen können. Mit zitternden Muskeln schiebt er den Arm auf das Steuerpult zu. Er fragt sich, wie weit er die sieben G überschritten hat. Da die Sensoren festhängen, muss er es nach dem Flug herausfinden. Wie lang die Beschleunigung andauerte und welche Geschwindigkeit erreicht wurde. Einfache Mathematik. Ein Kind könnte es ausrechnen. Er macht sich keine Sorgen. Wieder greift er nach dem Steuerpult, dieses Mal mit aller Kraft, und spürt einen stechenden Schmerz und Feuchtigkeit an seinem Ellbogen.
Huch, denkt er. Er will die Zähne fletschen, aber das funktioniert auch nicht besser als das Grinsen. Das wird peinlich. Wenn er den Antrieb nicht ausschalten kann, muss er warten, bis der Treibstoff ausgeht, und dann Hilfe rufen. Es könnte problematisch werden. Je nachdem, wie schnell er beschleunigt, wird das Rettungsschiff lange Schub geben müssen. Vielleicht doppelt so lang wie er. Vielleicht brauchen sie ein Langstreckenschiff, um zu ihm zu gelangen. Die Treibstoffanzeige ist eine kleine Zahl in der unteren linken Ecke des Steuerpults, grün auf schwarz. Es ist schwierig, den Blick darauf zu fokussieren. Die Beschleunigung verformt seine Augäpfel. Hightech-Hornhautverkrümmung. Er kneift die Augen zusammen. Die Jacht ist für lange Beschleunigungsphasen konstruiert, und beim Start waren die Ausstoßtanks zu neunzig Prozent gefüllt. Das Display zeigt eine Schubphase von zehn Minuten. Der Treibstoffvorrat sinkt auf neunundachtzig Komma sechs Prozent. Das kann nicht stimmen.
Nach zwei weiteren Minuten fällt er auf neunundachtzig Komma fünf. Noch zweieinhalb Minuten später auf neunundachtzig Komma vier. Das bedeutet über siebenunddreißig Stunden Beschleunigung und eine Endgeschwindigkeit von knapp fünf Prozent c.
Allmählich wird Solomon nervös.
Er lernte sie vor zehn Jahren kennen. Das Forschungszentrum in Dhanbad Nova war eines der größten auf dem Mars. Drei Generationen später, nachdem die ersten Siedler sich in das Gestein und die Erde der zweiten Heimat der Menschheit gruben, waren Wissenschaft und Kultur so weit fortgeschritten, dass die unterirdische Stadt fünf Bars aufzuweisen hatte, auch wenn eine davon ein alkoholfreier Laden war, in dem die Jainas und wiedergeborenen Christen herumhingen. Die anderen vier verkauften den gleichen Alkohol und das gleiche Essen wie in der Verpflegungsstelle, nur dass dazu Musik und ein Wandbildschirm liefen, auf dem Tag und Nacht ein Unterhaltungsfeed von der Erde abgespielt wurde. Solomon und seine Kollegen trafen sich dort zwei- oder dreimal pro Woche, wenn die Arbeitsbelastung im Forschungszentrum nicht zu hoch war.
Meistens rekrutierte sich die Gruppe aus demselben Dutzend von Leuten. Heute waren es Tori und Raj von dem Wasserrückgewinnungsprojekt. Voltaire, die in Wirklichkeit Edith hieß. Julio und Carl und Malik, die alle in der Krebstherapie arbeiteten. Und Solomon. Der Mars, so hieß es, war die größte Kleinstadt im Sonnensystem. Fast nie tauchte jemand Neues auf.
Heute war eine Neue da. Sie saß neben Malik und hatte dunkles Haar und eine geduldige Miene. Ihr Gesicht war ein wenig zu spitz, um als klassische Schönheit durchzugehen, und sie hatte dunkle Haare auf den Unterarmen. Mit Mitte dreißig würden ihre Gene ihr ein kleines Schnurrbartproblem bescheren. Solomon glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber sobald er sich an den Tisch setzte, wurde ihm bewusst, dass er sich am Morgen nicht gründlich gekämmt hatte und dass seine Hemdsärmel ein wenig zu lang waren.
»Der Mars ist Amerika«, sagte Tori, während er sein Bierglas schwenkte. »Er ist genau das Gleiche.«
»Er ist nicht Amerika«, sagte Malik.
»Nicht so wie zum Schluss. So wie am Anfang. Überleg mal, wie lange es im sechzehnten Jahrhundert gedauert hat, von Europa nach Nordamerika zu reisen. Zwei Monate. Wie lange braucht man von der Erde hierher? Vier. Je nach Umlaufbahn sogar länger.«
»Worin er sich schon mal von Amerika unterscheidet«, sagte Malik trocken.
»Es ist dieselbe Größenordnung«, sagte Tori. »Ich will darauf hinaus, dass Entfernung in politischer Hinsicht in Zeit bemessen wird. Wir sind Monate von der Erde entfernt. Für die sind wir immer noch eine abtrünnige Kolonie. Als müssten wir ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen. Wie viele hier, allein an diesem Tisch, haben schon Anweisungen von jemandem bekommen, der noch nie die Schwerkraftsenke verlassen hat, aber trotzdem meint, er könnte uns vorschreiben, in welche Richtung wir forschen?«
Tori selbst hob die Hand, und Raj tat es ihm schnell nach. Voltaire. Carl. Malik, zögerlich. Tori grinste selbstgefällig.
»Wer sind die richtigen Wissenschaftler im System?«, fragte Tori. »Wir. Unsere Schiffe sind moderner und besser. Unsere Umweltforschung ist der auf der Erde mindestens ein Jahrzehnt voraus. Letztes Jahr haben wir die Selbstversorgung erreicht.«
»Das glaube ich nicht«, bemerkte Voltaire. Die Neue hatte noch nichts gesagt, aber Solomon beobachtete, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Sprecher richtete. Er sah zu, wie sie zuhörte.
»Selbst wenn wir noch ein paar Dinge von der Erde brauchen, können wir sie eintauschen. Scheiße, noch ein paar Jahre, und wir bauen sie im Gürtel ab«, schwächte Tori seine letzte Aussage ab und stellte zugleich eine neue, genauso unwahrscheinliche Behauptung auf. »Ich sage ja nicht, dass wir die diplomatischen Beziehungen abbrechen sollen.«
»Nein«, meinte Malik. »Du sagst, wir sollten unsere politische Unabhängigkeit erklären.«
»Ganz genau«, sagte Tori. »Weil Entfernung in Zeit bemessen wird.«
»Und Logik wird in Bier bemessen«, entgegnete Voltaire im gleichen Tonfall. Die Neue in der Runde lächelte über seine Parodie.
»Selbst wenn wir glauben, dass wir außer unseren Ketten nichts zu verlieren haben«, sagte Malik. »Warum sollten wir uns die Mühe machen? De facto regieren wir uns schon selbst. Darauf herumzureiten bringt nur Ärger.«
»Glaubst du wirklich, die Erde hätte es noch nicht bemerkt?«, fragte Tori. »Glaubst du, die Kids in den Labors auf Luna und in São Paulo sehen nicht zum Himmel hinauf und sagen: Dieser kleine rote Punkt macht uns noch fertig? Sie sind neidisch und haben Angst, und das zu Recht. Wenn wir unser eigenes Ding machen, und sie wollen was dagegen unternehmen, bleiben uns immer noch ein paar Monate Zeit. England hat seine Kolonien verloren, weil man mit einer Verzögerung von sechzig Tagen nicht die Kontrolle behalten kann, und bei hundertzwanzig Tagen erst recht nicht.«
»Na ja«, sagte Voltaire trocken. »Das und die Franzosen.«
»Und das war auch gut so«, sagte Tori, als hätte er sie gar nicht gehört. »Denn wer ist gekommen, als die Nazis an Englands Tür geklopft haben? Habe ich recht?«
»Hm«, sagte Solomon, »eigentlich nicht. Du hast gerade ein Argument für die Gegenseite geliefert. In Wirklichkeit sind wir die Deutschen.«
Weil er das Wort ergriff, sah die neue Frau ihn an. Er spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog, und trank einen Schluck Bier. Wenn er jetzt spräche, würde seine Stimme brechen wie die eines Vierzehnjährigen. Voltaire stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn in ihre dunklen Hände und zog die Brauen hoch. Ihre Miene hätte die Überschrift Jetzt sollte was Gutes kommen tragen können.
»Okay«, sagte Malik, als hätte er seine Meinungsverschiedenheit mit Tori vergessen. »Ich bin ganz Ohr. In welcher Hinsicht sind wir wie ein Haufen mörderischer Faschisten?«
»Durch die Art, wie wir kämpfen würden«, sagte Solomon. »Die Deutschen hatten die fortschrittlichste Wissenschaft, genau wie wir. Sie hatten die beste Technik. Sie hatten Raketen. Niemand außer ihnen hatte Raketen. Ein Panzer der Nazis war im Gefecht so viel wert wie vier oder fünf der Alliierten. Sie hatten die besten U-Boote und Raketenwerfer und die ersten Düsenflugzeuge. Sie waren...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Reihe/Serie | The Expanse-Serie | The Expanse-Serie |
Übersetzer | Marcel Häußler |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2022 • Aliens • Amazon Prime TV-Serie • eBooks • Kurzgeschichten • Neuerscheinung • Novelle • Raumfahrt • Sammelband • Science-fiction • Space Opera • The Expanse |
ISBN-10 | 3-641-28906-8 / 3641289068 |
ISBN-13 | 978-3-641-28906-5 / 9783641289065 |
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