Der Bär (eBook)
176 Seiten
Diederichs (Verlag)
978-3-641-28819-8 (ISBN)
Ein Mann und seine kleine Tochter leben allein am Fuße eines Berges. Sie besitzen nur wenig, was die Menschen hinterlassen haben. Der Mann zeigt der Tochter alles, was sie zum Überleben braucht und weist sie ein in die Geheimnisse der Jahreszeiten und den Lauf der Sterne. Er bereitet sie darauf vor, wie sie als Mensch Teil der Natur wird. Später als junges Mädchen ist sie herausgefordert, sich allein zurechtzufinden. Es ist ein Bär, der sie begleitet und ihr die elementarsten Weisheiten vermittelt, die sie braucht, um sich einzufinden im großen Ganzen.
Der Autor erzählt in seinem preisgekrönten Roman atmosphärisch und bildhaft davon, was den Menschen ausmacht, wenn es keine Zivilisation und keine Mitmenschen mehr gibt, sondern wenn nur noch die Natur und das Universum die Existenz bestimmen.
»Der Bär« erhielt unter anderem folgende Auszeichnungen:
Mountain Book Competition Winner 2020
New York Public Library »Best Books of the Year« selection 2020
Massachusetts Book Awards 2021
Mass Book Awards 2021
Andrew Krivak ist ein mit Preisen ausgezeichneter amerikanischer Schriftsteller. All seine Bücher zeugen von der Suche danach, was Menschsein ausmacht. Er hat acht Jahre im Jesuitenorden gelebt. Heute wohnt er mit seiner Frau und drei Kindern in der Nähe von Massachusetts und New Hampshire/USA. Der Bär ist seine erste deutschsprachige Veröffentlichung. Der im Original mehrfach preisgekrönte Roman wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Die letzten beiden waren ein Mädchen und sein Vater. Sie lebten entlang einer alten östlichen Gebirgskette auf der Flanke eines Berges, welchen sie den Berg, der allein steht, nannten. Der Mann war mit einer Frau hierhergekommen zur Zeit ihrer Jugend, und hatte ein Haus gebaut aus Holz, Steinen und Mörtel, den sie aus Lehm und Sand mischten. Es war auf halber Höhe des Abhangs errichtet und bot Aussicht auf einen von Birken und Heidelbeersträuchern umsäumten See. Die Sträucher reiften im Sommer zu großen Fruchtbündeln, die vom Mädchen und seinem Vater gepflückt wurden, während sie in einem Kanu am Ufer vorbeitrieben. Auf der Vorderseite des Hauses war ein kleines Fenster – das Glas war ein Geschenk der Eltern der Frau, nachdem sie selbst es von der Generation vor ihnen empfangen hatten. Es war ein kostbares Gut geworden, da die Fertigkeit zu seiner Herstellung verloren und vergessen war. Durch das Glas konnte das Mädchen am Morgen sehen, wie Adler an den seichten Stellen einer Insel, die sich inmitten des Sees erhob, Fische fingen, und die Schreie der Seetaucher hören, solange sein Frühstück über dem Herdfeuer garte.
Im Winter begann der Schnee bald nach der Herbst-Tagundnachtgleiche zu fallen, und noch Monate nach dem Frühling suchte er den Berg heim. Stürme dauerten jeweils Tage und Wochen, die Wehen wirbelten aufwärts gegen das Haus und begruben die Wege so tief unter sich wie manche Bäume in die Höhe wuchsen. Oft musste der Mann mit einem um die Hüfte geschlungenen Seil durch den Schnee waten, um Feuerholz zu sammeln oder seinen Geräteschuppen am Rand des Waldes zu erreichen.
Doch als die Winde sich legten, die Himmel aufklarten und die tief stehende Sonne wieder schien, wickelte der Mann das kleine Mädchen warm und fest in eine Decke, packte es in seinen Rucksack und schritt hinaus in die Stille des Winters. Er glitt auf Schneeschuhen, gefertigt aus Eschenzweigen und Rohleder, hinunter zum gefrorenen See, wo die beiden den Tag damit verbrachten, Forellen und Barsche durch das Eis zu angeln.
Von der Bergspitze bis zum See bedeckte der Schnee einen so großen Teil der Welt des Mädchens, dass es beim Blick aus dem Fenster fast das halbe Jahr nur eine stille, reglose Landschaft unter einem weiß ausgebreiteten Teppich sehen konnte.
Doch wie lang der Winter auch dauerte, es folgte der Frühling; seine Ankunft war sanft und einigermaßen überraschend, ähnlich den Klängen von Vogelgesang beim Aufwachen oder dem klopfenden Ton eines Wassertropfens, der vom Zweig zur Erde fällt. Während der Schneeschmelze traten schwarze Felsen, graue Flechten und Schichten braunen Laubs aus dem vormals gleichförmig gefärbten Waldboden hervor. Auch die feinen silbrigen Umrisse der Bäume hellten sich allmählich auf mit grün schimmernden Blättern und hoben sich ab von den Gruppen der Hemlocktannen und Kiefern. Das waren die Tage, an denen das Mädchen in der Früh mit seinem Vater das Haus verließ und eine neue Welt erforschte, die aus dem Erdreich empordrang und aus dem Wasser am Rand des Sees auftauchte; Tage, an denen es unter der warmen Sonne auf dem Boden lag und sich fragte, ob die Welt und die Zeit selbst wie Falke und Adler waren, die über ihm in weiten Bögen immer höher stiegen – wohl wissend, dass diese nur einen Teil ihres Flugs bildeten, denn sie mussten von irgendwoher gekommen sein und an einen Ort zurückkehren, der für das Mädchen noch unsichtbar war, den es noch nicht kannte.
Allerdings gab es in den vier Jahreszeiten einen Tag, den das Mädchen am liebsten mochte: die Sommersonnenwende, den längsten Tag des Jahres. Der Tag, an dem es zur Welt gekommen war, wie der Mann ihm erzählt hatte. Und so überreichte er ihm immer am Vorabend der Sonnenwende ein Geschenk. Es erinnerte sich nicht an die ersten Gaben, die es bekommen hatte, die ihm dennoch besonders wertvoll waren. Ein geschnitzter, derart naturgetreu wirkender Holzvogel, als ob er fliegen könnte. Ein aus Rehleder und Flechse hergestellter Beutel, der der Mutter gehört hatte und in dem es farbige, am Seeufer gefundene Steine aufbewahrte. Einen aus massivem Eichenholz geformten Wasserbecher, aus dem es trank. Eine bemalte Schildkröte, die den Händen des Mannes entschlüpfte, als er sie öffnete, und die es den Sommer über als Haustier hielt, im Herbst dann unten am See freiließ.
Am Vorabend des Tages, an dem seine Tochter fünf wurde, reichte ihr der Vater nach der Mahlzeit eine Schale mit frischen Erdbeeren und sagte: Heute habe ich ein besonderes Geschenk für dich.
Er gab ihr eine aus Birkenrinde hergestellte Schachtel, um die ein langer getrockneter Grashalm zur Schleife gebunden war. Sie löste sie und öffnete die Schachtel. Darin befand sich ein blank polierter Silberkamm, der so anders aussah als alles, was sie bisher zu Gesicht bekommen hatte.
Lange blieb ihr Blick daran haften, bis der Mann das Schweigen brach.
Dies war der Kamm deiner Mutter, sagte er. Ich habe auf den Moment gewartet, ihn dir zu geben. Als mir auffiel, wie du unten am Seeufer mit deinem Haar gekämpft hast, dachte ich: Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.
Das Mädchen griff in die Schachtel, nahm den Kamm heraus und hielt ihn vor sich wie einen edlen, ehrwürdigen Gegenstand.
Ich liebe ihn, sagte es leise, schloss die Hand um den Kamm, kletterte in die Arme seines Vaters und umarmte ihn.
So weit die Erinnerung des Mädchens zurückreichte, hatte es nur die Stimme des Mannes im Ohr, weshalb ihm nie die Frage in den Sinn kam, ob da noch eine andere Person war, die früher einmal ebenfalls zu ihm gesprochen hatte. Aber als es alt genug war, sich vom Haus zu entfernen und in die Wälder oder hinunter zum See zu laufen, fiel ihm etwas an den Tieren auf. Zwei Füchse flitzten mit ihren Welpen aus dem Bau unter einem umgestürzten Baumstamm heraus und kehrten geschwind wieder dorthin zurück. Jeden Sommer geleiteten zwei Seetaucher ihr Küken über die tiefe Mitte des Gewässers. Und als das Mädchen im Frühjahr Rehe auf einer kleinen Wiese am Fuß des Berges äsen sah, waren die Kitze dicht an ihrer Seite. Nachdem es also gelernt hatte, sich mit dem Kamm durchs Haar zu fahren, und der Mann es eines Abends ins Bett brachte, ihm dann einen Gutenachtkuss gab, blickte es zu seinem Vater auf und fragte: Warum bist du allein?
Der Mann kniete neben dem Bett nieder.
Ich bin nicht allein, sagte er. Ich habe dich.
Ich weiß, erwiderte das Mädchen. Ich meine, wohin ist meine Mutter gegangen? Überall um mich herum sind Dinge, die deinen Worten zufolge einmal ihr gehörten. Aber sie ist nicht hier.
Sie ist hier, sagte er. In dem, was wir von ihr erinnern.
Aber ich erinnere mich nicht an sie. Was ist mit ihr geschehen?
Der Mann senkte den Kopf, hob ihn wieder und erzählte seiner Tochter: Als er und die Frau nach dem Tod beider Eltern zu dem Berg kamen und ihr Haus bauten, sei sie die ganze Welt gewesen, die er kannte. Eine Zeit lang habe er geglaubt, dass sie auf sich allein gestellt für den Rest ihrer Tage in dieser Welt leben würden. Bis die Frau bemerkte, dass sie ein Kind in sich trug.
Mich, sagte das Mädchen.
Dich, bestätigte der Mann. Doch als es so weit war, musste sie schwer kämpfen, um dich zur Welt zu bringen. Und nach diesem Kampf konnte sie nichts anderes tun, als dich zu stillen und auszuruhen. Sie war stark. Stark genug, den Sommer bis in den Herbst zu überstehen, um dir die Milch und Nahrung zu geben, die sie zu geben imstande war. Bald wusste ich aber, dass sie uns verlassen und zu jenem Ort aufbrechen würde, wohin sie der Kampf, ein Kind zu gebären, geführt hatte, und dass weder du noch ich ihr folgen konnten. Und eines Abends vor dem Jägermond schlief sie ein und wachte nicht mehr auf.
Der Mann wandte sich kurz ab, um den Blick ins Dunkel zu werfen, dann richtete er ihn wieder auf seine Tochter. Sie setzte sich auf, streckte die Hand unter der Bettdecke hervor und ergriff seine.
Ist schon gut, besänftigte sie. Ich verstehe.
Er lächelte und sagte: Du bist ein kluges Mädchen. Aber es gibt noch vieles, das du nicht verstehen kannst. So vieles, das zu verstehen dir erspart bleiben sollte. Vorläufig jedenfalls.
Was zum Beispiel?, fragte sie.
Nun, zum Beispiel wie ich selbst nach all diesen Jahren, in denen ich dich anhielt, über jede Minute jedes Tages nachzudenken, noch immer an sie denke. Ich vermisse sie nach wie vor und wünschte, sie wäre hier.
Das Mädchen ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken.
Werde ich dich eines Tages vermissen?, fragte es.
Eines Tages, erwiderte der Mann.
Seine Tochter wurde still, und er dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen, aber plötzlich fragte sie in die Nacht hinein: Bist du traurig, dass du mich hast anstatt sie?
Oh nein, keinen Augenblick!, antwortete der Mann mit einer Stimme, die für das kleine Zimmer zu laut war, und drückte ihre Hand fester. Keinen Augenblick. Weißt du, du bist die Freude jenseits jeder Trauer oder jedes verbliebenen Wunsches nach dem, was einmal war. Ohne dich ...
Er verstummte und starrte auf den Boden, um sie dann erneut zu betrachten.
Ohne dich wäre ich nichts als allein, sagte er.
Und ohne dich wäre ich nichts als allein, erwiderte sie.
Mit der Sommerdämmerung war ein Schimmer des Mondlichts durch das Fenster ins Haus eingedrungen, und der Mann konnte Züge der Frau im Gesicht seiner Tochter erkennen.
Ich weiß, was wir tun werden, fuhr er fort. Morgen werden wir zum Gipfel des Berges steigen, wo deine Mutter ruht. Sie liebte den Berg und meinte oft, der Gipfel sehe aus wie ein Bär. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Übersetzer | Jochen Winter |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Bear |
Themenwelt | Literatur ► Märchen / Sagen |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung | |
Schlagworte | 2022 • Allein • Charlie Mackesy • Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd • dystopie fantasy • eBooks • Einsamkeit • Einssein mit allem • Märchenbuch • Motivation • Nahrung und Heim • Natur • Neuerscheinung • Persönlichkeitsentwicklung • Positives Denken • Ratgeber • Selbsterfahrung • Selbstwert • Survival • The Bear • Trauer • Träume • Verlust |
ISBN-10 | 3-641-28819-3 / 3641288193 |
ISBN-13 | 978-3-641-28819-8 / 9783641288198 |
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