Schimmernder Dunst über CobyCounty (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30442-8 (ISBN)
Leif Randt, geboren 1983 in Frankfurt a.M., arbeitet als freischaffender Schriftsteller in Maintal und Berlin. Ebenfalls von ihm erschienen sind die Romane »Leuchtspielhaus« (2009) und »Planet Magnon« (2015). Sein neuestes Buch »Allegro Pastell« (2020) wurde zum Bestseller und war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ausgezeichnet wurde seine Arbeit zuletzt mit dem Mörike-Preis der Stadt Fellbach (2021) sowie mit Aufenthaltsstipendien in Japan (2016) und Irland (2019). Seit 2017 co-kuratiert er das Programm auf tegelmedia.net.
Leif Randt, geboren 1983 in Frankfurt a.M., arbeitet als freischaffender Schriftsteller in Maintal und Berlin. Ebenfalls von ihm erschienen sind die Romane »Leuchtspielhaus« (2009) und »Planet Magnon« (2015). Sein neuestes Buch »Allegro Pastell« (2020) wurde zum Bestseller und war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ausgezeichnet wurde seine Arbeit zuletzt mit dem Mörike-Preis der Stadt Fellbach (2021) sowie mit Aufenthaltsstipendien in Japan (2016) und Irland (2019). Seit 2017 co-kuratiert er das Programm auf tegelmedia.net.
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Am Valentinstag finden jedes Jahr Filmpremieren im Promenadenkino statt. Dieses Jahr ist es eine leicht farbkorrigierte Langversion von ›Schimmernder Dunst über CobyCounty‹, also eigentlich gar keine echte Premiere, trotzdem sind die Tickets seit Wochen hart umkämpft. Sieben wurden in die Agentur geschickt, fünf hat sich mein Chef Calvin Van Persy persönlich mitgenommen, zwei blieben übrig. Ich habe Carla gar nicht erst gefragt. Zum einen ist sie noch immer stark erkältet, zum anderen weiß sie, dass die Filmpremieren am Valentinstag für Wesley und mich eine lange Tradition haben. Seit wir mit der Highschool fertig sind, waren wir dort jedes Jahr, anfangs mit den Eintrittskarten, die unseren Dads zugesandt wurden, später mit den Akkreditierungen unserer Hochschule. ›Schimmernder Dunst über CobyCounty‹ ist ein kritischer Dokumentarfilm über das leichte Leben in unserer Stadt, eine französische Jungregisseurin gewann damit vor zwei Jahren den Spezialpreis beim Festival von Cannes. Es heißt zwar, dass sie diesen Preis auf keinen Fall verdient habe, doch seit der Film in europäischen Programmkinos gezeigt wurde, kommen noch mehr attraktive Touristen im Frühling.
Wesley gibt Führungen im CobyCountyArthouse, dem konservativsten und teuersten Museum der Stadt. Während der Arbeit muss er helle Pullover und marineblaue Hosen tragen. Alle Mitarbeiter des Museums sehen wie Seemänner aus alten Bilderbüchern aus. An Feiertagen sind sie sogar angewiesen, die dazu passenden Mützen aufzusetzen. Wesley weigert sich, so eine Mütze zu tragen, denn er findet Uniformen bedenklich. Sobald es um die Seemannsmützen geht, verhält er sich wie ein Sechzehnjähriger. In Wahrheit wird Wesley am siebzehnten Mai aber schon siebenundzwanzig. Früher hat mir die Idee gefallen, sich bis in den Joballtag hinein ein Stück Pubertät zu erhalten, doch mittlerweile ermüdet mich Wesleys Art manchmal, denn eigentlich geht es ihm ja gut. Er hat dunkelblondes, schulterlanges Haar, und wenn er an heißen Tagen in Badehose an einem Strandkorb lehnt, dann sieht er aus wie ein braun gebranntes einundzwanzigjähriges Herrenmodel. Eigentlich braucht er sich nicht zu beklagen.
Als er mich in der Agentur abholen will, ist es noch viel zu früh, die Premiere beginnt erst in zwei Stunden, also koche ich Kaffee und stelle uns einen Teller mit Obst auf den alten Eichenholztisch in der Küche. Die Kaffeemaschine arbeitet fast geräuschlos. Van Persy hat sie an einem Dienstag im Internet bestellt und schon am Mittwoch wurde sie von einem hageren Postbeamten in die Agentur getragen. Jedenfalls trinke ich jetzt jeden Tag mindestens zweimal Kaffee und es kommt mir tatsächlich so vor, als würde mich das optimistischer und produktiver machen. Dass ich Kaffee erst jetzt mit Mitte zwanzig kennengelernt habe, nachdem andere sich schon in ihrer Highschoolzeit ständig Pappbecher am Automaten abgefüllt haben, bringt mich manchmal zum Lächeln. Es ist ein bitteres Lächeln, denn im Kern lächle ich ja darüber, dass ich nach all den Jahren eingeknickt bin, und darüber, dass die anderen immer recht hatten. Ich gieße den Kaffee in Tassen, die mit Tiergesichtern bedruckt sind. Tiergesichter: das ist so ein Running Gag zwischen Wesley und mir.
Durch alle Fenster der Agentur kann man das Meer sehen. »Ich gehe irgendwie davon aus, dass es in CobyCounty ausschließlich Büros gibt, die von Licht durchflutet werden«, sage ich zu Wesley, der mir heute etwas verschwiegen erscheint, und Wesley sagt: »Ja. Davon gehe ich auch aus.« Wir schütten Rohrzucker in unsere Tiertassen und schauen in den farblosen Nachmittag hinter den Scheiben. Die Wolkendecke ist zwar zu dünn, als dass es aus ihr regnen könnte, doch erst ab Anfang März wird die Sonne wieder aus einem durch und durch blauen Himmel auf CobyCounty herunterbrennen. Nicht immer habe ich Augen für unser Panorama. Vielleicht kann man sich nicht sechsundzwanzig Jahre lang jeden Abend neu davon überwältigen lassen, wie die Sonne glühend im Meer versinkt und dann auf dem Pier die Lichterketten angehen. Vielleicht lasse ich mich manchmal aber auch nicht genug darauf ein.
Wesley hält seine leere Kaffeetasse vors Fenster. Er trinkt alles immer sehr schnell. »Was ist das eigentlich für ein alter Tisch?«, fragt er und befühlt das Eichenholz. Ich sage: »Calvin Van Persy hat ihn aus dem Haus seiner Großmutter mitgebracht. Der Tisch soll der Agentenküche die Seele geben, die auch gute Texte brauchen.« Wesley grinst und ich erwidere sein Grinsen. Augenblicke später schlägt er vor, einen Umweg durchs Industriegebiet zu fahren.
Im Industriegebiet haben die Lokale im Frühling vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Am Valentinstag schließen sie nicht vor drei Uhr nachts. Wir fahren auf alten Damenrädern an gut besuchten Suppenrestaurants und koreanischen Bistros vorbei. Es wird jetzt schlagartig dunkel. Ich kann Wesleys Dynamo summen hören, obwohl seine Lampe kaum leuchtet. Wir würden niemals ohne Licht fahren, dafür immer sehr schnell. Das bewahren wir uns: dieses sportliche Fahren im Stehen. Wir durchschneiden CobyCountys wandlungsfähigsten Bezirk und unsere halb geöffneten Regenjacken blasen sich im Wind auf. Viele der ehemaligen Fabrikräume von Colemen&Aura sind hell erleuchtet, und selbst im Vorbeirasen sehe ich, wie in einem der ersten Stockwerke eng getanzt wird. Soweit ich weiß, nehmen dort Paare jenseits der fünfunddreißig an therapeutischen Tanzkursen teil. In der Nacht, in der ich zum dritten Mal mit Carla geschlafen habe, waren wir dort in einem Seminar für neueren Flashdance. Als jüngste Teilnehmer brachten wir der Veranstaltung zu wenig Ernst entgegen und kehrten nie zurück. Heute leben Carla und ich unsere erwachsen gewordene Liebe primär via Shortmessages aus. Wir waren noch nie gut im Telefonieren. Durch die Leitung klingt meine Stimme auch dann müde und genervt, wenn ich gar nicht müde und genervt bin. Carlas Art, schriftlich immer neue, simple Metaphern dafür zu finden, dass sie mich sehr vermisst, gefällt mir.
Das Premierenpublikum hat sich im großen Empfangssaal des Kinos versammelt. Es steht mit seinen Straßenschuhen auf dickem, bordeauxrotem Teppich und viele halten sich wegen des Valentinstags an den Händen. Das Kino wurde erbaut, als sich CobyCounty gerade zur Kurstadt entwickelt hatte und vor allem alte Colemen&Aura-Kunden hier Bäder genommen und Fisch gegessen haben. Zu dieser Zeit hat es an jedem vierzehnten Februar Paraden gegeben, auf denen neue Produkte präsentiert wurden, insbesondere Parfums und edle Seifen. Die Aufzeichnungen, die es von diesen Paraden gibt, kursieren heute in manchen Onlineforen, sie werden zu Musikvideos verfremdet und als Grußkarten verschickt. Das CobyCounty von damals ist trotz dieser Videobeweise für manchen kaum vorstellbar. Meinem Geschichtsunterricht zufolge haben die Halbgeschwister Jerome Colemen und Steven Aura, die zwei wohlhabende Drogeristen waren, in CobyCounty zunächst nur eine sonnige Produktionsstätte für Hygiene- und Schönheitsartikel gesehen. Mit dem Bau ihrer ersten Beautyfarm hätten sie wenige Jahre später, eher unbewusst als kalkuliert, den Grundstein für die gesamte Kultur- und Tourismusszenerie der Stadt gelegt. In den Folgejahren habe es dann immer mehr junge Avantgardisten an diesen unverbrauchten, am Meer liegenden Ort gezogen, sodass CobyCounty facetten- und temporeich heranwachsen konnte. International wird diese Entwicklung teils als ›fragwürdiges Industriemärchen‹ bezeichnet. Ohne die ›mächtigen Investoren aus der Kosmetikbranche‹ wäre auch das ›individuelle Engagement der jungen Zugereisten‹ undenkbar gewesen, heißt es da. Oft wird auch vor dem örtlichen Klima gewarnt, dieses könne jederzeit prekäre Situationen erzeugen. Mich haben solch indirekte Anfeindungen nie besonders beschäftigt, schließlich leben wir alle gerne hier. Unser Frühling ist fantastisch und stabil, der Sommer drückend, der Herbst mild, nur im Winter müssen wir uns vor Starkregenschauern in Acht nehmen. So ist unser Klima nun mal, und eigentlich fiele niemandem ein, sich darüber zu beklagen.
In der Menschenmenge im Kinofoyer entdecke ich zwei meiner Autoren. Sie sind als Paar gekommen, sie ist neunzehn, er einundzwanzig. Wenn ich die beiden nun sehe, entstehen allerhand Bilder vor meinen Augen, die ich aus ihren Texten kenne: erotische Szenen, abgründige Szenen und Szenen, die ich streiche. Weil die Autorin mir das sicher ansieht, lächelt sie leicht verlegen. Ich umarme zuerst sie, dann ihren Freund, beide auf meine neue, herzliche Art. Es kommt zu einem kurzen verbindlichen Drücken. Danach prosten wir uns zu und sagen: »Bis bald.«
Die Kinositze wurden neu bezogen, mit leicht aufgerautem, glänzendem Samt. Die Lehnen sind riesig und ich habe das Gefühl, dass sie schlecht für den Rücken sind. Wesley scheint neben mir zu versinken, er hatte nun schon einige Biere. Ich stelle eine Portion Eiskonfekt zwischen uns. Von überall her kann man es rascheln und knuspern hören. Die jungen Leute in CobyCounty sind Fans von redundanten, kleinen Snacks, trotzdem ist fast niemand übergewichtig. Das liegt vermutlich an unserer Liebe zum Sport, denke ich, während ein quadratisches Eiskonfektstück in meiner Mundhöhle zergeht. Mit Beginn des Films wird angetrunken applaudiert.
Auf der Leinwand ist zuerst unser Strand zu sehen, an einem eisblauen Tag, vermutlich im April. Zu hören ist nur das Meer. Es folgt ein trockener Schnitt in den irren Karneval des Industriegebiets: Mädchen und Jungs Anfang zwanzig, die sich in den Armen...
Erscheint lt. Verlag | 10.2.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | allegro pastell • Ironie • Junge deutsche Literatur • Longlist dbp 2020 • Parabel • Planet Magnon • Satire • Spiegel-Bestseller-Autor • Utopie |
ISBN-10 | 3-462-30442-9 / 3462304429 |
ISBN-13 | 978-3-462-30442-8 / 9783462304428 |
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Größe: 1,4 MB
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