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Nullerjahre (eBook)

Jugend in blühenden Landschaften

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30258-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nullerjahre -  Hendrik Bolz
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Vom Austeilen und Auf-die-Fresse-Kriegen: eine Nachwendejugend in Mecklenburg-Vorpommern. Hendrik Bolz, geboren 1988, ist in Stralsund aufgewachsen, im nordöstlichsten Winkel Deutschlands, in einer Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr »DDR« heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind dieselben Nullerjahre. Während in den Plattenbauten von Knieper West immer mehr Erwachsene die Suche nach einem Platz im neuen System aufgeben, nehmen Hendrik und seine Freunde die Herausforderung an: Sie finden Auswege aus der Langeweile und Fluchtwege, um keine Prügel zu kassieren. Langsam zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre, an die Stelle der Springerstiefel treten Turnschuhe, die Böhsen Onkelz werden von Aggro Berlin abgelöst, die Optionen bleiben die gleichen: Fressen oder Gefressenwerden. Im Kindergarten, in der Schule und im Fußballverein haben sie gelernt, dass ein großer Junge nicht weint und dass der Klügere nur so lange nachgibt, bis er der Dümmere ist. Nun gilt es, härter zu werden, um, wenn es drauf ankommt, dem anderen die Nase zu brechen. Und stumpfer zu werden, um dabei nicht zu zögern. Die Mittel finden sich - Kraftsport, Drogen, Rap. Und bald sind es neue »Kleine«, die sich verstecken müssen. Hendrik Bolz erzählt eindringlich von einem Jahrzehnt im Osten Deutschlands, das uns ein Stück bundesrepublikanische Gegenwart erklären kann.

Hendrik Bolz, geboren 1988 in Leipzig, zog Ende der Nullerjahre von Stralsund nach Berlin, wo er ein Studium in den Sand setzte, in der Redaktion der Internetseite rap.de arbeitete und schließlich beschloss, selbst Rapper zu werden. Heute bildet er eine Hälfte der Band Zugezogen Maskulin und ist Host des Podcasts »Zum Dorfkrug«.

Hendrik Bolz, geboren 1988 in Leipzig, zog Ende der Nullerjahre von Stralsund nach Berlin, wo er ein Studium in den Sand setzte, in der Redaktion der Internetseite rap.de arbeitete und schließlich beschloss, selbst Rapper zu werden. Heute bildet er eine Hälfte der Band Zugezogen Maskulin und ist Host des Podcasts »Zum Dorfkrug«.

Inhaltsverzeichnis

TEIL EINS


GAMEBOY


Ich muss kacken wie Sau, die Scheiße drückt, der Magen krampft, doch unsere Herberge ist zugesperrt und kein Erzieher in Sicht. Beschissene Schnitzeljagd, beschissenes Ferienlager, wo sind denn alle plötzlich? Okay, dann halt so wie früher am Strand hinter den Dünen: Busch suchen, Loch graben, Hose runter, reinkacken, abwischen … abwischen … abwischen … abwischen … Mist, ich hab ja gar nichts zum Abwischen! Kein Taschentuch dabei und rings um mich nur Kiefernnadeln und winzige Buschblätter. Ich muss also doch auf eine richtige Toilette, muss irgendwie in unsere Räume kommen, ziehe die Hose auf halbmast, schiebe mit den Sandalen die ausgegrabene Erde über meine stolze Wurst und schlurfe durch die Büsche Richtung Gebäude. Ein Fenster zu unserem Zimmer steht auf Kipp, ich kann es an den Seiten aushaken und mich durchquetschen, Kopf und Oberkörper sind schon drin, Puller und blanker, braun verschmierter Arsch noch an der Luft. Zum Glück niemand in Sicht.

Es quietscht, es schmerzt, ich ächze, kämpfe, der Hintern ist durch und wenig später stehe ich im Zimmer. Ein vollgemüllter Tisch, vier Stühle, zwei Schränke und zwei Doppelstockbetten.

Patsch, patsch, patsch.

Mit Sandaletten auf dem klebrigen Linoleum quer durchs Zimmer Richtung Flurtür.

Da oben im Bett über mir schläft mein bester Freund Tino, der wohnt auch in Knieper West, den kenn ich seit dem Kindergarten, wahrscheinlich schon seit der Krippe. In meiner Erinnerung seh ich einen großen Raum gefüllt mit weißen Gitterbetten und bin sicher, er hat schon damals neben mir gepennt. Auch auf der Grundschule Rosa Luxemburg waren wir in einer Klasse und in ein paar Wochen wechseln wir auf das Gymnasium bei uns im Viertel. Tino ist cool, frech und stark, hat immer die richtigen Sprüche parat und prügelt sich mindestens genauso oft und gut wie ich. Schlau ist er außerdem auch, sein Zeugnis aus der Vierten ist wie meins voller Einsen, dafür mussten wir gar nicht lernen, das geht einfach so und umso mehr Zeit haben wir zum Draußen-Rumhängen: Fußball spielen, klauen, Chips futtern und Cola trinken. Mit Tino hab ich mir meine erste Kippe geteilt, Tino zieht auch schon Gas und trinkt Bier, aber man muss ja auch nicht alles nachmachen.

Im anderen Doppelstockbett pennen ein Rostocker und ein Neubrandenburger. Der Rostocker ist schon vierzehn, hat die ganze Tasche voller Koffeintabletten und Bravos, liest ständig die Dr.-Sommer-Fragen vor, zeigt uns die nackten Titten und Muschis und erklärt, wie man richtig wichst. Allgemein ist der komisch, sieht komisch aus: weite Jeans, die immer unterm Arsch hängen, lange Shirts und breite ausgelatschte Turnschuhe, mit ganz dicken roten Schnürsenkeln. Mit Abstand hat er auch die längsten Haare von uns allen, da würd ich gern mal mit der Haarschneidemaschine ran, die fallen ihm auf die Schulter wie ein fussliger Teppich, richtige Mädchenfrisur. Noch nie hab ich so einen Typen in echt gesehen, ganz verrückt sieht der aus, wie jemand auf MTV oder VIVA. So spannend wie Dr. Sommer aus Rostock ist, so langweilig ist der Neubrandenburger. Wenn die fette Sau nicht vor Heimweh flennt, hockt er allein im Zimmer und zockt Donkey Kong auf dem Gameboy. Lehrer und Erzieher wollen einem immer erzählen, dass man sich nicht ständig gegenseitig ärgern und prügeln muss, dass man Kindern, die man nicht mag, doch auch einfach aus dem Weg gehen kann.

Kann ich aber nicht.

Patsch, patsch, patsch.

Am Fußende von Donkey Kongs Bett liegt eine Reisetasche, aus der seine selbst gebastelte Piratenflagge hängt, die mussten wir gestern zusammen mit den Erziehern für die Piratenschatzsuche basteln. Erst haben wir Kopftücher und Augenklappen bekommen, dann sollten wir einen passenden Ast suchen, dann den Stoff befestigen und bemalen. Schon die dummen gekreuzten Knochen hab ich nicht hinbekommen, dann vor Wut einmal alles vollgeschmiert, Kopfhörer rein und die Onkelz-Kassette angeschmissen. »… GEHASST, VERDAMMT, VERGÖTTERT, WIR WAREN NIE IM KIRCHENCHOR …[6]« Dr. Sommer aus Rostock hat einen Puller mit Eiern auf seine Fahne gemalt und wurde ausgeschimpft, bei Tino war wie immer alles krumm und schief, dann hat er einfach eine Hand bemalt und als Zeichen draufgedrückt – fertig! Am Schluss landeten alle drei Arbeiten direkt im Müll. Nur Donkey Kong gab sich richtig Mühe, hat sich einen wirklich geraden Ast gesucht, stundenlang an seinem Werk getüftelt und der Erzieherin schließlich eine perfekte Piratenflagge mit Totenkopf und Knochen präsentiert: »Hab ich toll gemacht, oder?!« Wie soll man so jemanden nicht hassen?

Aua, aua, aua, ich hab das Gefühl, die Kacke trocknet mir im Gehen am Arsch fest, aber gleich ist es geschafft. Ich erreiche die Flurtür, haue auf die Klinke, schiebe an der Tür – abgeschlossen. Na super. Ich komme nicht aus dem Zimmer, komme nicht in den Flur, komme nicht zu den Toiletten. Scheiße, was mach ich denn jetzt. Ich wühle in meiner Reisetasche – keine Tempos. Wühle auf dem Tisch – klebrige Bravos und Gameboy; schaue unters Bett – Staubflocken; schaue in die Schränke – Koffeintabletten und Kleidung. Nirgendwo etwas zum Abwischen. Ich fange an zu schwitzen, mir wird kalt und warm. Ich seh mich schon, wie ich den Arsch trocknen lasse, Hose hochziehe und zu den anderen stapfe. Blick auf den Boden, gebeugter Gang, Stinkwolke. »Kackemann« würd ich mich taufen, wenn ich die wäre. Dann ist das Ferienlager gelaufen, dann fahr ich nach Hause.

Oh man, oh man, oh man.

Ich lege mich zum Nachdenken mit dem Bauch auf den Linoleum-Boden, die Zeit rennt, von der Hitze wird mir gleich der Arsch knusprig gebacken. Da bläst ein Windstoß durchs geöffnete Fenster, die vergilbten Gardinen tanzen und ein Sonnenstrahl fällt auf die Piratenfahne.

Ich wische mir den Arsch ganz in Ruhe schön sauber und stecke die Fahne dann so zurück an Donkey Kongs Tasche, dass man ihr erst mal nichts ansieht. Ich bin schon halb durchs Fenster zurück nach draußen, da habe ich noch einen anderen genialen Einfall. Ich klettere schnell noch mal zurück ins Zimmer, nehme seinen dummen Gameboy und lösche alle Spielstände.

 

Ferienlager bildeten in der DDR eine feste Säule des Kindersozialtourismus: Zeltlager oder Bungalowsiedlungen, unterhalten von den Betrieben der Eltern, die hier für zwölf bis zwanzig Mark inklusive An- und Abreise, Unterkunft, Betreuung, Verpflegung für zwei Wochen ihre Kinder abgeben konnten, waren im ganzen Land zu finden und wurden rege genutzt, im Jahr 1989 waren es fünftausend Stück mit jährlich Hunderttausenden unter fünfzehnjährigen Gästen. Unsere Eltern hatten wohl etwas mehr zahlen müssen und es gab keinerlei politischen Anstrich mehr, ansonsten rösteten aber auch wir Stockbrot überm Lagerfeuer, feierten Neptunfest, Kinderdisco und spielten Tischtennis an ähnlichen Orten wie sie früher.

Eigentlich gehörte seit jeher auch eine große Nachtwanderung zum Ferienlagerkanon, laut Erziehern war sie dieses Mal allerdings nicht möglich, im letzten Jahr wären dort einige schlimme Dinge passiert, auf Nachfrage gab man sich nebulös.

 

Nachtruhe, Schlafenszeit, ich langweile mich zu Tode. In das leise Schluchzen vom Nachbarbett mischen sich die Schnarcher von Dr. Sommer und Tino, ich wälze mich hin und her. Die pennen einfach schon, die denken sich gar nichts dabei, ich fühl mich wie im Kindergarten beim Mittagsschlaf, langweilig, langweilig, langweilig. Mir fällt ein, was ich in den letzten Tagen über Selbstbefriedigung gelernt hab: Einfach immer wieder die Haut am Puller hoch- und runterschieben, dann hat man irgendwann einen Orgasmus und einen Samenerguss, richtig gut soll sich das anfühlen. Bei Donkey Kong wird immer noch geflennt, das ist echt der letzte Loser. Ich greif mir in die Unterhose, fasse meinen Puller, schrubbe und schrubbe, er wird hart und steif, aber weiter passiert nichts. Als der Idiot den Gameboy vorhin das erste Mal wieder angemacht hat, war ich dabei, da hat er direkt rote Backen und feuchte Augen bekommen, aber so getan, als wär nichts, da hab ich laut ins Kissen gelacht. Das Ding mit der Piratenflagge hat den ganzen Tag keiner gemerkt, darum hab ich’s nach dem Zähneputzen mit »Alter, was stinkt hier eigentlich so???«, selber angesprochen. Tino hat sofort mitgemacht: »Donkey Kong hat eingeschissen!«, »Donkey Kong, du Wildsau!«. Als Tino dann gemerkt hat, dass der Gestank von der Piratenfahne kommt und da Kacke dranhängt, hat er sie aus der Tasche gerissen und Donkey Kong vor der Nase rumgewedelt. Dann flog sie aus dem Fenster.

Ich muss schon wieder so lachen, wenn ich dran denke, dabei will ich doch eigentlich wichsen. Schrubben, schrubben, schrubben, ich guck in die Hose, da ist immer noch nichts passiert, aber so kann das ja auch nichts werden. Ich schließe die Augen, versuche mir jetzt die Mädchen in meiner neuen Klasse vorzustellen, auf meiner neuen Schule, Mädchen, die bestimmt schon richtig geschminkt sind und schon richtige Brüste haben und Tangas tragen, wie Tinos Cousine Caro. Ich schrubbe, schrubbe, schrubbe, stell mir vor, wie wir auf dem Schulhof rumknutschen, schrubbe, schrubbe, schrubbe,...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Coming of Age • deutsch-deutsche Geschichte • Don Pablo Mulemba • Drogen • Felix Kummer • Gast Das Literarische Quartett • Gast Literarisches Quartett • Gewalt • Identitätssuche • Literarisches Quartett • nachwendegeneration • Neo-Nazis • Ostdeutschland • podcaster • Rap • Rechtsextremismus • Springerstiefel • Testo • Zugezogen Maskulin
ISBN-10 3-462-30258-2 / 3462302582
ISBN-13 978-3-462-30258-5 / 9783462302585
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