Nebenan (eBook)
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-19315-7 (ISBN)
Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.
Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.
Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt »Die Glücklichen« fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihrem Roman »Nebenan« stand sie 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
2
Das schmerzhafte Kribbeln in den Fingerspitzen ist noch immer zu spüren. Astrid schüttelt die eine Hand, dann die andere. Sie hätte die Fäustlinge anziehen sollen, bevor sie die Eisschicht von den Fenstern gekratzt hat. Also doch noch etwas Kälte nach den ungewöhnlich lauen Tagen. Auf der Straße vor ihr glänzt die gefrorene Nässe. Sechs, sieben Kilometer sind es noch, schätzt sie.
Dafür, dass sie aus dem Tiefschlaf geholt wurde, ist sie schnell auf die Beine gekommen. Kaum mehr als eine halbe Stunde ist es her, da hat die Notfallnummer geklingelt. Kurz nach vier war das. Andreas stand mit ihr auf und kochte Kaffee. Er legte sich aufs Sofa, stellte sich ein Hörspiel an, er könne jetzt eh nicht mehr schlafen. Bevor sie ging, drückte er ihr ein verpacktes Sandwich in die Hand, das er für sie vorbereitet hatte. »Guck, wir beide sind noch gut in Form bei diesen nächtlichen Einsätzen.«
Eine fast achtzigjährige Frau ist gestorben. Der Rettungsdienst konnte nichts mehr tun, und man rief Astrid für die Todesbescheinigung. Sie lässt sich nur noch selten für den Bereitschaftsdienst eintragen, diese Zeiten sind vorbei. Ein Jahr noch, dann würde sie die Praxis gern abgeben und, wenn möglich, zum Übergang zwei Tage die Woche dort arbeiten, so stellt sie sich das vor. Wenn sie bis dahin jemanden findet, der die Praxis übernimmt.
Sie dreht die Heizung runter, stellt das Radio an. Wann ist sie das letzte Mal so durch die Nacht gefahren. Sie muss an die Kinder denken, erwachsene Männer. Erwachsen, bei dem Wort erfasst sie immer wieder Erstaunen. Sie sieht die schlafenden Jungs vor sich, wie viele Nächte sind es gewesen, in denen sie nach ihnen gesehen hat, Tausende.
Der Älteste, der sich in eine Wissenschaftlerin aus Delhi verliebte und mit ihr nach Malmö zog. Zwei Kinder hat seine Frau in die Beziehung gebracht, zwei weitere haben sie bekommen.
Der Zweitälteste, der in Den Haag lebt, der bei fast jedem Telefonat sagt, es würde ihm gut gehen, alles gut. Sie hofft fast, dass er sich endlich einmal über etwas, irgendetwas beklagen würde. Es kann ja nicht alles gut sein, das ist nicht möglich.
Der Kleine, in Berlin, der glaubt, sie haben nicht bemerkt, dass er sein zweites Studium abgebrochen hat und sich mit Caféjobs durchschlägt.
Allein durch die Nacht zu fahren und sie alle drei vor sich zu sehen, es ist ein bisschen, als würde sie wieder über den Schlaf der Jungs wachen.
Sie kneift die Augen zusammen, weiter hinten scheint das Feld übersät von hellen Flecken, sie schimmern aus der Dunkelheit hervor. Sie bremst etwas ab und fährt langsamer. Wie ein riesiger Schwarm weißer Vögel, der sich dort niedergelassen hat, oder nein, wie unzählige kleine Inseln aus Schnee, aber es hat nicht geschneit. Merkwürdig sieht es aus. Kurz entschlossen biegt sie in einen Feldweg ein, stellt den Motor ab und steigt aus.
Die Erde ist gefroren, sie muss auf jeden Schritt achten, um in den harten Mulden nicht zu straucheln. Diese Stille, sie hört sich selbst bei jedem Atemzug schnaufen. Was tut sie hier eigentlich? Sie sollte im Auto sitzen, auf dem Weg zu ihrem Notfall, und nicht allein im Dunkeln über einen Acker stolpern. Dieses Meer aus weißen Flecken, es sieht zu eigenartig aus, Taschentücher, es wirkt, als wären Tausende Papiertaschentücher über das Feld geweht. Oder es ist Papier, Altpapier, das jemand hier entsorgt hat. Die Säcke sind gerissen, und der Wind hat alles verteilt.
Jetzt erkennt sie es, unzählige Briefe sind es. Sie hebt einige davon auf, liest die Namen und Adressen, alle aus dieser Gegend. Poststempel ist der 17. und 18. Dezember, mehr als zwei Wochen sind diese Sendungen alt. Sie findet handbeschriebene Umschläge aus gutem Papier, Weihnachtsgrüße und Neujahrswünsche, stellt sie sich vor. Sie haben ihre Adressaten nicht erreicht. Einige Inkasso-Absender liest sie. Rechnungen und Mahnungen, die den Leuten vor den Festtagen erspart geblieben sind.
Erstaunlich, auf einem Umschlag stehen das Dorf und die Straße, in der sie aufgewachsen ist. Es ist das Haus schräg gegenüber, der hässliche große Gelbklinker. Sie steckt den Brief ein, sie wird ihn den Leuten bringen, wenn sie das nächste Mal Elsa besucht. »Guten Tag, ich habe Ihre Post nachts auf einem Feld an der Landstraße gefunden.« Sie blickt sich noch einmal um, ein Wagen ist nicht zu sehen, auch kein Fahrrad. Nichts deutet auf einen Unfall hin.
Unschlüssig bleibt sie im Auto sitzen, losfahren, dieses Meer von Briefen liegen zu lassen, sie fände das unanständig. Einen Moment überlegt sie, dann sucht sie die Nummer der Polizeidienststelle aus dem Netz und ruft dort an, etwas Besseres fällt ihr nicht ein. Die Beamtin am Telefon sagt, man würde jemanden schicken.
Das Wasser in der Wanne ist unbeweglich wie Glas. Neben den Beinen der Frau schwebt ein Taschenbuch, die aufgefächerten Seiten wirken schwerelos. Im Gesicht der Frau sind weder Anstrengung noch Schmerzen zu lesen. Diese Stille, Astrid hält beklommen den Atem an, doch kurz darauf fängt sie sich wieder. Der Rettungswagen ist wieder abgefahren, sie hatten nur noch feststellen können, dass die Frau seit Stunden nicht mehr lebte. Der Mann steht im Türrahmen, stumm, mit hängenden Schultern.
Ein Unfall scheint es nicht gewesen zu sein. Sie sieht sich nach elektrischen Geräten um, einem Föhn oder einem Rasierapparat, doch es liegt nichts offen herum.
»Hat Ihre Frau unter chronischen Krankheiten gelitten«, fragt sie, »und können Sie mir zeigen, welche Medikamente sie eingenommen hat?«
Er nimmt drei Schachteln vom Regal.
»Etwas gegen Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit«, sagt er.
Sie erkennt die Präparate am Schriftzug, es sind Mittel gegen Altersdepression und Angstzustände, außerdem etwas gegen erhöhten Blutdruck. Herzversagen wäre möglich, ein stummer Infarkt, auch ein Schlaganfall wäre denkbar. Oder ein schon etwas länger zurückliegender Sturz, der nicht ernst genommen worden war und eine Hirnblutung ausgelöst hat. Wie es seiner Frau in den letzten Tagen ergangen sei, ob sie sich müde gefühlt, über Kopfschmerzen, über Atemnot, Bauchschmerzen oder Übelkeit geklagt hätte, fragt sie. Der Mann schüttelt nur den Kopf.
»Wann hatte sie sich das Bad eingelassen?«
»Ich glaube, gegen neunzehn Uhr.«
»Aber Sie haben sie eben erst, also vor ungefähr anderthalb Stunden, entdeckt.« Sie schaut auf die Uhr, es ist kurz nach fünf.
Er nickt, er sei abends im Wohnzimmer eingeschlafen.
»Wir sind eigentlich bei Dr. Gebhard in Behandlung. Ich dachte ... Aber er war nicht …«, bricht der Mann ab.
Dr. Gebhard, ihr alter Kollege, der bei Frauen von schwankenden Stimmungen statt von Depressionen sprach. Wahrscheinlich hätte er den Totenschein längst mit eindeutigem Befund ausgefüllt. Herzstillstand, damit der Bestatter sich auf den Weg machen konnte. Aus Rücksicht auf den Mann hätte er das getan, und auch ein bisschen aus Bequemlichkeit.
Sie wandert mit dem Blick weiter über den Körper der Frau. So behutsam wie möglich. Am Oberarm schimmert ein Hämatom, deutlich größer als ein Daumenabdruck. Die Frau könnte sich gestoßen haben, doch jemand könnte den Arm auch hart angepackt haben. Das rechte Handgelenk wirkt geschwollen.
»Ist Ihre Frau gestern oder in den vergangenen Tagen gestürzt? Hatte sie Schmerzen in der Hand?«, fragt sie und betrachtet den Mann dabei aufmerksam. Er schüttelt den Kopf, das wisse er nicht.
Sie atmet tief durch. Sie sollte nichts mehr anfassen oder verändern. Himmel, das hier, das ist so eine Situation, in der sie die Polizei rufen muss. Verstorbene in Badewannen, da sind die Umstände ohnehin schon schwer zu klären. Das Hämatom und das Handgelenk machen es noch dringlicher.
»Es tut mir leid«, beginnt sie und bereitet den Mann darauf vor, dass sie als Nächstes die Beamten benachrichtigen würde. Er blickt sie an, sichtlich entsetzt, dann dreht er sich wortlos um. Unten klappt eine Tür laut zu. Der Luftzug zieht hoch ins Bad, er berührt das Wasser in der Wanne. Luftbläschen lösen sich von der Haut der Frau, schimmernde Punkte, ein Silberregen, der nicht fällt, sondern steigt.
Zusammen warten sie im Wohnzimmer auf die Beamten. Sie fragt ihn, ob Verwandte in der Nähe wohnen, ob er seine Kinder anrufen wolle.
Er schüttelt den Kopf und winkt ab. Auch wenn er ruhig in seinem Sessel sitzt, kann sie seine Anspannung sehen. Seine Kiefer bewegen sich, der Mann scheint die Backenzähne aufeinanderzupressen. Zehn, fünfzehn lange Minuten werden sie nun zusammen hier ausharren müssen, bis ein Streifenwagen kommt.
»Das ist eine Zumutung«, sagt er, mehr zu sich selbst, aber gerade deutlich genug, damit sie es hören kann.
»Ich kann verstehen, dass die Situation schwer erträglich ist, aber ändern kann ich es leider nicht«, antwortet sie und fragt noch einmal, ob sie jemanden für ihn anrufen soll. Er schüttelt wieder den Kopf, gibt ein kurzes Schnaufen von sich.
Sie schickt Andreas eine Nachricht, dass es noch mindestens eine Stunde dauern wird, bis sie zurückkommt. Zur Sicherheit gibt sie ihm die Adresse. Zur Sicherheit. Sie muss auf einmal an die Schulung für Selbstverteidigung denken, die sie vor langer Zeit gemacht hatte. Für den Kurs hatte sie sich angemeldet, nachdem sie bei einem Notfall in einer Wohnung bedroht worden war. Sie hatte ein bestimmtes Medikament, ein Beruhigungsmittel, nicht verschreiben wollen, für eine junge Frau, die im Bett lag. Es gab keinen Befund, der es gerechtfertigt hätte. Als sie gehen wollte, versperrte der Mann ihr die Tür, rempelte sie sogar an. Sie...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • bestsellerliste spiegel aktuell • "Die Glücklichen" • eBooks • "Eine Liebe, in Gedanken" • Gegenwart • Gesellschaft • Land • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • Nachbarschaft • Neuerscheinung • Roman • Romane • Shortlist Deutscher Buchpreis 2022 • SWR Bestenliste • SWR Bestenliste 2022 |
ISBN-10 | 3-641-19315-X / 364119315X |
ISBN-13 | 978-3-641-19315-7 / 9783641193157 |
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