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Der Markisenmann (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-28590-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Markisenmann -  Jan Weiler
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Was wissen wir schon über unsere Eltern? Meistens viel weniger, als wir denken. Und manchmal gar nichts. Die fünfzehnjährige Kim hat ihren Vater noch nie gesehen, als sie von ihrer Mutter über die Sommerferien zu ihm abgeschoben wird. Der fremde Mann erweist sich auf Anhieb nicht nur als ziemlich seltsam, sondern auch als der erfolgloseste Vertreter der Welt. Aber als sie ihm hilft, seine fürchterlichen Markisen im knallharten Haustürgeschäft zu verkaufen, verändert sich das Leben von Vater und Tochter für immer.

Ein Buch über das Erwachsenwerden und das Altern, über die Geheimnisse in unseren Familien, über Schuld und Verantwortung und das orange-gelbe Flimmern an Sommerabenden.

Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ Magazins. Sein erstes Buch »Maria, ihm schmeckt's nicht!« gilt als eines der erfolgreichsten Debüts der letzten Jahrzehnte. Es folgten unter anderem »Antonio im Wunderland«, »Mein Leben als Mensch«, »Das Pubertier«, »Die Ältern« und die Kriminalromane um den überforderten Kommissar Martin Kühn. Auch sein Roman »Der Markisenmann« stand monatelang auf der Bestsellerliste. Neben seinen Romanen verfasst Jan Weiler zudem Kolumnen, Drehbücher, Hörspiele und Hörbücher, die er auch selbst spricht. Er lebt in München und Umbrien.

Prolog


Wenn ich an diesen Moment an diesem Sommertag im Juli 2005 zurückdenke – einem Donnerstag, und es war kurz nach 17 Uhr –, fällt mir kein Bild ein, sondern ein Gefühl: Enttäuschung. Ich war wirklich enttäuscht, als ich zum ersten Mal meinen Vater sah.

Ich hatte mir Ronald Papen anders vorgestellt. Bis meine Mutter mit mir fortging, als ich zweieinhalb Jahre alt gewesen war, habe ich ihn wahrscheinlich ständig gesehen. Aber zweieinhalb ist zu jung, um ein richtiges Bild vor Augen zu haben, eine Stimme im Ohr oder eine Erinnerung an seinen Geruch, seine Wärme oder seine Art, sich zu bewegen. In den folgenden dreizehn Jahren hatten wir keinen Kontakt. Mama hat das immer damit begründet, dass mein Vater kein Interesse an mir habe.

Heute weiß ich, dass das nicht stimmte und woran es lag, dass ich niemals etwas von meinem Vater hörte. Er schrieb jedenfalls keine Weihnachtskarten, er schickte keine Geschenke, er rief nicht an, und er ließ nichts ausrichten. Als einziger Beleg dafür, dass er überhaupt jemals existiert hatte, diente ein Foto, das es von ihm und Mama gab. Hintendrauf stand in ihrer Handschrift »Plitvice 88«. Man konnte sein Gesicht darauf kaum erkennen, weil er eine merkwürdige breitkrempige Mütze und eine Sonnenbrille trug. Außerdem war das Foto verwackelt und rotstichig. Ein richtig schlechtes Bild, eines von jener Sorte, die man eigentlich aussortiert, um Fotoecken zu sparen. Dass Mutter sich die Mühe gemacht hatte, es einzukleben, wies darauf hin, dass sie ihr einmal wichtig gewesen war, diese eine missglückte Erinnerung an Ronald Papen. »Das ist dein Papa«, war alles, was sie dazu sagte.

Als kleines Kind habe ich das quadratische Foto mit dem weißen Rand oft betrachtet. Mama sah darauf sehr hübsch aus, soweit man das in der Unschärfe beurteilen konnte. Im Hintergrund waren Zelte zu erkennen. Wahrscheinlich wurde es auf einem Campingplatz aufgenommen.

Das Bild war das letzte im Album. Dahinter folgten ungefähr dreißig leere Seiten. Als sei ein Faden gerissen, als habe jemand mitten in einer Geschichte aufgehört, diese zu erzählen, um sich irgendeiner wichtigeren Tätigkeit zuzuwenden.

Als ich in die Schule kam und rechnen lernte, erhielt die Interpretation des Fotos eine neue Wendung. Falls das Bild tatsächlich aus dem Sommer 1988 stammte, war Mutter darauf noch nicht mit mir schwanger, denn ich wurde am 1. August 1989 geboren. In Österreich auf der Durchreise. Und zweieinhalb Jahre später trennten meine Eltern sich schon.

Natürlich fragte ich Mama nach meinem Vater, aber sie schwieg, wiegelte ab oder wurde ungeduldig, wenn ich von ihm anfing. Und irgendwann war das Foto nicht mehr im Album. Sie ließ Ronald Papen verschwinden, und das Bild von dem Paar auf dem Campingplatz verwischte mit der Zeit wie ein Traum, an den man sich nach dem Aufwachen erst genau, dann bruchstückhaft, dann unsicher und schließlich gar nicht mehr erinnern kann. Ich bekam ihn nicht mehr zusammen. Hatte er auf dem Bild gelächelt oder nicht? Steckte eine Zigarette in seinem Mund, oder war das ein Kratzer auf dem Fotopapier gewesen? Je mehr ich versuchte, mich zu erinnern, desto intensiver wurde das Ersatzbild, das ich mir aus meinen Informationen zurechtbastelte.

Wenn mein Stiefvater Heiko meinen Vater erwähnte, nannte er ihn den »feinen Herrn Papen«. Ich wusste noch nicht, was Sarkasmus war, aber diesen feinen Herrn stellte ich mir als einen Mann mit Sonnenbrille und dreiteiligem Anzug vor, sehr groß, wie alle Väter sind, sehr freundlich auch, aber beschäftigt mit ernsten Details eines unbegreiflichen Berufes. Manchmal tagträumte ich, wie ich ihn in seinem Büro überraschte und plötzlich vor seinem Schreibtisch stand, die Hände in die Hüften gestemmt. Er wedelte Zigarrenrauch beiseite, um mich besser sehen zu können, und ich rief: »Warum kommst du mich nie besuchen!« Mehr Klage als Frage. Aber ich erhielt keine Antwort und konnte sein Gesicht in den Schwaden nicht richtig erkennen. Sosehr ich mich in diesen Film hineinträumte und so viel ich auch darüber nachdachte: An dieser Stelle endete die Handlung, denn mir fiel kein plausibler Grund für sein Verhalten ein, und deshalb konnte ich ihn nicht antworten lassen.

»Ich habe keine Zeit.«

»Ich habe kein Interesse an dir.«

»Ich darf nicht.«

»Ich trau mich nicht.«

Keiner dieser Sätze passte, auch nicht der Gedanke, dass er mich nicht hätte finden können. Schließlich hatte ich ihn ja auch aufgespürt, zumindest in meinem Tagtraum.

In späteren Jahren verfestigte sich bei mir die dramatische Vorstellung, dass er nicht dazu in der Lage war, sich zu melden, weil er seine Stimme eingebüßt hatte oder noch grauenhafter: sein Gedächtnis. Lange Zeit stellte ich mir vor, dass er von einem Berg gefallen war und dabei sämtliche Erinnerungen verloren hatte. Ich fragte meine Mutter, was mit solchen Menschen geschehe, und sie sagte: »Die kommen in ein Heim, und man wartet ab, ob ihnen wieder einfällt, wer sie sind.« Und was sei, wenn es ihnen nicht einfalle, wollte ich wissen. Sie zuckte mit den Schultern. »Dann bleiben sie eben für den Rest ihres Lebens dort. Sie gehören ja nirgends hin.« Ich nahm also an, dass mein Vater irgendwo in einem Sessel saß und verzweifelt versuchte, sich an mich zu erinnern. Eine törichte Idee, denn wenn sich jemand nicht besinnen kann, dann weiß er meistens auch nicht, worauf. Er wird sich also kaum die Frage stellen, wo sein Kind ist und wie es noch mal heißt, sondern, ob er jemals eines hatte. Ich stellte mich darauf ein, dass der Prozess seiner Gesundung lange dauern könnte. Und darüber verlor ich allmählich mein Gefühl der Neugier und des Wohlwollens gegenüber Ronald Papen.

Mehr noch: Ich entwickelte einen regelrechten Unwillen gegen den unscharfen Mann, weil ich ihm unterstellte, sich nicht genug Mühe mit seiner Erinnerung zu geben. Oder: Womöglich hatte er längst aufgegeben und eine neue Familie gefunden. Vier Kinder gezeugt, sein altes Leben in eine Klarsichthülle geschoben, abgeheftet und den Ordner im Keller verstaut. Es machte mich mit der Zeit ungnädig, an ihn zu denken.

In meinen Gedanken entwickelte er sich schließlich zu einem grobschlächtigen Kerl mit dicker Nase und riesigen Füßen. Manchmal malte ich ihn mir in einem grotesk großen Anzug aus, denn auf meine Frage, was er beruflich mache, antwortete Mama, dass er »Geschäftemacher« sei, was Ungutes vermuten ließ. Bei mir bekam er also eine dröhnende Stimme und ein unstetes Wesen. Ich vermutete, dass er kriminell war und meine Mutter sich deswegen von ihm getrennt hatte. Vielleicht saß er bereits seit Jahren im Gefängnis, oder er hatte sich auf Nimmerwiedersehen ins Ausland abgesetzt.

Mit diesem Bild hakte ich ihn ab, und als ich fünfzehn war, dachte ich kaum mehr an Ronald Papen. Wenn Freundinnen bemerkten, dass ich nicht so hieß wie meine Mutter und ihr Mann und nach meinem richtigen Vater fragten, sagte ich, was man sagt. Was viele sagen, weil es wahr ist, und weil es die Bedeutung des Unscharfen so weit herunterspielte, wie nur irgend möglich: »Ich kenne ihn nicht. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch klein war.« Und wenn sie weiterfragten, ob ich nicht neugierig auf ihn sei, antwortete ich, dass er sich nicht für mich interessiere und ich mich daher nicht für ihn. Es sei okay so. Und damit war das Thema erledigt.

Und außerdem hatte ich ja besagten Heiko. Mama wollte, dass ich ihn »Papa« nenne, obwohl mir schon früh bewusst war, dass er das nicht war. Er sah mir so wenig ähnlich wie ein Klavier einer Geige, und er betonte sehr regelmäßig, wie teuer Kinder seien, und dass der feine Herr Papen nicht bereit sei, für meinen Unterhalt zu bezahlen. Was das bedeutete, verstand ich lange nicht. Das waren jedenfalls die einzigen Momente, in denen mein Familienname bei uns zu Hause erwähnt wurde. Als sei er mit einem Makel behaftet. »Papen« war so etwas wie »Schmarotzer« oder »Parasit« oder »Tochter aus erster Ehe«. Heiko Mikulla schien den Vater der Tochter seiner Frau nicht zu mögen, er schien auch mich nicht zu mögen, und ob er meine Mutter mochte, war manchmal ebenfalls unklar. Aber er hatte immerhin ein großes Haus in Hahnwald gekauft, in dem wir wohnten. Mama fand, wir sollten ihm dafür dankbar sein. Sie war es jedenfalls und ertrug Heiko mit einer Ausdauer, die mir damals fast wie hündische Ergebenheit vorkam.

Ich bekam nie so ganz genau heraus, wann oder wie sie sich kennengelernt hatten, aber es gab wohl einen nahtlosen Übergang von Ronald Papen zu Heiko Mikulla. Womöglich hatte er sie meinem Vater ausgespannt. Oder sie hatte sich in Heiko verliebt und eine Affäre mit ihm begonnen. Vielleicht Plitvice ’88. Das hätte aber bedeutet, dass ich womöglich gar nicht meines Vaters Kind gewesen wäre, was ich kategorisch ausschloss, weil ich keinesfalls Heikos Tochter hätte sein wollen. Lieber die des Unscharfen als die des Unerträglichen.

Heiko und Mutter bekamen noch einen Sohn und heirateten vor dessen Geburt. Sie nahm seinen Namen an, und damit war ich eine Papen zwischen drei Mikullas. Heiko, Susi und Geoffrey Mikulla. Sie nannten ihn Jeff oder Jeffy, als sei er ein Cockerspaniel.

Ich bin sechs Jahre älter als er, komme in die Schule, und kein Mensch interessiert sich dafür, weil Jeff Koliken hat und ständig herumgetragen werden muss. Ich bin acht und mache den Freischwimmer, was unbeachtet bleibt, weil Jeffy anfängt zu laufen. Ich bin gut in der Schule und ansonsten weitgehend unsichtbar, während Geoffrey alles unternimmt, um wahrgenommen zu werden. Er ist eine menschgewordene Heulboje, die bei der kleinsten seelischen Erschütterung in Betrieb geht.

Der Vorteil...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • bestsellerliste spiegel aktuell • Coming of Age • eBooks • Erste Liebe • Ewald Arenz • Familiengeschichte • Freundschaft • Gemeinschaft • Neuerscheinung • Roman • Romane • Ruhrgebiet • Sommer • tschick • Vater und Tochter
ISBN-10 3-641-28590-9 / 3641285909
ISBN-13 978-3-641-28590-6 / 9783641285906
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