Blut der Drachen (eBook)
576 Seiten
Penhaligon Verlag
978-3-641-27094-0 (ISBN)
Die Drachen von Kelsingra haben ihre neue Heimat erfolgreich verteidigt. Nun haben ihre menschlichen Hüter Zeit gewonnen, um zu wahren Gefährten der Drachen zu werden. Und auch die Drachen haben jetzt die Ruhe, um ihre Flügel voll zu entwickeln und die sagenumwobenen Silbervorkommen zu finden, die sie zum Überleben brauchen. Doch gerade dieser neue Reichtum von Kelsingra ruft neue Neider auf den Plan. Noch sind die Drachen schwach, noch sind sie angreifbar - und eine Armee der Menschen nähert sich durch die Regenwildnis ihrer Stadt!
Die New-York-Times-Bestsellersaga »Regenwildnis« von Robin Hobb ist unabhängig von der Weitseher-Saga lesbar und erscheint komplett bei Penhaligon:
1. Wächter der Drachen
2. Stadt der Drachen
3. Kampf der Drachen
4. Blut der Drachen
Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit ließ sie sich mit ihrem Mann auf Kodiak nieder, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit »Die Gabe der Könige«, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft und sind Dauergäste auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Im November 2021 wurde ihr der renommierte World Fantasy Award für ihr Lebenswerk verliehen. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.
1
EIN LEBEN BEENDEN
Sie schlug die Augen auf. Es war Morgen, ein Morgen, den sie nicht wollte. Mit großem Widerwillen hob sie den Kopf und sah sich im Zimmer um. In der Kammer war es kalt. Vor Stunden schon war das Feuer erloschen, und die klamme Feuchtigkeit des ungewöhnlich kühlen Frühlings war unaufhaltsam hereingekrochen, während sie sich unter ihrer verschlissenen Decke verborgen und darauf gewartet hatte, dass ihr Leben weggehen würde. Aber das hatte es nicht getan. Das Leben war geblieben, um sie erneut und hinterrücks mit Kälte und Feuchtigkeit, mit Enttäuschung und Einsamkeit zu überfallen. Sie drückte sich das dünne Laken an die Brust, während ihr Blick zu den wohlgeordneten Papierstapeln und Pergamenten wanderte, mit denen sie sich in den letzten Wochen beschäftigt hatte. Da war es. Das Lebenswerk von Alise Finbok, alles auf einem Stapel. Übersetzungen antiker Texte, ihre eigenen Mutmaßungen, genaue Abschriften alter Dokumente in schwarzer Tinte, fehlende Worte darin mit Rot nach ihren Vermutungen eingefügt. Da ihr eigenes Leben keinerlei Ziel gehabt hatte, hatte sie sich in die Antike zurückgezogen und sich etwas auf ihr gelehrtes Wissen eingebildet. Sie wusste, wie die Uralten einst gelebt hatten, welchen Umgang sie mit den Drachen hatten. Sie kannte die Namen einstiger Uralter und Drachen, sie kannte ihre Sitten. Sie wusste so viel über eine Vergangenheit, die keine Bedeutung mehr hatte.
Uralte und Drachen waren in die Welt zurückgekehrt. Sie war Zeugin dieses Wunders geworden. Und sie würden sich die alte Stadt Kelsingra wieder zu eigen machen und dort leben. Die vielen Geheimnisse, die sie den Schriftrollen und schimmligen Wandteppichen hatte entreißen wollen, hatten nun keine Bedeutung mehr. Wären die neuen Uralten erst einmal in die Stadt eingezogen, brauchten sie nur den Gedächtnisstein dort zu berühren, um von ihrer Geschichte zu erfahren. All die Geheimnisse, von deren Entdeckung sie geträumt hatte, all die Rätsel, die sie nur zu gerne gelöst hätte, waren nun ohne ihr Zutun dahin. Sie war bedeutungslos.
Dass sie plötzlich trotzdem die Decke von sich warf und aufstand, überraschte sie selbst. Sofort wurde sie von Kälte eingehüllt. Sie ging zu ihren großen Reisetruhen, die sie in Bingstadt mit so viel Hoffnung gepackt hatte. Zu Beginn ihrer Reise waren sie vollgestopft gewesen, voller Kleider, wie sie sich für eine Dame auf Abenteuerfahrt schickten. Dicke Baumwollblusen mit nur ganz wenig Spitze, geschlitzte Röcke zum Wandern, Hüte mit Gesichtsnetzen gegen die Mücken und die Sonne, robuste Lederstiefel … von all dem blieben ihr kaum mehr als Erinnerungen. Während der mühseligen Reise waren die Stoffe zerschlissen, ihre Stiefel waren angestoßen und undicht, und die Schnürsenkel waren eine einzige Kette aus Knoten. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als ihre Sachen im sauren Flusswasser zu waschen, aber nun waren die Nähte aufgerissen und die Säume ausgefranst. Sie zog irgendwelche Kleider an, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie darin aussehen mochte. Es beachtete sie ohnehin niemand. Sie würde sich nie wieder Gedanken darum machen, wie sie aussah oder was andere Leute von ihr hielten.
Ein Uraltengewand, das Leftrin ihr geschenkt hatte, hing an einem Haken. Von all ihren Kleidungsstücken hatte dieses als einziges die leuchtenden Farben behalten und war fein und weich geblieben. Sie sehnte sich nach seiner Wärme, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es anzuziehen. Rapskal hatte es überdeutlich gesagt: Sie war keine Uralte. Sie hatte kein Anrecht auf die Stadt Kelsingra, kein Anrecht auf irgendetwas, was mit den Uralten zu tun hatte.
Bitterkeit, Schmerz und Resignation angesichts der von Rapskal ausgesprochenen Tatsache zogen sich zu einem strammen, festen Knoten in ihrer Kehle zusammen. Sie starrte das Uraltengewand an, bis die leuchtenden Farben in den Tränen in ihren Augen verschwammen. Beim Gedanken an den Mann, der es ihr geschenkt hatte, wurde ihr Kummer nur noch größer. Ihr Seelenschiffkapitän. Leftrin. Trotz der Standesunterschiede hatten sie sich auf der beschwerlichen Flussreise ineinander verliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte ein Mann ihren Verstand bewundert, ihre Arbeit anerkannt und ihren Körper begehrt. Und er hatte in ihr die gleiche Leidenschaft entfacht und ihr gezeigt, was zwischen einem Mann und einer Frau möglich war. Er hatte in ihr Begierden geweckt, die sie zuvor nicht gekannt hatte.
Und dann hatte er sie hier zurückgelassen. Allein in einer primitiven Hütte …
Hör auf. Heul nicht rum. Sie betrachtete das Uraltengewand und zwang sich, sich an den wundervollen Moment zu erinnern, als Leftrin es ihr geschenkt hatte, ein unbezahlbares Artefakt, ein Familienerbstück. Er hatte es ihr ohne den geringsten Vorbehalt gegeben. Und sie hatte es als Rüstung gegen Kälte, Wind und selbst gegen Einsamkeit getragen. Hatte es getragen, ohne an seine geschichtliche Bedeutung zu denken. Wie hatte sie die Hüter nur dafür tadeln können, dass sie auch etwas so Warmes und Undurchlässiges wollten wie ihr »unbezahlbares Artefakt«, das sie so oft mit Genuss getragen hatte? Und Leftrin? Gab sie etwa ihm die Schuld für ihre Einsamkeit? Scheinheilige!, schalt sie sich.
Leftrin hatte keine andere Wahl gehabt, als nach Cassarick zurückzufahren, um Vorräte zu holen. Er hatte sie nicht im Stich gelassen. Es war ihre Entscheidung gewesen hierzubleiben, denn sie hatte geglaubt, es wäre wichtiger, ihre Entdeckungen in der unberührten Uraltenstadt aufzuzeichnen. So hatte sie es beschlossen, und Leftrin hatte das akzeptiert. Und jetzt gab sie ihm die Schuld dafür? Er liebte sie. Sollte ihr das denn nicht genug sein?
Einen Moment lang stand sie kurz davor, sich damit zufriedenzugeben. Ein Mann, der sie liebte: Was brauchte eine Frau mehr? Dann knirschte sie mit den Zähnen, als wollte sie sich einen Verband von einer nicht ganz verheilten Wunde reißen.
Nein. Es war nicht genug. Nicht für sie.
Es war Zeit, sich nicht weiter etwas vorzumachen. Zeit, dieses Leben hinter sich zu lassen. Zeit, sich nicht mehr einzureden, dass alles gut wäre, wenn Leftrin zurückkehren und ihr sagen würde, dass er sie liebte. Was konnte er schon an ihr lieben? Wenn ihr alles genommen worden war, was war dann von ihr noch echt und wert, geliebt zu werden? Was wäre sie für ein Mensch, wenn sie sich an die Hoffnung klammerte, dass jemand anders kommen und ihrem Leben einen Sinn geben würde? Wenn sie jemanden brauchte, um ihrer eigenen Existenz Gültigkeit zu geben, war sie dann nicht nur ein zuckender Parasit?
Schriftrollen und Skizzen, Papiere und Pergament in sauberen Stapeln, wo sie sie gelassen hatte. Ihre Forschungen und Aufzeichnungen lagen neben dem Ofen. Der Impuls, alles zu verbrennen, war gewichen. Den hatte sie in der abgründigen Verzweiflung des gestrigen Abends verspürt, eine Finsternis, so pechschwarz, dass sie nicht einmal die Kraft gehabt hatte, die Blätter in die Flammen zu werfen.
Das kühle Tageslicht offenbarte die gestrige Anwandlung als törichte Eitelkeit, einen kindischen Anfall von: »Schau, was ich wegen dir gemacht habe!« Was hatten Rapskal und die anderen Hüter ihr getan? Nichts, außer dass sie ihr die Realität ihres Lebens vor Augen geführt hatten. Wenn sie ihre Arbeit verbrannt hätte, hätte sie weiter nichts bewiesen, als dass sie den Wunsch gehabt hatte, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Einen Moment lang zitterte ihr Mund, bis er sich zu einem sehr eigentümlichen Lächeln verzog. Ah, die Verlockung war noch da. Zu machen, dass es ihnen genauso schlecht ging wie ihr! Aber es würde ihnen nicht schlecht gehen. Sie würden gar nicht verstehen, was sie zerstört hatte. Außerdem war es der Mühe nicht wert, bei einem der anderen Hüter anzuklopfen und um Kohlen zu bitten. Nein. Sollte alles so bleiben. Sollten sie ruhig das Mahnmal finden für das, was sie gewesen war, eine Frau aus Papier und Tinte und Verstellungen.
In ihre kalten Kleider eingewickelt, drückte sie die Tür ihrer Hütte auf und trat in den nassen, eisigen Tag hinaus. Der Wind schlug ihr entgegen. Ekel und Hass auf ihr bisheriges Leben stiegen wie eine Flutwelle in ihr hoch. Die Wiese vor ihr endete am Fluss, kalt, grau und unerbittlich. Einmal war sie von ihm fortgerissen worden und fast ertrunken. Sie ließ den Gedanken in ihrem Kopf Gestalt annehmen. Es würde schnell gehen. Kalt und unangenehm, aber schnell. Sie sprach die Worte laut aus, die während der Nacht rasselnd durch ihre Träume gespukt waren. »Zeit, diesem Leben ein Ende zu setzen.« Sie hob das Gesicht. Der Wind schob schwere Wolken über den fernen blauen Himmel.
Du würdest dich umbringen? Wegen so etwas? Weil Rapskal dir gesagt hat, was du ohnehin schon gewusst hast? Sintaras Gedanken, die an ihrem Bewusstsein rührten, waren auf kühle Weise amüsiert. Fern und vorurteilsfrei schienen die Gedanken der Drachin zu sein. Ich erinnere mich, dass meine Ahnen erlebt haben, wie Menschen beschlossen, ihre Lebensspanne zu verkürzen, obwohl sie doch ohnehin schon so kurz ist, dass sie keine Bedeutung hat. Wie Mücken, die in die Flammen fliegen. Sie stürzten sich in Flüsse oder hängten sich an Brücken auf. Also. Der Fluss? Willst du es auf diese Weise tun?
Sintara hatte ihr Bewusstsein seit Wochen nicht mehr gestreift. Dass sie sich jetzt wieder meldete und dabei eine so herzlose Neugier zeigte, machte Alise wütend. Sie sah zum Himmel. Da. Ein kleiner saphirblauer Fleck vor den fernen Wolken.
Sie sprach laut, machte ihrer Empörung Luft, denn in einer einzigen Sekunde war aus ihrer Verzweiflung Trotz geworden. »Diesem Leben ein...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2022 |
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Reihe/Serie | Die Regenwildnis-Chroniken | Die Regenwildnis-Chroniken |
Übersetzer | Simon Weinert |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Blood of Dragons (Rain Wilds Chronicles Book 4) |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2022 • Beschützer der Drachen • Christopher Paolini • Der Bruder des Wolfs • Der Erbe der Schatten • Die Gabe der Könige • Diener der alten Macht • Die Tochter des Drachen • Die Tochter des Propheten • Die Tochter des Wolfs • Drachen • eBooks • Eragon • Erster Band • Fantasy • Fantasy Drachen Bücher • fantasy neuerscheinungen • Feuer und Blut • Freundschaft • George R.R. Martin • High Fantasy • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Prophet der sechs Provinzen • Rain Wilds Chronicles • Realm of the Elderlings • Regenwildnis • Seelenschiffe • Serienauftakt • Targaryen • Weitseher • World Fantasy Award |
ISBN-10 | 3-641-27094-4 / 3641270944 |
ISBN-13 | 978-3-641-27094-0 / 9783641270940 |
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