Das Glück unserer Zeit. Der Weg der Familie Lagerfeld (eBook)
416 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27308-8 (ISBN)
Hamburg 1902: Der junge Otto Lagerfeld bricht nach Südamerika auf, um dort als Kaufmann sein Glück zu suchen. Als er seine Familie in Hamburg besucht, trifft er die Schwester seines besten Freundes wieder. Otto ist von Theresia bezaubert, dennoch reist er weiter nach Wladiwostok, um dort amerikanische Dosenmilch zu verkaufen. Gerade als sein neugegründetes Unternehmen zu florieren beginnt, bricht der Krieg aus. Otto gerät in sibirische Gefangenschaft - den vierblättrigen Klee, den Theresia ihm als Glücksbringer schickte, trägt er bei sich. Er weiß, er muss fliehen, um seine Familie wiederzusehen. Und um seinen großen Traum zu verwirklichen ...
Heike Koschyk wurde 1967 in New York geboren und arbeitete in der Modebranche, bevor sie mit dem Schreiben von Thrillern und historischen Krimis begann. Ihre große Leidenschaft ist die Recherche. Dazu fährt sie an Originalschauplätze und stöbert in Archiven und alten Bibliotheken. Unter dem Pseudonym Sophie Bonnet veröffentlicht sie Provence-Krimis, die regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
2
HAMBURG
April 1897
An jenem Freitag im April war der Wind eisig gewesen. Nichts erinnerte mehr an die sommerlichen Temperaturen, die noch vor wenigen Tagen die Menschen ins Freie und an die Elbufer gezogen hatten, wo die Bootsverleiher ihre Kähne zu Wasser ließen. Der Morgen hatte mit heftigem Regen begonnen, der erst gegen Mittag abebbte und tiefe Pfützen hinterließ, die nun in der Frühlingssonne glitzerten.
Wie jeden Nachmittag hatte Otto seine beiden Schwestern Maria und Ottilie, die alle nur Mimi und Tilla nannten, an der Volksschule beim Tor für die Mädchen abgeholt. Jetzt standen sie vor dem gegenüberliegenden Eingang der Realschule Seilerstraße und warteten auf Paul, der sich wie so oft verspätete.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und das Glitzern der Pfützen erlosch. Fröstelnd schlug Otto den Kragen hoch. Es gab nur einen Grund, warum sein Bruder, der es sonst nicht abwarten konnte, das Schulgebäude zu verlassen, noch immer nicht aufgetaucht war: Er musste wieder einmal nachsitzen.
Ausgerechnet heute, wo ihre Eltern die Feigls erwarteten, die in der Großen Bäckerstraße ein Traditionsgeschäft für Bettfedern und Daunen besaßen. Warum dieser Besuch dem Vater so wichtig war, hatte er nicht erzählt, aber es war offensichtlich, dass er für ihn eine gewisse Bedeutung besaß.
Am Morgen hatte der Vater seinen besten Anzug angezogen und in der sich spiegelnden Scheibe der Altona-Blankeneser Eisenbahn den Sitz seines Kragens kontrolliert, obwohl noch der ganze Arbeitstag vor ihm lag. Und als sich ihre Wege am Altonaer Bahnhof trennten, hatte er seine Kinder ermahnt, nach der Schule nicht zu trödeln und zeitig nach Hause zu kommen.
»Wenn ich um halb sechs mit den Gästen eintreffe, will ich, dass ihr einen guten Eindruck macht.«
Einen guten Eindruck zu machen hieß: Alle acht Abkömmlinge sollten frisch gekämmt und in ordentlicher Kleidung antreten, aufgereiht wie die Orgelpfeifen und dem Alter folgend, damit Tönnies Johann Otto Lagerfeld sie nacheinander seinen Gästen vorstellen konnte.
Zuvorderst stand stets der Erstgeborene Carl, der im Mai heiraten und eine eigene Wohnung beziehen wollte. Neben ihm folgte der einundzwanzigjährige Joseph, der – ebenso wie Carl – im väterlichen Weinhandel arbeitete und den alle zu seinem Leidwesen nur Seppel nannten. Dabei tat er alles dafür, ebenso Ehrfurcht gebietend zu wirken wie Kaiser Wilhelm II., den er glühend verehrte. Weshalb er sich sogar denselben gen Himmel gezwirbelten Bart stehen ließ und das mit Pomade glatt gestrichene Haar ebenfalls auf der linken Seite scheitelte. Wäre da nicht die Brille mit den dicken Gläsern, könnte man ihn tatsächlich für einen jugendlichen Doppelgänger des Kaisers halten.
Ihm wiederum folgte die stets bis zum Kinn hochgeschlossene neunzehnjährige Lisbeth, die der Mutter im Haushalt zur Hand ging und sich am Abend ins Studium der Bibel vertiefte. Als Nächstes kam Otto vor der vierzehnjährigen Mimi, deren Haar, wenn sie es offen trug, bis an den verlängerten Rücken reichte. Neben ihr stand die stets ein wenig bekümmert dreinblickende zwölfjährige Tilla, die ein paar Zentimeter kleiner war als der elfjährige Paul, weshalb er sich seit Kurzem an ihre Stelle drängeln durfte. Ganz am Ende der Reihe stand der fünfjährige Nachzügler Johannes, genannt Hans, den man anfänglich für eine Magenverstimmung hielt, da seine Mutter Maria Wilhelmine Franciska Lagerfeld, geborene Wiegels, bei der Empfängnis bereits zweiundvierzig gewesen war.
Otto seufzte und versuchte, mit einem Klimmzug an dem steinernen Mauervorsprung einen Blick in das Klassenzimmer der Quinta zu erhaschen, das im Hochparterre lag, doch seine Nasenspitze erreichte gerade eben den Fenstersims. Während die beiden Mädchen ihre Ranzen ablegten und auf einem Bein über die Pflastersteine hüpften, begann er hin und her zu trippeln, um die wachsende Unruhe zu vertreiben.
Wenn sie heute zu spät kämen, würde der Vater ihn dafür verantwortlich machen. Als Ältester der hier zur Schule gehenden Geschwister trug er nun mal die Verantwortung für alle. Der Vater würde nicht schimpfen oder ihn züchtigen, nein, so etwas tat er nur selten. Otto fürchtete sich auch nicht vor den zusätzlich aufgebrummten Arbeitsstunden im Gemüsegarten hinter dem Haus oder vor dem tagelangen Schweigen. Aber die Enttäuschung über das Unvermögen seines Sohnes würde dem Vater ins Gesicht geschrieben stehen, weil Otto sich nicht bis zum Äußersten angestrengt hatte, um sein Vorhaben, bei einem befreundeten Kaufmann einen guten Eindruck zu hinterlassen, von Erfolg zu krönen.
Und das war für Otto das Allerschlimmste.
Als die Tür des Schulgebäudes aufschwang und Paul endlich heraustrat, lachend, als wäre nichts geschehen, schlugen die Glocken der St-Pauli-Kirche vier. In zwanzig Minuten fuhr der Zug, der sie nach Groß Flottbek bringen sollte, am Altonaer Bahnhof ab. Wenn sie sich beeilten, schafften sie es vielleicht noch.
»Was hast du wieder angestellt?«, rief Otto dem Bruder entgegen.
Paul zuckte die Achseln und setzte jenes Lächeln auf, mit dem er für gewöhnlich alle Wogen zu glätten vermochte. »Nichts. Ich hatte Tafeldienst.«
»Es ist immer nur der Tafeldienst«, brummte Otto, der immun gegen dieses Lächeln war, und gab den beiden Schwestern ein Zeichen. »Nun los, sonst kommen wir zu spät.«
Sie liefen die Wilhelminenstraße hinab und bogen auf die Reeperbahn, durch die in wenigen Stunden die Amüsierwilligen schlendern würden, um in den Varietés, Theatern, Bierpalästen und den als Beherbergungshäuser umetikettierten Bordellen zu verschwinden. Noch aber gehörte die Straße den Spaziergängern, die ihre eleganten Anzüge, Roben und Federhüte zur Schau stellten und so taten, als sähen sie die vielen Bettler nicht.
Während Otto darauf achtete, dass seine beiden Schwestern nicht zurückfielen, rannte Paul vorneweg. Leichtfüßig wie ein Sportler wich der vier Jahre Jüngere den Flanierenden aus und flitzte die Straßenbahngleise entlang, ohne auf die Erwachsenen zu achten, die sich schimpfend nach ihm umdrehten und ihn ermahnten, gefälligst achtzugeben.
»Nun kommt schon, ihr lahmen Kröten«, rief Paul seinen Geschwistern feixend zu, als er kurz innehielt und sich zu ihnen umdrehte.
Ein Quietschen kündete das Nahen der Elektrischen an, doch während die anderen Passanten vor ihrem stählernen Bug zurückwichen, schien Paul sie gar nicht zu bemerken. Mit aufreizender Gelassenheit tänzelte er nun sogar zwischen den Spuren hin und her.
Tilla kreischte auf, als das schrille Bimmeln erklang, und Paul sprang in letzter Sekunde zur Seite, als sei dies alles nur ein Spaß und nicht bitterer Ernst. Dann begann er wieder zu rennen, bis nur noch seine stahlblaue Jacke zu sehen war, die immer wieder zwischen den Flanierenden aufblitzte. Und sein auf und ab hüpfender dunkler Schopf, der plötzlich wie festgefroren an einer Stelle verharrte.
»Ihr seid doch nur doofe Kesselflicker«, hörte man Paul schreien, bevor er sich den Geschwistern in demselben Tempo, mit dem er fortgelaufen war, wieder näherte. »Ich komme später nach«, rief er ihnen zu und verschwand.
Nun sah Otto auch die beiden Jungen, die ihm grölend folgten.
Es waren zwei kräftig gebaute Burschen mit Schiebermützen und geflickten Hosen, die Otto noch aus der katholischen Kirchenschule beim kleinen Michel kannte, in die sie noch vor vier Jahren gegangen waren. Der Vater hatte sie damals wegen der Unfähigkeit der Lehrkräfte abgemeldet und in der ehemaligen Schule der evangelisch-reformierten Gemeinde untergebracht. Die beiden Raufbolde hatten schon damals ständig Ärger gemacht und sich Paul und Otto entgegengestellt, sobald sie ihrer ansichtig wurden, um sich mit ihnen zu messen.
Ausgerechnet heute, dachte Otto, tauchen sie wieder auf. Er holte tief Luft und trat den beiden mit erhobener Hand in den Weg.
»Ich bitte euch recht höflich, meinen Bruder in Ruhe zu lassen.«
»Hast du gehört, er bittet recht höflich.« Der Größere der beiden lachte schallend und sah dabei nicht aus, als würde er es auch nur in Erwägung ziehen, Ottos Wunsch Folge zu leisten. Aber immerhin blieb er stehen. »Wie der schon redet, dieser feine Pinkel aus Groß Flottbek. Bist jetzt wohl was Besseres, was?«
»Können wir das ein andermal klären? Wir haben es eilig.«
Der Junge streckte ihm die flache Hand entgegen. »Was gibst du uns dafür, dass wir wieder abziehen?«
Otto dachte an die Münzen, die er in seinen rechten Strumpf gesteckt hatte und von denen er die Bahnfahrt bezahlen sollte. »Ich habe nichts dabei«, log er und wendete die Taschen seiner Jacke nach außen.
»So ein Pech für Paul.« Der Raufbold wollte sich an Otto vorbeidrängen, aber da sein Widersacher nirgends zu sehen war, blieb er stehen. »Oder willst du es an seiner Stelle mit uns aufnehmen?« Er trat näher und reckte das Kinn. »Du Hühnerbrust. Na, komm schon, wenn du dich prügeln willst.«
»Ich will mich nicht prügeln«, sagte Otto leise, doch weil er kein Hasenfuß sein wollte, ballte er die Fäuste.
Der Junge lachte. Mit geschwellter Brust trat er vor und rempelte ihn an. Und weil der Brustkorb des Angreifers fast doppelt so breit war wie sein eigener, geriet Otto ins Stolpern, bis er vor dem Schaufenster einer Konditorei zum Stehen kam.
Der Raufbold sprang vor, um Otto erneut zu schubsen, als ein schriller Pfiff erklang und ein Uniformierter mit Pickelhaube auftauchte, gefolgt von Mimi und Tilla, die ihn zur Hilfe gerufen hatten. Bei seinem Anblick rannten die beiden...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2022 |
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Reihe/Serie | Das Glück unserer Zeit | Das Glück unserer Zeit |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Bücher Roman • Dosenmilch • eBooks • Familiensaga • Frauenromane • Glücksklee • Liebesromane • Neuer Band der Reihe • Neue Reihe • Neuerscheinung • Neuerscheinung Roman • Reihe |
ISBN-10 | 3-641-27308-0 / 3641273080 |
ISBN-13 | 978-3-641-27308-8 / 9783641273088 |
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