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23 Uhr 12 - Menschen in einer Nacht (eBook)

Ein Roman in zwölf Geschichten | »Durchgeknallt und wild, wie eine Drehbuchvorlage für den nächsten Film von Quentin Tarantino.« Christine Westermann, WDR
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
256 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44572-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

23 Uhr 12 - Menschen in einer Nacht -  Adeline Dieudonné
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Zwölf Menschen nachts an einer Raststätte ... Eine Sommernacht an einer Autobahn-Raststätte in den Ardennen. Im hellen Neonlicht werden ein Dutzend Personen um 23:12 Uhr Zeuge, wie eine alte Frau über die Leitplanke der Fahrbahn klettert. Die Kassiererin der Tankstelle; Chelly, die Pole-Dance-Lehrerin; Alika, das philippinische Kindermädchen; Victoire, 25-jähriges Topmodel; Loic, Autoschlosser und Pick-up-Artist; Joseph, Handelsvertreter für Milben ...: Jeder von ihnen ist ein outsider und hat einen an der Klatsche. Ein einzigartiges Panoptikum menschlicher Absonderlichkeiten in Dieudonnés unvergleichlichem Sound: Knallhart, drastisch, wild, tabulos, surreal, rabenschwarz und voll überbordender Fantasie.

Adeline Dieudonné, geboren 1982, lebt mit ihren Töchtern in Brüssel. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und einem erfolgreichen One-Woman-Theaterstück entwickelte sich ihr Romandebüt >Das wirkliche Leben< zu einem großen internationalen Bestseller. Sie wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, ihre Bücher in über zwanzig Sprachen übersetzt. Seitdem erschienen bei dtv der Text >Bonobo Moussaka< sowie der Roman >23 Uhr 12<.

Adeline Dieudonné, geboren 1982, lebt mit ihren Töchtern in Brüssel. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und einem erfolgreichen One-Woman-Theaterstück entwickelte sich ihr Romandebüt ›Das wirkliche Leben‹ zu einem großen internationalen Bestseller. Sie wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, ihre Bücher in über zwanzig Sprachen übersetzt. Seitdem erschienen bei dtv der Text ›Bonobo Moussaka‹ sowie der Roman ›23 Uhr 12‹.

Chelly


Chelly musste sich beruhigen. Sie atmete tief durch und beschloss, eine Pause zu machen. Sie wusste nicht genau warum, aber sie mochte Nachttankstellen.

Ihr kamen dort immer die Dire Straits in den Sinn.

Sie sah sich auf einer staubigen Straße in Montana, am Steuer eines alterslosen Pick-ups, frei und ungebunden, die raue Stimme und die E-Gitarre von Mark Knopfler im Ohr, auf dem Weg an einen Ort, wo es Pferde, eine Ranch und ein Fest mitten in der Prärie gab, mit einem großen Lagerfeuer, an dem Spareribs und Marshmallows gegrillt wurden.

Und da wäre dieser Gitarrenspieler, der ein bisschen was von Mark Knopfler hätte, ein bisschen was von Robert Redford in Der Pferdeflüsterer, ein bisschen was von Clint Eastwood in Die Brücken am Fluss.

Ein zuverlässiger, starker, einsamer Mann.

Ein Mann, dem man nichts vormachen könnte, der Schmerzhaftes erlebt hatte, Frau und Kinder bei einem Verkehrsunfall verloren oder so etwas …

Der mit gebrochenem Herzen auf seinem Appaloosa durch die Steppe reitet und seine Rinderherde zum Schlachthof führt. Sie stellte sich vor, wie er unter dem Sternenhimmel schläft, den Kopf auf seinen Westernsattel gebettet, während der Wind über dem Missoula Lake anhebt und in seinen blonden Haaren spielt.

Die Haut an seinem Hals riecht wie weiches Leder, trockenes Gras und Zedernharz.

Er würde sie bemerken, sie, Chelly.

Ohne sein Gitarrenspiel zu unterbrechen, würde er seinen Blick über ihren Hintern in der engen Low-Waist-Levis in Größe 26 gleiten lassen. Über ihren straffen Bauch unter dem karierten Hemd, das sie kurz über dem Bauchnabel verknotet hätte, über ihre vom jahrelangen Pole Dance geformten Arme.

Und sein wildes, aber einsames Cowboyherz würde wieder ein wenig zu schlagen beginnen.

Für sie, Chelly.

So träumte Chelly vor sich hin, während sie unter der leuchtenden Warntafel parkte (»Alle zwei Stunden mal einen Gang runterschalten!«), von dem ein Mann mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm herunterlächelte. Ein Typ, der mit seiner Göre und seinem fliehenden Haaransatz dümmlich selig wirkte.

Beim Aussteigen spürte Chelly einen Hauch Ärger in sich aufkommen. Der Kerl auf dem Schild erinnerte sie an Nicolas, ihren Mann. Und in letzter Zeit reagierte Chelly schon beim Gedanken an Nicolas mit Abwehr.

Als sie über den Parkplatz ging, bemerkte sie den orangefarbenen Laternenschein auf ihrem Arm. Er brachte ihre durchtrainierten Muskeln zur Geltung. Sie machte ein Foto und postete es auf Instagram. »Come on, girls! That’s what you should look like! #motivation #hardwork #power #muscles #polefitness«.

Chelly war Pole-Dance-Trainerin. Aber vor allem war sie Influencerin. Ihr Account @ChellyPoleFitness hatte sage und schreibe 43,7k Follower.

Noch ein paar Stunden zuvor war sie müde und antriebslos nach Hause gekommen, als ob all ihre Energie von einem Strudel aufgesogen worden wäre, dessen Ursprung sie nur zu gut kannte.

Sie war durch die Tür ihres Vorstadtbungalows wie ins Maul eines schlaffen Monsters mit modrigem Atem getreten. Sie musste an die Dementoren in Harry Potter denken, diese gespenstischen Gestalten, die sich vom Glück der Menschen ernähren, ihnen jeden positiven Gedanken und jeglichen Lebenswillen aussaugen.

Und da war Nicolas. Sie waren seit elf Jahren verheiratet. Nicolas war Set-Assistent beim Film. Ein schwieriger, harter Beruf mit wechselnden Arbeitszeiten, der einem Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft gegen Stress und Erschöpfung abverlangt.

All das hatte Chelly elf Jahre zuvor an Nicolas gereizt.

Mit seinem Leatherman und ein wenig Klebeband konnte Nicolas jedes heruntergekommene Haus in einen bewohnbaren Ort verwandeln.

Das erste Mal sahen sie sich bei einem Grillabend bei Freunden, die auf einem Autoschrottplatz wohnten. Nicolas war dabei, aus ein paar alten Reifen und Sicherheitsgurten, die er aus den Schrottautos gezerrt hatte, Sofas zu bauen. In nicht einmal einer Stunde hatte er das Drecksloch in einen hübschen kleinen Salon unter freiem Himmel verwandelt, mit ein paar alten Scheinwerfern als Lampions.

Bei diesem Anblick hatte Chelly gedacht, dass sie sich im Fall eines Atomkrieges mit genau so einem Mann in das Abenteuer Überleben stürzen würde. Sie stellte sich Nicolas dabei vor, wie er sich von ihrem provisorischen Lager aus mit nacktem Oberkörper, einer khakifarbenen Cargohose und einem selbst gebauten Bogen auf dem Rücken in die Wälder schlägt und ihr zuruft: »Bleib bei den Kindern, ich besorge uns etwas zu essen.«

Und ein paar Stunden später würde er wiederkommen, einen dampfenden toten Hirsch auf den muskelbepackten Schultern, und das Blut des Tieres würde aus der aufgeschlitzten Kehle über seine glatte, von der unerbittlichen Sonne gebräunte Brust rinnen.

Und wenn sie sich ihn, zu Beginn ihrer Beziehung, so vorstellte, stürzte sie sich auf ihn, um mit ihm zu schlafen. Manchmal mehrmals am Tag. Und wenn er voller Energie in ihr war, ersetzte sie Pfeil und Bogen durch einen Gewehrlauf und kam sofort.

Ihre Trauung fand im Standesamt statt, gefolgt von einer Feier im Clubhaus eines Sportvereins, wo es nach kalter Suppe roch.

Sie hatten ein kleines graues Haus in einer grauen Straße in einem grauen Stadtviertel im Norden der Stadt gekauft, weil es dort bezahlbar war.

Das kleine Haus war sauber und funktional, ausgestattet mit Fliesenboden und billigen Materialien. Ein ziemlich reizloses Ambiente, aber das Ambiente war ihnen beiden egal …

In der ersten Zeit waren sie glücklich. Manchmal stritten sie, aber sie liebten sich, und vor allem waren sie stolz aufeinander.

Chelly verlangte nicht viel von Nicolas. Nur Kraft, Disziplin und Härte. Daran glaubte Chelly. Wie andere an Gott oder an die Gewerkschaft glauben. Sie sah sich als Tier in einem Ökosystem, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Gewinner hier, Verlierer da. Ganz einfach. Selbst ein vierjähriges Kind war imstande, das zu begreifen: Wer sich anstrengt, überlebt. Wer sich nicht anstrengt, verreckt. Bei der natürlichen Selektion kommen nur die Stärksten durch, die anderen haben eben Pech gehabt. So lautete das Gesetz der Natur. Klar, deutlich, schonungslos. Und so leicht zu verstehen.

Ein Jahrzehnt lang hatte Chelly hart gearbeitet und sich ihre Nische erobert, sich einen Ruf verschafft und selbst die hartnäckigsten Konkurrentinnen abgehängt.

43,7k Follower auf Instagram.

Scheiße, das war die Leistung einer Kämpferin. Sich ein Publikum aufzubauen war das eine, das andere, es auch zu behalten. Täglich fünfzehn, zwanzig Fotos zu posten, ihre Truppe zu motivieren, immer in Hochform zu sein. Sie war ein Vorbild, eine Ikone, eine Referenz. Sie regierte ihre Community wie eine Wölfin ihre Meute. Sie war eine geborene Anführerin, sie hatte es im Blut, das wusste sie.

Nicolas hingegen sah seine Arbeit als ein notwendiges Übel, um sich Ärger vom Leib zu halten. Ein zufriedenes Umfeld, bezahlte Rechnungen, monatliche Kredittilgung … Das war kein Spaß, aber es musste sein.

Zu Anfang hatte er seinen Beruf gemocht. Alles war neu und gut für sein Selbstbild. Er fühlte sich wie sein Kindheitsidol MacGyver. Dann verlor er die Lust.

Der einstige MacGyver war nun ein Typ mit Bauchansatz, der seinen letzten Rest Energie darauf verwendete, sich über seine Arbeit zu beschweren. Nicolas’ Job war nur noch eine nie versiegende Quelle des Frustes, der Beleidigungen und Tiefschläge.

Als die ersten Beschwerden kamen, hatte Chelly sich gefragt, warum er nicht den Beruf wechselte, doch dann begriff sie, dass es Nicolas gefiel, sich zu beschweren. Sie hatte es daran gemerkt, wie er von seinem Tag erzählte. Er versuchte, den größtmöglichen Effekt zu erzielen und wurde seinen Ärger mit dem gleichen Vergnügen los, mit dem ein Säugling in die Windel macht.

Er servierte Chelly die tägliche Portion selbstgefälligen Gejammers mit einem Frettchenlächeln. Er begann immer mit einem »Ach, das habe ich dir noch nicht erzählt?« (obwohl er genau wusste, dass es nicht so war), gefolgt von einem »Warte, das ist wirklich der Hammer«.

Und er ließ sich genüsslich Zeit. Er sprach ein wenig leiser und senkte unterwürfig den eingezogenen Kopf, während er seinen Blick weiter in Chellys Augen bohrte. Wenn der Begriff »verschlagen« ein Gesicht hätte, wäre es dieses, dachte Chelly bei diesem Anblick. Es kam ihr so vor, als hätte sich sein Wortschatz gewandelt, als kämen darin nur Wörter mit möglichst vielen Zischlauten vor, die alles vor Spott triefen ließen. Sogar sein Gesicht wirkte verändert. Seine Augen lauerten tief in den Höhlen, wie zwei kleine Köter, die bereit waren loszukläffen.

Und dieses Lächeln … Dieses eifernde Selbstmitleid war sicher der Ursprung des Strudels, der Chelly so runterzog.

An dem Abend hatte sie sich auf jeden Fall erschöpft gefühlt. Und Erschöpfung hatte in Chellys emotionalem Repertoire keinen Platz.

Als sie nach Hause kam, war Nicolas bereits da. Er hatte früh Feierabend gemacht. Er wartete auf einem Hocker in der Küche, die Ellenbogen auf den Tresen gestützt, und futterte Chips mit Pickles-Geschmack aus der Tüte.

Er gab ihr einen lieblosen Kuss. Ein sinnlos gewordener Reflex. So sahen nun also ihre Küsse aus. Ein klinisch-kühles Etwas, das nicht wirklich aus Lust geschah, sondern weil es zu einer Ehe eben dazugehörte.

Du bist vergeben, du hast Sex. So ist das eben.

Wenn du es nicht tust, ist das komisch, ein Problem, das es schnell zu lösen gilt.

Und vom physiologischen...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2022
Übersetzer Sina de Malafosse
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurdität unserer Zeit • animalische Seite des Menschen • Ardennen • Außenseiter • Autobahn • Belgien • belgischer Humor • Bizarr • Französische Gegenwartsliteratur • französischsprachige Gegenwartsliteratur • Französischsprachige Literatur • Geschlechterrollen • Gesellschaftsbild • Gewalt • Grindadrap • kulturpass • leichtfüßig • literarischer Roman • literarischer Spaß • machtrausch • Männlichkeit • Niedertracht • Raststätte • Roman Neuerscheinung • Roman Noir • Schwarzer Humor • Selbstbewusstsein • Sex • Sommer • Sommernacht • surreal • Tabulos • Tankstelle • unverwechselbarer Sound
ISBN-10 3-423-44572-6 / 3423445726
ISBN-13 978-3-423-44572-6 / 9783423445726
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