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Wovon wir träumen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
176 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60158-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wovon wir träumen -  Lin Hierse
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Nur eins kann ich mir nicht aussuchen: Tochter sein Eine junge Frau steht auf einem Berg in Shaoxing. Sie ist gekommen, um ihre Großmutter zu beerdigen. Die Frage, wo sie selbst hingehört, möchte sie am liebsten beiseiteschieben. Hierhin oder nach Deutschland, wo sie geboren wurde. Ihre Mutter hat China vor Jahren verlassen, sie wollte ein anderes Leben. Die Träume der jungen Frau ähneln denen ihrer Ma. Und doch träumt man anders, wenn hier nicht hier ist und dort nicht dort - und die eigene Geschichte untrennbar verbunden mit den Frauen der eigenen Familie. Vom Tochtersein in unserer Gegenwart. Subtil, mutig und zutiefst berührend.

Lin Hierse ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Texte und Kolumnen erscheinen unter anderem in der taz, bei Zeit Online und in Literaturzeitschriften. Nach ihrem hochgelobten Debüt 'Wovon wir träumen' (Piper 2022) ist 'Das Verschwinden der Welt' ihr zweiter Roman. Lin Hierse lebt und arbeitet in Berlin.

Lin Hierse, geboren 1990 in Braunschweig, hat Asienwissenschaften und Humangeographie studiert. Sie lebt in Berlin und ist seit 2019 Redakteurin der taz. Dort erscheint auch ihre Kolumne poetical correctness. »Wovon wir träumen« ist ihr erster Roman.

abschied


Der Tag, an dem wir A’bu nach Hause bringen, ist sehr gewöhnlich. Es ist frühmorgens an irgendeinem Dienstag im April, der Himmel über Shanghai ist weder grau noch blau, es regnet nicht und es scheint auch nicht die Sonne. Es ist einfach, wie es ist.

Da Jiujiu, mein ältester Onkel, steht auf dem Bürgersteig und hält ein großes gerahmtes Portraitfoto von A’bu in den Händen. Es ist in dicken schwarzen Stoff eingewickelt, nur oben links, wo das Tuch verrutscht ist, schaut ihre ordentliche Frisur hervor. Da Jiujiu sieht müde aus und sanft. Er war immer schon der sanfteste und leiseste der Brüder. »Eigentlich ist das nicht gut für einen Erstgeborenen«, sagt die Familie. »Eigentlich müsste er die Dinge doch in die Hand nehmen, die Familienfeste organisieren und Reden halten mit lauter, fester Stimme.«

Aber Da Jiujiu nimmt wenig in die Hand, wenn man es ihm nicht aufträgt.

An diesem Morgen steht er ganz aufrecht. Sein Anzug ist an den Schultern etwas zu weit, er wirkt viel zerbrechlicher, als er ist. Er ist eigentlich wirklich kräftig, jeden Abend macht er hundert Kniebeugen. Sein Körper ist drahtig, nur sein Gesicht ist weich, er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Ein Schritt hinter ihm steht sein Sohn und hält die Urne im Arm. A’bu trank bis zu ihrem Tod aus der Tasse mit dem London-Schriftzug, die er ihr vor Jahren mitgebracht hat. Er, der älteste von uns Enkeln, der viel zu selten zu Besuch kommt, noch seltener als ich. Früher kam er aus Singapur, dann aus der Schweiz und seit einer Weile aus Großbritannien.

Neben den beiden steht der Nachbar, dessen Namen ich nicht kenne, der mir aber immer freundlich zunickt, wenn ich an seinem Wohnhaus vorbeigehe. Er hat einen großen Regenschirm über ihnen aufgespannt, damit A’bus Geist nicht schon auf der Reise in ihr Heimatdorf davonfliegt und sich verirrt. Ich würde mich sicher auch verirren, ich kenne den Weg nicht. Raus aus Shanghai bis nach Shaoxing, keine Ahnung, wo lang, aber zum Glück muss ich nur mit dreiundzwanzig anderen Menschen und einem Geist in diesen Bus steigen und dabei zusehen, wie die große Stadt langsam ausdünnt.

Da Ayi reicht mir zwei dünne rote Papierschnipsel und weist mich an, sie mir in die Schuhe zu stecken. Als älteste Tante kennt sie alle Regeln. »Am besten mit der roten Seite nach außen, damit du später keine Flecken an den Socken hast.«

Eigentlich würde ich gern ein paar Flecken behalten von diesem Tag, aber ich will nichts falsch machen, und deswegen tue ich, was sie sagt.

»Warum das Papier im Schuh?«, frage ich, und ihre Antwort ist »Zur Sicherheit«.

Ich will weiterfragen, zu welcher Sicherheit, aber da ist Da Ayi schon zwischen den anderen Füßen verschwunden, also nehme ich die Antwort, die fast immer passt: zum Schutz vor bösen Geistern.

Es gibt unendlich viel, was vor bösen Geistern schützt. Ein Spiegel gegenüber einer Tür, um sie hinauszureflektieren. Eine im Zickzack gebaute Brücke, weil böse Geister nur geradeaus gehen können. Warum also nicht auch rotes Papier in den Schuhen.

Wir steigen in den Bus, ich bin beinahe die Letzte. A’bus Geist und die Männer sitzen vorne, Mas Brüder mit ihren Söhnen, außerdem mein Cousin, der wohl für immer diese schweren Tränensäcke tragen wird, seit er vor vier Jahren einen Nagel in den Sarg seines Vaters schlagen musste. Auf den Plätzen dahinter haben sich meine Tanten niedergelassen, und die Frauen meiner Cousins, als gäbe es eine stille Ordnung. Ich gehe zwischen den Reihen hindurch nach hinten und lasse mich neben Ma auf einen Sitz fallen. Zwischen uns liegt der Gang, ich habe zwei Plätze für mich allein. Meine Cousine dreht sich zu mir um und reicht mir eine Plastiktüte mit zwei Mantou und kaum gesüßter Sojamilch, beides ist unangenehm warm auf meinem Schoß.

»Iss was, das wird dir guttun«, sagt sie und schaut mich dabei mit wachen Augen an. Sie ist immer ganz im Moment, sie hängt keinen Gedanken nach.

Der Fahrer startet den Bus, und ich schaue aus dem Fenster. Der Ausblick auf Shanghai ist einer der besten, besonders aus einem Auto heraus. Ich rutsche auf den Fensterplatz und lege die Tüte neben mir ab. Draußen werden Hochhäuser von einer Schnellzugtrasse abgelöst, drinnen raschelt das Plastik. Ich drehe den Verschluss meiner Sojamilch auf, es ist die gute mit dem schlichten roten Aufdruck, und sauge einen großen Schluck in mich hinein. Es fühlt sich an, als würde mein Magen von innen umarmt. Um mich herum beißen hungrige Münder in weißes Reismehlgebäck.

A’bu tunkte ihre Mantou jeden Morgen widerwillig in eine Mischung aus gemahlenem schwarzen Sesam und Zucker und sehnte sich dabei nach einem Schälchen Reissuppe mit eingelegtem Gemüse. Je älter sie wurde, desto stärker vermisste sie den Geschmack ihrer Kindheit – salzig, sauer, bitter – und desto sturer verlangte sie danach, dass man sich um sie kümmert wie um ein Kind. »Alles ist ein Kreis«, hat Ma einmal zu mir gesagt. »Wir fangen ganz hilflos an und hören hilflos wieder auf.«

Die Stimmung im Bus ist gut, ganz anders als damals, als wir Mas Bruder beerdigen mussten. Auf den Tod der Ältesten ist man immer irgendwie vorbereitet, und doch weiß niemand, wohin sich die Familie ausrichten soll, wenn sie verschwunden sind. Meine Cousins reden und lachen, Ma zeigt ihrer Schwester auf dem Handy Fotos aus ihrem Garten, Da Jiujiu hat den Kopf zur Seite geneigt, vermutlich schläft er nicht, bei jeder Unebenheit im Asphalt stößt er mit der Schläfe gegen das Fenster. Nur Da Ayi sitzt ganz aufrecht, sie hat die Hände in den Schoß gelegt und betrachtet nervös den Himmel. »Hoffentlich regnet es nicht, wenn wir auf den Berg steigen. Hoffentlich.«

Ich habe eine Einwegkamera dabei, aus der Drogerie bei mir in Berlin um die Ecke. Ich will A’bus letzte Reise festhalten, auch diesen Moment, also drehe ich das Rädchen bis zum Anschlag und schaue durch den Sucher. Die Szene ist schwer einzufangen, von meinem Platz aus sehe ich vor allem Hinterköpfe. Ich könnte aufstehen und das Bild von vorne machen, aber das erscheint mir unpassend. Heute ist mehr Aufgabe als Ausflug. Also halte ich die Kamera, so still es geht, und drücke auf den wackeligen Auslöser. Es gibt keine Fotos von A’bu als junger Frau, und es kann kein Foto geben von A’bu als Geist. Aber es gibt jetzt das Bild dieser Busfahrt.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir fahren, vielleicht drei Stunden, Shaoxing ist von Shanghai etwas mehr als zweihundert Kilometer entfernt. Wir haben es nicht eilig, aber wir machen auch keine Pause. Irgendwann lenkt der Fahrer den Bus vorbei an grünen Hügeln und hinein in die nächste Stadt. Als A’bu 1923 geboren wurde, war Shaoxing ein Dorf, heute leben hier über fünf Millionen Menschen. Ich war noch ein Kind, als ich das letzte Mal hier war. Ma erzählt mir, dass wir damals in schmale Boote umsteigen mussten, um uns in die Nähe des Berges bringen zu lassen, auf dem mein Großvater begraben liegt.

»Und danach mussten wir wandern, über so wackelige Stege und auf Trampelpfaden, dann viele Stufen steigen, den Berg hinauf. Weißt du das noch?«

Ich nicke.

Es war eine lange Reise, und sie war genau richtig beschwerlich. Es ist nie leicht, die Toten zu besuchen. An die Boote erinnere ich mich nicht, nur an Bambuswälder und Tümpel, in denen meine Cousins und ich kleine Frösche fingen, um sie einen Moment lang in den Händen zu spüren und dann wieder freizulassen.

»Es gibt doch dieses Foto von mir«, sage ich, »zwischen dicken Bambusstämmen. Die waren ganz glatt und kühl. Wenn ich das Ohr an sie gepresst hab, konnte ich das Wasser in ihnen rauschen hören.«

»Ja«, sagt Ma und sieht zufrieden aus.

Heute brauchen wir kein Boot mehr, und ich bin ein bisschen enttäuscht, als der Bus direkt am Fuße des Berges hält, wo ein steiler Weg in wucherndem Grün verschwindet. Auf den letzten Kilometern haben uns Autos und Rikschas begleitet, darin mittelalte Männer, die ich noch nie gesehen habe. Sie blasen in fanfarenartige Instrumente, schlagen kleine Becken aus Bronze aneinander und tragen riesengroße Papiergestecke in neonbunten Farben. Es ist eine schöne Begrüßung, so laut, so schrill, fast pompös. A’bu war keine Berühmtheit, ihr Leben war klein und bescheiden. Niemand weiß genau, wann sie geboren ist, »Irgendwann im Januar«, schätzen wir in der Familie. Aber wo ihr Leben begann, ist...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufwachsen • Autobiografischer Roman • Autofiktion • autofiktionales Erzählen • autofiktionales Selbstporträt • Bikulturalität • China • Chinatown • Chinesen und Deutsche • Debüt 2022 • Debütroman • Diversität • drei Generationen • Feminismus • Frausein • Großmutter • Heimat • Herkunft • Identität • Identitätspolitik • Identitätssuche • Junge Frau • Migration • Migrationshintergrund • Mutter-Tochter-Roman • Porträt • Rassismus • Starke Frau • weibliches Erzählen
ISBN-10 3-492-60158-8 / 3492601588
ISBN-13 978-3-492-60158-0 / 9783492601580
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