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Café Schindler (eBook)

Meine jüdische Familie, zwei Kriege und die Suche nach Wahrheit
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
480 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8042-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Café Schindler -  MERIEL SCHINDLER
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Kurt Schindler ist eine schillernde »verkrachte Existenz«. Seine Tochter Meriel, Anwältin in London, hat ihre liebe Not damit, ihn in Schach zu halten. Immer wieder fragt sie sich, was dran ist an den Geschichten, die er zum Besten gibt: Sind sie wirklich verwandt mit Franz Kafka und Oskar Schindler? Oder mit Hitlers jüdischem Arzt, Dr. Bloch? Was ist in der »Kristallnacht« in Innsbruck passiert, als die Nazis Kurts Vater halb zu Tode prügelten und das Haus durchsuchten? Als ihr Vater 2017 stirbt, beschließt Meriel, den Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Ausgehend von Fotos und Papieren, die in Kurts Cottage gefunden wurden, begibt sie sich auf eine atemberaubende Entdeckungsreise, die sie nach Österreich, Italien und in die USA führt. »Eine außergewöhnliche Geschichte.« Edmund de Waal

Meriel Schindler wuchs die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens im Zentrum Londons auf, ehe sie auf ein katholisches Internat im ländlichen Österreich gehen musste. Fünf Jahre später zog sie wieder nach Großbritannien, um Französisch und Deutsch zu studieren. Heute arbeitet sie als Juristin für Arbeitsrecht und ist Partnerin in und Teamleiterin bei der Anwaltskanzlei Withers LLP. Darüber hinaus ist Meriel Treuhänderin bei der Schreibwerkstatt Avaron. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Café Schindler ist ihr erstes Buch.

Meriel Schindler wuchs die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens im Zentrum Londons auf, ehe sie ein katholisches Internat im ländlichen Österreich besuchen musste. Fünf Jahre später zog sie wieder nach Großbritannien, um Französisch und Deutsch zu studieren. Heute ist sie in eigener Anwaltspraxis als Juristin für Arbeitsrecht tätig. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. »Café Schindler" ist ihr erstes Buch.

1


Sofie und Samuel


Innsbruck, Österreich, Sommer 2019


Ich betrachte ein Foto, das irgendwann in den 1930er-Jahren aufgenommen wurde. Im Vordergrund sitzt eine Frau in ihren späten Siebzigern oder frühen Achtzigern auf einer Bank und liest. Ihr Haar ist straff zurückgekämmt, sie trägt ein langes dunkles Kleid und robuste Schuhe. Über der Lehne der Bank hängt eine Decke für den Fall, dass ihr kalt werden sollte. Auch ihr Hut und ihr Mantel liegen neben ihr.

Hinter der Bank, am Rand der grünen Lichtung, sind Bäume zu erkennen. Das Sonnenlicht wirft Streifen auf ihre geraden, festen Stämme. Ich vermute, dass es Sommer ist, denn rechts auf dem Bild sieht man eine Familie auf einer Picknickdecke, und der Junge in ihrer Mitte trägt eine kurze Hose.

Das Foto wirkt nicht inszeniert. Fast scheint es, als wüsste die alte Frau nicht, dass sie fotografiert wird. Ihr Gesicht ist nur undeutlich zu erkennen, sie vertieft sich in das dicke Buch, das sie in ihren Händen hält. Nur zu gern wüsste ich, was sie da gerade liest, doch dieses Geheimnis lässt sich nicht mehr lüften. Ich weiß jedoch, wer die Frau auf der Bank ist: meine Urgroßmutter Sofie.

Ich kenne das Foto seit meiner Kindheit. Mein Vater hatte eine gerahmte Kopie immer in seiner Nähe, und gelegentlich erwähnte er Sofie auch, stets mit einem Unterton von Traurigkeit in seiner Stimme. Ich habe nie nach dem Grund gefragt, und er hat nie darüber gesprochen.

***

Nach dem Tod meines Vaters las ich ein Jahr lang Bücher, schrieb und recherchierte. Zum Arbeiten kam ich meistens nur an den Wochenenden. Mich in die Vergangenheit zuversenken war meine Form der Trauerarbeit. Dennoch konnte ich mich nicht dazu durchringen, die Truhe zu öffnen, in der ich die aus dem Cottage geretteten Papiere verstaut hatte.

[3] Meine Urgroßmutter Sofie Schindler in Igls, Juni 1938

 

Als mir der Umfang meines Vorhabens bewusst wurde, ließ ich mich für drei Monate von meinem Job freistellen. Ich wollte reisen, Archive besuchen und Zeit an den Orten verbringen, die ich in den Fotoalben gesehen hatte. 2016, kurz vor dem EU-Referendum, hatte ich in Großbritannien einen österreichischen Pass beantragt – nun, zwei Jahre nach Kurts Tod, war er mir zum ersten Mal von Nutzen. Ich griff mir den obersten, zentimeterdicken Dokumentenstapel aus der Truhe und machte mich auf den Weg nach Innsbruck, wo ich im Frühsommer 2019 ankam.

Vom Flugzeug aus konnte ich das grüne Band des Inn und die pastellfarbenen Gebäude sehen, die das Wasser wie Perlen säumten, im Hintergrund ragten die Berge auf. Ohne Zweifel war es schön hier, egal wie ich über die Zeit, in der ich selbst in Tirol gelebt hatte, denken mochte. Als wir uns im Sinkflug dem Tal näherten, rekapitulierte ich meine Kindheitserinnerungen und auch das, was mir mein Vater erzählt hatte, dann legte ich eine Liste mit all den Punkten an, über die ich Nachforschungen anstellen wollte. Ganz oben stand der Wunsch, mehr über das Leben meiner Urgroßeltern Sofie und Samuel Schindler zu erfahren.

Am nächsten Tag nahm ich mir eine schmale, beigefarbene Mappe aus Pappe vor, die ich den aus Kurts Cottage geretteten Dokumenten entnommen hatte. Die in der Mappe enthaltenen Papiere waren brüchig und ramponiert, manche hatten Flecken oder wiesen Risse auf, zudem waren sie unvollständig: Sie waren eben schon durch viele Hände gegangen. Aufgrund der Datierungen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts handelte es sich bei ihnen vermutlich um die ältesten Originale, die ich geerbt hatte. Abgefasst waren sie in einer schönen, aber unleserlichen Handschrift. Worum es sich bei den Blättern genau handelte, erschloss sich mir nicht, aber zumindest gelang es mir, Sofies und Samuels Namen zu entziffern. Ich war auf der richtigen Spur.

Diese Dokumente frustrierten mich. Seit meinen ersten stolpernden Versuchen, Deutsch zu sprechen, als Jugendliche nach meinem unfreiwilligen Umzug nach Österreich, war viel Zeit vergangen. Mittlerweile beherrschte ich die Sprache fließend, doch die Worte vor mir hatten keinerlei Ähnlichkeit mit denen, die ich kannte. Viele Buchstaben waren ganz anders geformt. Das »S« sah aus wie ein »P«, das »H« glich wiederum einem »S«, und ein horizontaler Strich auf einem Konsonanten bedeutete dessen Verdoppelung. Von zwanzig Wörtern vermochte ich kaum eines zu entziffern. Ich wandte mich an Michael Guggenberger, einen meiner Historikerfreunde aus Innsbruck. Er half mir, die Handschrift zu entziffern – es war die deutsche Kurrentschrift, die vor mehr als hundert Jahren an deutschen und österreichischen Schulen unterrichtet worden ist.

Als ob er ein Grundschulkind durch eine Leseübung begleiten würde, beugte sich Michael eines Sonntagnachmittags geduldig mit mir über die mitgebrachten Papiere voller Eselsohren. Es ging nur langsam voran, doch im Lauf mehrerer Wochen begann ich, die Wörter allmählich zu verstehen. Mit der Zeit wuchsen mir die schwarzen Schnörkel und Striche sogar ein wenig ans Herz.

Zusammen mit der Lektüre nahmen auch meine Urgroßeltern mehr und mehr Gestalt an. Die Geburt von Sofie Schindler (geborene Dubsky) am 27. Februar 1857 war in einem ziemlich zerfledderten Dokument von 1890 vermerkt, ausgestellt hatte es die römisch-katholische Diözese Budweis. Bei dem Dokument handelte es sich um den Auszug aus einer Matrikel, also aus einem Personenstandsregister. Dieses hier war eines für die »Israeliten von Gratzen«. Gratzen war der deutsche Name einer Stadt an der böhmisch-österreichischen Grenze, heute heißt sie Nové Hrady. Vermutlich bezog sich das Dokument auf die Synagoge, in der Sofie Schindlers Geburt registriert worden ist.

Das seltsam behelfsmäßig wirkende Dokument hieß, ziemlich unangebracht für ein jüdisches Kind, »Taufschein«. Um es nachträglich anzupassen, hatte man das Wort »Tauf« an sechs Stellen durchgestrichen und durch »Geburt« ersetzt. Das war nicht das einzige Kuriosum. »Taufpathen« war ebenfalls durchgestrichen und durch »Beschneidungszeugen« ersetzt worden, bizarr angesichts Sofies Geschlechts. War es der Fehler eines schlecht informierten Beamten, den man mit dem Umschreiben des Dokuments beauftragt hatte? Als Mohel, also als Beschneider, wurde der Buchhändler »Isak Dubsky« angegeben.

Ich schickte eine Kopie des Dokuments an einen Archivar in der Tschechischen Republik. Von ihm erfuhr ich, dass derartige Papiere trotz ihrer Kuriosität nicht unüblich gewesen sind. Vermutlich hatte Sofie das Dokument für ihre Eheschließung oder irgendeinen anderen amtlichen Zweck benötigt. Wichtig war, dass man ihren Geburtsort festgehalten hatte: Niederthal, eine Gemeinde im Bezirk Kaplitz (Kaplice) direkt an der böhmisch-österreichischen Grenze. Als ich mir die Umgebung auf der Landkarte ansah, wurde mir klar, dass es sich bei meiner Urgroßmutter um eine Böhmin aus der sanft hügeligen Gegend südlich von Prag gehandelt hatte.

Das einstige Königreich Böhmen liegt heute im Westen der Tschechischen Republik. Zu der Zeit von Sofies Geburt wurde es vom österreichischen Kaiser regiert, seine Einwohner bildeten nur einen kleinen Teil innerhalb der 36 Millionen Menschen umfassenden Gesamtbevölkerung des Habsburgerreichs (nach der Volkszählung von 1851). Das Kernland der Monarchie war Österreich, und die kaiserliche Zuständigkeit erstreckte sich, zumindest theoretisch, über Ungarn, Teile des heutigen Polens, die Ukraine und den Balkan sowie über den Großteil Norditaliens und die Dalmatinische Küste bis hinunter nach Griechenland.

Besonders die beiden mittleren Spalten von Sophies »Taufschein« faszinierten mich. Sie führten noch zwei Generationen weiter zurück. Als Sofies Vater war Elias Dubsky angegeben, der Sohn von Salomon und Eva Dubsky. Elias Dubsky, also mein...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2022
Übersetzer Erica Fischer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Lost Café Schindler
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Aimée & Jaguar • Biografie • Buch zweiter Weltkrieg • Café • Der Hase mit den Bernsteinaugen • Edmund de Waal • Eduard Bloch • Erica Fischer • Exil • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Geschichte der Juden • Holocaust-Memoir • Innsbruck • Judenhass • Juden in österreich • Juden in Tirol • Judenrettung • Judenverfolgung • Judenvernichtung • Jüdisch • Kaffeehaus • Lebenserinnerung • Nationalsozialismus • Nazis • Oskar Schindler • Wahre GEschichte • Zeitzeugen
ISBN-10 3-8270-8042-8 / 3827080428
ISBN-13 978-3-8270-8042-4 / 9783827080424
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