Doch noch wandl' ich auf dem Abendfeld...
euregioverlag
978-3-933617-89-7 (ISBN)
Susanne Vogel war eine zierliche, streitlustige Frau. Wache braune Augen, ein markanter Pagenschnitt, flinke Bewegungen – Susanne Vogel. Ich habe sie in den späten siebziger Jahren bei Wolfgang und Ingrid Hallwachs kennengelernt. Als ich ins Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses in der Druseltalstraße kam, saß sie auf dem blauen Sofa und stritt mit Wolfgang Hallwachs, dem Musikkritiker der HNA, über die Interpretation von Beethovens 3. Klavier-konzert. Ich hörte zu und war fasziniert von dieser weißhaarigen, so intelligent argumentierenden Frau. Ihr letzter Satz war: Du kannst es auch nicht verstehen, weil Du es nie gespielt hast. Sagte es, stand auf, verabschiedete sich mit einem fröhlichen Lächeln und ging. Mir war klar, diese Frau wollte ich näher kennenlernen. Von Hallwachs erfuhr ich, dass sie eine begabte Musikerin sei, aus einer jüdischen Familie stamme, die aber schon vor einer Generation zum Protestantismus übergetreten war, und dass jedes Gespräch mit ihr ein leuchtendes Feuerwerk sei. Zusammen mit Ingrid Hallwachs besuchte ich Susanne Vogel in Kassel-Kirchditmold, am Juliusstein 3. Ihr Haus schien mir ein Refugium mit Zaubergarten. Wenn wir über die Wiesen in Kirchditmold spazieren gingen, nannte sie die Pflanzen bei Namen, und den von ihr besonders geliebten, wie die leuchtend gelben Butterblumen, gab sie zuweilen Kosenamen wie Sonnenrädchen, oder Gelberich, auch einem blauen Engel sind wir einmal begegnet. Wir unterhielten uns über Natur, Musik, Bücher, zitierten Gedichte. Ich habe sie als lebenszugewandte, positiv gestimmte Frau gekannt. Nie sprach sie von den schweren Zeiten der Verfolgung, obwohl sie wusste, dass auch wir verfolgt waren, auch meine Mutter Pianistin wie sie, und im Nationalsozialismus eine Pianistin ohne Klavier gewesen war wie auch Susanne Vogel, dennoch sprach sie nie darüber. Bei den Vorträgen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, wo wir uns öfter trafen, bekundete sie ein waches intellektuelles Interesse an den Vorträgen, nie ein emotionales. Jegliche Form von Sentimentalität war ihr fern. Ihr großes Interesse an den Menschen machte jede Begegnung mit ihr so besonders. Mit ihr waren Gespräche wirkliche Begegnungen im Dialog, im Sinne Martin Bubers. Sie ließ sich ein auf die Andere, fragte nach, hörte zu, und kommentierte. Von sich selbst erzählte sie wenig. Von mir wollte sie zum Beispiel wissen, welche französischen Dichter ich besonders schätze. Und als sie hörte, dass ich über Paul Valéry promoviert hatte, zitierte sie Rilkes Übersetzung von Le Vin Perdu / Der verlorene Wein. Als Susanne Vogel sich entschloss, ihr geliebtes Haus aufzugeben und ins Mundus zu ziehen, lud sie mich ein, um mir einige Sachen, die sie nicht mitnehmen wollte oder konnte, anzubieten. Obwohl es ihr schwergefallen sein muss, aus dem Haus nach so langer Zeit und mit so vielen Erinnerungen auszuziehen, merkte ich ihr nichts an. Sie war sachlich, bestimmt, zielorientiert, keine Spur von Traurigkeit. Sie hatte ganz andere Trauer durchlebt. Es waren zwei Deckenlampen aus den dreißiger Jahren und ein Teewagen aus der gleichen Zeit, die sie für mich schon bereitgestellt hatte. Als ich einen ausziehbaren Nähkorb auf Rädern sah, fragte ich sie, ob sie den mitnehme. Ihre Antwort: Ach Kindchen Sie wollen doch nicht etwa dieses kleinbürgerliche Möbelstück, es passt nicht zu Ihnen. Ich wollte es und benutze es immer noch für meine „kleinbürgerlichen“ Flickarbeiten. Um das Bild von Susanne Vogel noch etwas abzurunden, möchte ich noch etwas über ihre Beziehung zu den fünf Hallwachs-Kindern hinzufügen. Für alle war sie „Tante Susanne“, die sie begleitete in ihrer Berufswahl, ihnen auf Augenhöhe begegnete und mit ihnen ernste philosophische Gespräche führte. Mit der Flötistin unter den Kindern machte sie gemeinsam Musik und bestärkte sie in ihrem Wunsch, Musikerin zu werden. Alle bestätigen, dass Susanne Vogel für sie immer da war, und wenn sie bei den Eltern kein Gehör fanden, gab es immer „Tante Susanne“, die zuhörte und Rat wusste. Zwei kleine Begebenheiten, die bei den Kindern mehr als fünfzig Jahre später noch lebhaft in Erinnerung sind, sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Der älteste Sohn erzählte, als er als Dreizehnjähriger in einer Runde von Erwachsenen gefragt wurde wen er liebe, und er antwortete: Ich liebe die Menschen, seien alle in schallendes Gelächter ausgebrochen, bis auf „Tante Susanne“, die mit: Lasst dem Jungen doch seinen Glauben an das Gute im Menschen, ich verstehe ihn, aus dieser peinlichen Situation befreite. Vielleicht dachte sie in diesem Moment an die „rettenden Engel“, wie sie die Menschen nennt, die ihr in den dunkelsten Momenten halfen und beistanden, Menschen, deren Persönlichkeit sie 1947 in einem Brief an ihre Cousine Lieselotte Dieckmann feinfühlig nachzeichnet. Die zweite Begebenheit erzählte mir die älteste Tochter. Sie besuchte mit ihren kleinen Kindern Susanne Vogel in ihrem Zaubergarten, als diese sich plötzlich an die Kinder wandte und fragte: Was wollt Ihr sein? Und der kleine Junge antwortete: Ich möchte ganz aus Glas sein, verstand sie ihn sofort und antwortete: Dann müssen wir Dir aber ganz schnell ein schützendes Haus bauen. Ob Susanne Vogel sich 1942 in Berlin wohl auch wie „aus Glas“ gefühlt haben mag? Der Brief an ihre Cousine ist mehr als ein Familienbrief, er geht weit über das persönliche hinaus, ist ein Stück Mentalitätsgeschichte, sicherlich ein literarischer Text. Als ich ihn las, wusste ich, warum sie nie von den „dunklen Jahren“, wie sie die Zeit im Nationalsozialismus nennt, gesprochen hat. Daran zu denken, oder geschweige davon zu sprechen, war für sie wie ein Rückfall in schwere Krankheit. In diesem langen Brief spricht Susanne Vogel von wenigen Tagen im Jahr 1942. Sie erzählt nicht nur die Ereignisse dieser Tage, sondern auch die „innere Geschichte“, die für sie eng mit den Ereignissen verwoben ist. „Die innere Geschichte“, das sind die scharfsinnigen Analysen, philosophischen Reflexionen, Charakteranalysen, mit denen sie ihren Bericht vielfach unterbricht. Sie spricht zum Beispiel von der Maßlosigkeit der Zeit, die zu einer Verwirrung der Begriffe von Recht und Unrecht, einer hoffnungslosen Gefühlsfinsternis, und in Lieblosigkeit und Leere endet. Susanne Vogel beschreibt eindringlich den Seelenriss, der Opfer wie Täter trifft in dieser Zeit, die jedes Maß verloren hatte– der innere Tod des Peinigers, auch der des Opfers. Maßlosigkeit, eigentlich ein harmlos wirkendes Wort, aber, in Bezug auf den Nationalsozialismus entfaltet es all seine Bedeutungsebenen: die Maßlosigkeit der Aufmärsche, die maßlose Gier nach Macht und Besitz, die maßlose Verachtung der Menschen, das maßlose Leid der Verfolgten, die gigantische Tötungsmaschinerie, kein anderes Wort beschreibt diese Zeit der Gefühlsfinsternis besser als dieses. Und dennoch enthält dieser Brief weder Anklage noch Verbitterung, eher eine ratlose Traurigkeit. Trotz aller Finsternis begegnen ihr aber auch „rettende Engel“, angefangen mit dem Geheimrat, dem Leiter des Sanatoriums, die Portiersfrau, die, sich selbst in Gefahr bringend, vor der Gestapo Information zurückhält und lobend von dem Professor spricht, oder dem Polizeibeamten, der, obwohl nur ein Hund im Amt, über einiges hinwegsieht und ihr so ein Verhör oder eine Hausdurchsuchung erspart; und zuletzt ist da ein Bestattungs-Kommissar, dessen Berliner Dialekt sie genüsslich zitiert, er kennt sich aus mit Behördengängen und Genehmigungen. Als Lichtgestalten leiten sie durch das finstere Tal. Die große „Abwesende“ in diesem Brief ist die Kirche. Inzwischen wurde das Versagen der Kirche in der NS-Zeit wissenschaftlich aufgearbeitet, nicht zuletzt von der Kirche selbst. Susanne Vogels Bericht jedoch verleiht den abstrakten Zahlen ein Gesicht. Das Schicksal, der von der Kirche alleingelassenen, getauften Juden wird durch die Figur ihres Vaters erfahrbar und ganz konkret. Beide, Susanne Vogel wie ihr Vater, waren tiefgläubige Christen. In ihrem Versuch das Schlimmste zu verhindern, wendet sie sich nicht an die Kirche, es wäre zwecklos gewesen, sondern an die jüdische Gemeinde. Und trotzdem enthält dieser Brief nicht den Hauch eines Vorwurfs. Es ist überhaupt bemerkenswert, dass dieser Brief frei von jeglicher Anklage oder Schuldzuweisung ist. Er beschreibt die innere und äußere Geschichte, die Autorin ist bedacht, jegliche Form von Pathos zu vermeiden. Fast neige ich dazu, ihren Stil als „sachlich“ zu bezeichnen. Selbst wenn sie von ihrer ständigen Angst, ihrem Ausgeliefertsein, ihrer Einsamkeit spricht, dann psychologisch, analytisch. „Dieses fast unbegreifliche Auf und Ab vom höchsten Lebensgefühle bis zum sehnlichsten Sterbensverlangen war eigentlich das ‚Lebenselement‘, in dem wir uns dauernd bewegten“. Der Brief, geschrieben 1947, endet mit einer Zukunftsvision: „Viel wäre gewonnen, wenn die Mächtigen dieser Erde aufhörten, mit dem vergeblichen ‚Exorzismus’ der Theorien und Ideologien, mit den vergeblichen Opfergaben an die Dämonen in Gestalt von Almosen aller Art. … (und sich abwendeten) von Sodom, ohne sich umzusehen und zur Salzsäule zu erstarren, (mit) dem einzigen Ziel, für das es sich noch zu leben lohnt: Mitzuhelfen, dass Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, dass Brüderlichkeit und – ein wenig Vernunft unter den Menschen aufgehen möge.“ Daran arbeiten wir uns im 21. Jahrhundert immer noch ab. Von ihren schmerzhaften Erinnerungen ist Susanne Vogel nicht gelähmt zurückgeblieben, im Gegenteil sie war stets bereit mitzuhelfen, dass eine gerechtere Gesellschaft entstehen möge. Ein Brief, ein literarisches Zeugnis aus finsterster Zeit, eine Ergänzung der Tagebücher Victor Klemperers, ein neuer Text der Holocaust Literatur, das ist Susanne Vogel gelungen. Eva Schulz-Jander
Susanne Vogel war eine zierliche, streitlustige Frau. Wache braune Augen, ein markanter Pagenschnitt, flinke Bewegungen - Susanne Vogel. Ich habe sie in den späten siebziger Jahren bei Wolfgang und Ingrid Hallwachs kennengelernt. Als ich ins Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses in der Druseltalstraße kam, saß sie auf dem blauen Sofa und stritt mit Wolfgang Hallwachs, dem Musikkritiker der HNA, über die Interpretation von Beethovens 3. Klavier-konzert. Ich hörte zu und war fasziniert von dieser weißhaarigen, so intelligent argumentierenden Frau. Ihr letzter Satz war: Du kannst es auch nicht verstehen, weil Du es nie gespielt hast. Sagte es, stand auf, verabschiedete sich mit einem fröhlichen Lächeln und ging.Mir war klar, diese Frau wollte ich näher kennenlernen. Von Hallwachs erfuhr ich, dass sie eine begabte Musikerin sei, aus einer jüdischen Familie stamme, die aber schon vor einer Generation zum Protestantismus übergetreten war, und dass jedes Gespräch mit ihr ein leuchtendes Feuerwerk sei.Zusammen mit Ingrid Hallwachs besuchte ich Susanne Vogel in Kassel-Kirchditmold, am Juliusstein 3. Ihr Haus schien mir ein Refugium mit Zaubergarten. Wenn wir über die Wiesen in Kirchditmold spazieren gingen, nannte sie die Pflanzen bei Namen, und den von ihr besonders geliebten, wie die leuchtend gelben Butterblumen, gab sie zuweilen Kosenamen wie Sonnenrädchen, oder Gelberich, auch einem blauen Engel sind wir einmal begegnet.Wir unterhielten uns über Natur, Musik, Bücher, zitierten Gedichte. Ich habe sie als lebenszugewandte, positiv gestimmte Frau gekannt. Nie sprach sie von den schweren Zeiten der Verfolgung, obwohl sie wusste, dass auch wir verfolgt waren, auch meine Mutter Pianistin wie sie, und im Nationalsozialismus eine Pianistin ohne Klavier gewesen war wie auch Susanne Vogel, dennoch sprach sie nie darüber. Bei den Vorträgen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, wo wir uns öfter trafen, bekundete sie ein waches intellektuelles Interesse an den Vorträgen, nie ein emotionales. Jegliche Form von Sentimentalität war ihr fern.Ihr großes Interesse an den Menschen machte jede Begegnung mit ihr so besonders. Mit ihr waren Gespräche wirkliche Begegnungen im Dialog, im Sinne Martin Bubers. Sie ließ sich ein auf die Andere, fragte nach, hörte zu, und kommentierte. Von sich selbst erzählte sie wenig. Von mir wollte sie zum Beispiel wissen, welche französischen Dichter ich besonders schätze. Und als sie hörte, dass ich über Paul Valéry promoviert hatte, zitierte sie Rilkes Übersetzung von Le Vin Perdu / Der verlorene Wein.Als Susanne Vogel sich entschloss, ihr geliebtes Haus aufzugeben und ins Mundus zu ziehen, lud sie mich ein, um mir einige Sachen, die sie nicht mitnehmen wollte oder konnte, anzubieten. Obwohl es ihr schwergefallen sein muss, aus dem Haus nach so langer Zeit und mit so vielen Erinnerungen auszuziehen, merkte ich ihr nichts an. Sie war sachlich, bestimmt, zielorientiert, keine Spur von Traurigkeit. Sie hatte ganz andere Trauer durchlebt. Es waren zwei Deckenlampen aus den dreißiger Jahren und ein Teewagen aus der gleichen Zeit, die sie für mich schon bereitgestellt hatte. Als ich einen ausziehbaren Nähkorb auf Rädern sah, fragte ich sie, ob sie den mitnehme. Ihre Antwort: Ach Kindchen Sie wollen doch nicht etwa dieses kleinbürgerliche Möbelstück, es passt nicht zu Ihnen. Ich wollte es und benutze es immer noch für meine "kleinbürgerlichen" Flickarbeiten.Um das Bild von Susanne Vogel noch etwas abzurunden, möchte ich noch etwas über ihre Beziehung zu den fünf Hallwachs-Kindern hinzufügen. Für alle war sie "Tante Susanne", die sie begleitete in ihrer Berufswahl, ihnen auf Augenhöhe begegnete und mit ihnen ernste philosophische Gespräche führte. Mit der Flötistin unter den Kindern machte sie gemeinsam Musik und bestärkte sie in ihrem Wunsch, Musikerin zu werden. Alle bestätigen, dass Susanne Vogel für sie immer da war, und wenn sie bei den Eltern kein Gehör fanden, gab es immer "Tante Susanne", die
Erscheinungsdatum | 24.09.2021 |
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Verlagsort | Kassel |
Sprache | deutsch |
Maße | 210 x 200 mm |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Holocaust • Klemperer • MHK • Mischehe • Schlesien |
ISBN-10 | 3-933617-89-8 / 3933617898 |
ISBN-13 | 978-3-933617-89-7 / 9783933617897 |
Zustand | Neuware |
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