Mitgift (eBook)
352 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11672-4 (ISBN)
Henning Ahrens, 1964 in Niedersachsen geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt. Er übertrug unter anderem die Werke von Jonathan Safran Foer, Colson Whitehead, Meg Wolitzer und Richard Powers ins Deutsche. Für sein literarisches Werk erhielt er mehrere Auszeichnungen, zuletzt erschien 2015 »Glantz und Gloria. Ein Trip«, das mit dem Bremer Literaturpreis geehrt wurde.
Henning Ahrens, 1964 in Niedersachsen geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt. Er übertrug unter anderem die Werke von Jonathan Safran Foer, Colson Whitehead, Meg Wolitzer und Richard Powers ins Deutsche. Für sein literarisches Werk erhielt er mehrere Auszeichnungen, zuletzt erschien 2015 »Glantz und Gloria. Ein Trip«, das mit dem Bremer Literaturpreis geehrt wurde.
August 1962 – Die Totenfrau
Der Garten liegt noch im Schatten des Hauses, als Gerda Derking ihr Frühstück auf die Terrasse trägt. Nur ganz hinten, vor dem Hühnerstall, glitzert das taufeuchte Gras in der Vormittagssonne, funkeln die Rosen.
Sie stellt das Tablett mit den zwei Kaffeestreifen und der Kanne, die sich unter einer wattierten Haube verbirgt, auf die Wachstuchdecke, nimmt am Gartentisch Platz, schenkt sich Kaffee ein. Die Tasse, eines der wenigen Erbstücke, die sie als Tochter Zugewanderter besitzt, gehört zu einem Rosenthal-Service, das ihre Mutter Stück für Stück erwarb. Ihr Vater war Walzwerker, ihre Familie nie wohlhabend; jedes Luxusgut, so auch dieses Service, wurde mit Gewissensbissen erkauft. Gerda tunkt einen Kaffeestreifen in die Tasse und beobachtet, wie sich der Zuckerguss auflöst, lässt dann den ersten herb-süßen Happen auf ihrer Zunge zergehen. Mit diesem Ritual beginnt sie jeden Tag; und sie bedauert täglich, dass Kaffeestreifen nur auf einer Seite glasiert sind.
Da horcht sie auf. Ihr Kater, der graugetigerte Kämpe, streckt sich mit einem fauchenden Gähnen. Sie hat ihn Heini getauft, nach ihrem Verlobten, der 1918 fiel; seit dem Tod ihrer Eltern ist er ihr einziger Hausgenosse, mit seinen fünfzehn Katzenjahren obendrein älter als sie selbst. Gerda geht mit dem Jahrhundert.
Sie trinkt einen Schluck, tunkt den Streifen wieder ein. »Kannst du mir verraten, warum nicht beide Seiten glasiert sind, Heini?«, fragt sie. »Wäre noch leckerer, der Kaffee noch süßer. Ich vergesse jedes Mal, mich beim Bäcker danach zu erkundigen. Glaubst du, ich werde vergesslich?«
Heini trottet auf den Rasen und beginnt, sich zu säubern.
Gerdas Garten, der nicht breiter ist als drei aneinandergelegte Leinenlaken, wird rechts von der Kornscheune des Haarstickschen Hofes und links vom Wohnhaus des Leebschen Hofes flankiert, zu dem auch ihr kleines Grundstück gehört. Wilhelm Leeb senior hat ihr lebenslanges Wohnrecht zugesichert, und sie weiß, er wird Wort halten, in dieser Hinsicht ist er korrekt. Hätte sie Besitz in die Ehe einbringen können, dann hätte er sie damals, vor über dreißig Jahren, wohl auch geheiratet. Er war ihre zweite Liebe, sie jedoch eine Arbeitertochter, also nicht standesgemäß, und als er zu guter Letzt Käthe, die Hoferbin, zur Frau nahm, beschloss Gerda, allein zu bleiben – allein, aber selbstbestimmt. Das hat sie nie bereut. Der Mensch vermag nur ein gewisses Maß an Enttäuschungen zu ertragen.
Wie nichts im Übermaß erträglich ist. Ihre Arbeit als Deputatfrau, die sie bei den Leebs und ein, zwei anderen Landwirten ausübt, ist mit dem Alter beschwerlicher geworden, aber auszuhalten. Ihrer anderen Tätigkeit fühlt sie sich jedoch nicht mehr gewachsen: Sie ist die Totenfrau, so ihr Titel im Dorf. Wenn jemand gestorben ist, wird sie geholt; fast jede Familie stand vor ihrer Tür, Gerda betrat fast jedes Haus, und sie hat alle gesehen, ob jung oder alt, im Sterbebett oder dort, wo ein Leben sein Ende gefunden hatte, in der Stube, auf der Diele, im Stall. Sie hat die Verstorbenen gewaschen, frisiert, manikürt und gekleidet wie von den Angehörigen gewünscht, und sie hat sich manches anhören müssen, Kummer und Klagen, sogar Zorn.
Ja, sie hat alle gesehen, sie hat zu viele gesehen, es reicht. Sie ist bald Mitte sechzig, ihr eigenes Ende rückt näher, warum weiter Tote herrichten? Früher hatte kaum jemand Telefon, man besaß nur Kutsche, Fahrrad oder Schusters Rappen, holte also die Totenfrau, um sich nicht zum Bestatter in die Kreisstadt bemühen zu müssen. Inzwischen nimmt die Zahl der Autos stetig zu, sie fahren rund um die Uhr durchs Dorf, und nicht nur Zuckerrübenbarone besitzen eines, nein, auch die Arbeiter sind vielfach motorisiert.
Deshalb hat Gerda beschlossen, ihre Tätigkeit zu beenden. Sie lächelt, während sie am Kaffeestreifen knabbert. Ab jetzt wird sie sich den Lebenden widmen, vor allem ihren Freundinnen, mit denen sie oft und gern an diesem Tisch sitzt. Und sie wird noch mehr lesen als zuvor.
»Heini«, sagt sie zu ihrem Kater, der im Gras liegt und den Garten beobachtet, »ist das nicht herrlich?«
Er lässt wie als Antwort den Schwanz tanzen; in Wahrheit hat er ein Eichhörnchen im Visier, das durch den Haselnussstrauch turnt. Im Laufe seines Katzenlebens hat er unzählige Mäuse und leider auch manche Vögel erbeutet, ein Eichhörnchen aber nie, die flinken Tiere sind ihm über.
Hinter Gerdas Hühnerstall sind die Bäume im Obstgarten der Haarsticks zu sehen. Zwetschgen und Renekloden sind bald reif, ebenso Äpfel und Birnen. Annemarie Haarstick, ihre Nachbarin, weckt das Obst ein, verarbeitet es zu Marmelade und Mus und kocht vorzügliche Kaltschalen, die sie Gerda gelegentlich über den Zaun reicht; auch sie sitzt oft an diesem Tisch. Zu dieser Stunde ist Gerda jedoch nur in Gesellschaft Heinis, einer Amsel, die auf einem Zaunpfahl sitzt, und einiger Kohlmeisen, die sich im Flieder balgen. Das Eichhörnchen ist davongesprungen.
Nachdem Gerda den Kaffee ausgetrunken hat, steht sie auf, holt den Sack mit Hühnerfutter aus der Waschküche und tauscht ihre Schlappen gegen Lederschuhe mit Stahlkappen ein, die ihr Vater im Walzwerk trug. Sie hat seine Größe geerbt, 42, ein Nachteil, weil sie kaum Schuhe findet; andererseits trägt sie im Gegensatz zu Annemarie nie Trittchen, sondern begnügt sich mit Zweckmäßigem.
Während sie mit dem Futtersack in der Hand über die lange, schmale Rasenfläche geht, mustert sie die Blumenbeete und Rabatten auf beiden Seiten. Ihre Stockrosen sind verblüht, im Gemüsebeet dagegen, das sie vor dem Hühnerstall angelegt hat, gedeiht alles, und die Kartoffeln, deren Kraut zu welken beginnt, kann sie bald ernten. Als sie die Pforte im Maschendrahtzaun aufklinkt, laufen ihre Hühner gackernd auf sie zu, sieben rote Rhodeländer und ein Hahn. Der liebgewonnene muffige Geruch nach Staub und Kot steigt ihr in die Nase.
»Putt-putt-putt-putt«, ruft sie, greift in den Sack und streut den Hafer mit der schwungvollen Geste einer erfahrenen Säerin aus. Heini will ins Gehege schlüpfen, doch sie wirft die Pforte mit einem Fußtritt zu. »Du bleibst draußen«, sagt sie. »Zwischen dem Federvieh hast du nichts zu suchen, da kommst du nur auf dumme Gedanken.« Während ihre Hühner die Körner aufpicken, geht sie in den Stall und schaut nach Eiern.
Am Ende transportiert Gerda fünf Stück in der Tasche ihrer Kittelschürze. Sie wechselt die Schuhe, nimmt das Tablett und geht in die Küche, dämmerig wie alle Zimmer ihres Hauses, das im Schatten zweier Höfe liegt. Sie spült gerade die Tasse, als es klingelt. Bevor sie öffnet, trocknet sie die Hände am Geschirrhandtuch ab.
Zu ihrer Überraschung steht Wilhelm Leeb senior vor der Tür, in Schaftstiefeln, Reithose und Arbeitsjacke. Seine graublonden Haare sind zerzaust, sein Mund, sonst bleistiftschmal, ist ein verwackelter Strich. Den Hut hat er abgesetzt und knetet ihn mit beiden Händen.
»Gerda …«, sagt er und sieht sie hilfeheischend an.
Ihre Überraschung wird nicht geringer: Das ist untypisch für Wilhelm Leeb, diesen stolzen, oft hochmütigen Mann; das ist nicht der »General«, wie er im Dorf wegen seines Geltungsdrangs bissig genannt wird, nein, das ist der Soldat einer besiegten Armee.
»Was ist denn los, Wilhelm?«, fragt sie. »Du siehst ja furchtbar aus. Möchtest du einen Kaffee?«
Wilhelm Leeb, ein gestandener Mann, druckst herum, auch untypisch für ihn, weicht sogar ihrem Blick aus.
Hinter ihm, auf der anderen Straßenseite, äugt die Siedentoppsche durch einen Gardinenspalt, und Gerda sagt: »Komm doch rein.«
Leeb senior schüttelt den Kopf. »Danke. Nein.« Er klingt brüchig. »Gerda«, wiederholt er, »… wir brauchen dich.«
Sie erstarrt, denn es kann sich nur um eines handeln. Nach kurzem Zaudern erklärt sie: »Ich mache das nicht mehr, Wilhelm. Du rufst besser den Peiner Bestatter.« Während sie dies ausspricht, überlegt sie, wer gestorben sein könnte – gewiss Magda, Wilhelms fünfundachtzigjährige Mutter, was sein Verhalten erklären würde; er hat sie immer sehr verehrt.
»Gerda«, sagt er, »das kannst nur du. Ich will keine Fremden im Haus haben. Um der alten Zeiten willen? Bitte.«
Nun muss sie stutzen – so kleinlaut hat sie ihn noch nie erlebt, und ihr dämmert, dass es doch nicht um Magda geht. »Was ist denn passiert?«, will sie erneut wissen. »Gab es einen Unfall?« Und sie fügt in ihrer Sorge schroff hinzu: »Welche alten Zeiten? Was uns verbunden hat, das hast du damals weggeworfen – einfach so.«
Wilhelm Leeb räuspert sich; in seinem Blick erwacht der alte Stolz, und er...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alkoholismus • Aufbruch • Ausbrechen • Besatzung • Deutsche Geschichte • Deutscher Buchpreis • Dorfroman • Drittes Reich • Erste Liebe • Familie • Hof • Krieg • Landwirt • Longlist Buchpreis • Natzionalsozialismus • Niedersachsen • Nominiert Buchpreis • Ostfront • Provinz • Sabine Bode • Suizid • Totenfrau • Traumata • Unterdrückung • Vater • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-11672-9 / 3608116729 |
ISBN-13 | 978-3-608-11672-4 / 9783608116724 |
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