Die Ottonen (eBook)
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-77972-5 (ISBN)
Hagen Keller lehrte bis 2002 Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er hat zahlreiche einschlägige Publikationen zur Geschichte der Ottonen vorgelegt.
I. Interesse an den Ottonen – Wissen über die Ottonen
Die Ottonen finden gegenwärtig großes Interesse bei einem breiten Publikum. Allerdings besteht eine Diskrepanz zwischen dieser Anziehungskraft der Zeit um die erste Jahrtausendwende und dem Stellenwert, der in unserer Gesellschaft historischem Wissen über ferne Zeiten eingeräumt wird. So stellt sich die Frage: Was verbinden Menschen bei uns heutzutage mit den Ottonen?
Vor hundertfünfzig, auch noch vor fünfzig Jahren hätte man die Frage zumindest in Deutschland nicht auszusprechen gewagt. Wer die Ottonen sind und wofür sie stehen, das zu wissen gehörte hier zur Allgemeinbildung. Mit festen Vorstellungen über die Ottonen und ihr Reich begeisterten sich Menschen oft für dieselben Phänomene und Objekte, die auch heute noch faszinieren. Und doch hätten frühere Generationen in einer Ottonen-Ausstellung vielfach wohl anderes gesucht als das heutige Publikum; Ausstellungsmacher hätten mit denselben Objekten anderes vermittelt. Was sie machten, hätten sie nicht erklären müssen, denn von der nationalen Bedeutung der Ottonen waren alle überzeugt. Die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten sind von der Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte erschüttert worden. Was es vielen Generationen ermöglicht hatte, die Geschichte der Ottonen mit der eigenen Vergangenheit zu identifizieren, hat sich in entscheidenden Punkten als anachronistische, zeitbedingte und ideologieanfällige Sichtweise erwiesen. Unberührt davon suchen Menschen in ihrem Interesse für die Ottonen heute anderes als frühere Generationen. Doch mischen sich in ihre Neugier unbemerkt alte Klischees?
Vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Ottonen als die ersten deutschen Könige. Nicht immer wurde ihnen diese Rolle so eindeutig zugeschrieben. Nach 1840 hatte man Ludwig «den Deutschen» (833/840–876) als «ersten deutschen König» entdeckt. Die Teilung des Karolingerreiches im Vertrag von Verdun, der Ludwig 843 ein «ostfränkisches Reich» zusicherte, wurde als Beginn eigenstaatlicher Existenz Deutschlands bewertet. Doch Ludwig teilte sein Reich wieder unter seine Söhne; umgekehrt regierte der jüngste von ihnen noch einmal das ganze fränkische Großreich, weil ihm durch den Tod seiner Verwandten alle Teilreiche zugefallen waren. Nach seiner Absetzung 887 begannen sich die Teile des Frankenreiches langsam voneinander zu lösen, ohne dass die zukünftige Gestalt des Karolingererbes schon zu erkennen war.
So lenkte die Suche nach der Entstehung des deutschen Reiches den Blick auf die Ottonen. Das geschah nicht ohne historische Berechtigung. 919 wurde der Sachsenherzog Heinrich im ostfränkischen Reich zum König erhoben; seit 925 brachte er auch Lothringen, bisher ein eigenes Teilreich, unter sein Szepter. Indem er 936 diese Herrschaft an seinen Sohn Otto I. weitergab, begründete er gleichzeitig ein neues Königshaus und ein selbständiges Reich. Dieses wurde bis 1806 nie mehr geteilt; von seiner geographischen Ausdehnung her war es über weite Strecken mit dem modernen Deutschland deckungsgleich. Im 19. Jahrhundert bezweifelte fast niemand, dass das Reich Heinrichs «das Deutsche Reich» war. Unter Heinrichs Herrschaft hatte, wie man meinte, das deutsche Volk erstmals und zugleich dauerhaft in einem eigenen Staat zusammengefunden.
Im Zeitalter der Romantik suchte man, wenigstens soweit man es sich monarchisch wünschte, ein wiedererstehendes Deutsches Reich in der Kontinuität des alten Kaiserreiches. Man träumte nach 1815 von Kaiser Friedrich Rotbart, der nach alter Sage im Kyffhäuser schlief und, wie man hoffte, bald – vielleicht in der Gestalt des preußischen Königs – wieder heraustreten würde, um den Deutschen ihr Reich, ihre nationale Einheit und den Glanz des Kaisertums zurückzubringen. Die Reichsgründungsgeneration von 1870/71 aber dachte in Gründerfiguren, die dem deutschen Volk seinen Staat geben und dem deutschen Reich imperiale Größe verschaffen. In den Ottonen, vor allem in Heinrich I. und Otto dem Großen, erkannte sie sich wieder.
Doch wie man sich um die großdeutsche oder kleindeutsche Lösung für den Nationalstaat stritt, so stritt man sich gleich auch um die Reichsgründung im 10. Jahrhundert. «Politisch denkende» Historiker meinten, Otto I. habe die nationalen Interessen – so, wie sie selbst sie neun Jahrhunderte später definierten – verkannt, als er Italien und die Kaiserkrone erwarb; Ostpolitik hätte er betreiben müssen und die slawischen Gebiete – man sprach nur selten von den Völkern – erobern sollen, wie es sein Vater Heinrich angeblich begonnen hatte. Zwar zeigten andere Historiker sofort das Anachronistische der Urteile auf, doch sie wurden populär bis weit ins 20. Jahrhundert.
Obwohl die Verzeichnungen der Ottonenzeit in diesem Geschichtsbild heute offenliegen, kann man die Fehlbewertungen aus zwei Gründen nicht einfach vergessen. Denn eben in jener Zeit, in der das Bild entstand, sind auch entscheidende Grundlagen unseres Geschichtswissens erarbeitet worden. Wer sich wissenschaftlich mit den Ottonen befasst, benutzt noch immer die vor mehr als hundert Jahren erschienenen Werke. Doch Wissenschaftler stellen für die folgenden Historikergenerationen nicht einfach neutrale Fakten bereit. Unvermeidlich bieten sie die Faktenrekonstruktion sozusagen mit einem eingewobenen Geschichtsbild. Zwar liest jede Generation aufgrund ihrer Erfahrung und Interessen sowie aufgrund neuer Erkenntnisse die Quellen neu und entdeckt manches, was bisher völlig übersehen wurde; für die Ottonenzeit ist dies gegenwärtig sogar sehr viel. Aber überkommene Geschichtsbilder und ältere Forschungsmeinungen wirken auf jeden Leser ein und können ein vermeintlich eigenes Verständnis umso leichter mitbestimmen, je weniger man sie reflektiert.
Damit sind wir beim zweiten Grund, dessentwegen man die Verzeichnungen im Geschichtsbild der preußischen Kaiserzeit und der Nachweltkriegsepoche nicht «einfach vergessen» kann. In den nationalistischen Zuspitzungen waren bereits die Zerrbilder angelegt, mit denen sich dann die Gründer eines «Dritten Reiches» auf die Ottonen beriefen, insbesondere auf Heinrich I. Zur tausendsten Wiederkehr seines Todestages im Jahr 1936 wurden – am Ort seines Grabes, unter Berufung auf ihn – Elemente der eigenen Ideologie propagiert: Neuheidentum, Rassismus, Kampf gegen als «artfremd» Diffamiertes und für die sogenannte Volkstums- und Lebensraumpolitik im Osten. Chefideologen und «Mitläufer» funktionierten die Erinnerung an die Ottonen zu aggressiver nationalistischer Propaganda um. Dieser ideologische Missbrauch war in der Geschichtswissenschaft mitvorbereitet worden durch die Art und Weise, in der Historiker nach dem Ersten Weltkrieg die Machtfrage, die Ostpolitik, die Rolle von Führertum und Volk sowie den Volkstumsgedanken in den Vordergrund gerückt hatten.
In der Mediävistik löste Himmlers Tausend-Jahr-Feier von 1936 Gegenreaktionen aus, denen eine intensive Erforschung der Ottonenzeit, insbesondere der Geschichte Heinrichs I., zu verdanken ist. Doch auch Historiker, die klar auf Distanz zur Vereinnahmung der Ottonen durch die NS-Ideologie gingen, sprechen im Vokabular ihrer Zeit, um Geschichte zu erklären. Wie weit wirken in der Wissenschaft und beim breiteren Publikum anachronistische Bewertungen nach, weil man ihnen in durchaus noch lesenswerten älteren Büchern begegnet, weil sie aus manchmal vagem Wissen heraus vertraut erscheinen, weil sie vieles einschließen, was noch im aktuellen Geschichtsbild als gesichert gilt?
Man müsste solche Fragen nicht so nachdrücklich stellen, wenn nicht nach dem Zweiten Weltkrieg das Interesse an so vergangenen Zeiten wie dem 10. Jahrhundert mehr und mehr nachgelassen hätte und ein fundierteres Wissen darüber auch bildungspolitisch zum entbehrlichen Luxus erklärt worden wäre. Was sich in der Geschichtswissenschaft an veränderten Sichtweisen ausformte, blieb dadurch fast ohne weiter reichende Resonanz. In der kollektiven Erinnerung verblasste die Ottonenzeit. Nach den Propagandaorgien von 1936 ließ man den tausendsten Jahrestag der Kaiserkrönung und des Todes Ottos I. 1962 und 1973 ohne offiziöse Akte verstreichen; nur das Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien veranstaltete 1962 eine große Gedenkfeier. Allem Anschein nach wusste man in Deutschland nicht, wie man mit dieser Vergangenheit umgehen sollte, ohne zugleich nationalistische Vergangenheitsbilder wiederzubeleben. So blieb die Wissenschaft für Jahrzehnte fast unter sich, während sie ein neues Panorama der ottonischen Epoche erarbeitete.
Aus dieser «Geschichtsferne» scheint die Gesellschaft auch in Deutschland wiederaufzutauchen. ...
Erscheint lt. Verlag | 26.8.2021 |
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Reihe/Serie | Beck'sche Reihe | Beck'sche Reihe |
Sprache | deutsch |
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Schlagworte | Deutschland • Einführung • Familie • Geschichte • Herrschergeschlecht • Herzogsfamilie • Kaiser • Kirche • König • Liudolfinger • Mittelalter • Ottonen • Reich • Sachbuch • Sachsen |
ISBN-10 | 3-406-77972-7 / 3406779727 |
ISBN-13 | 978-3-406-77972-5 / 9783406779725 |
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