Atlas - Die Geschichte von Pa Salt (eBook)
800 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-26103-0 (ISBN)
Ägäis, 2008. Alle sieben Schwestern sind an Bord der »Titan« zusammengekommen, um sich von ihrem geliebten Vater, der ihnen stets ein Rätsel blieb, zu verabschieden. Zur Überraschung aller ist es die verschwundene Schwester, die von Pa Salt damit betraut wurde, ihnen die Spur in ihre Vergangenheit aufzuzeigen. Aber für jede Wahrheit, die enthüllt wird, taucht eine neue Frage auf, und die Schwestern müssen erkennen, dass sie ihren Vater kaum gekannt haben. Noch schockierender aber ist, dass diese lang begrabenen Geheimnisse noch immer Auswirkungen auf ihrer aller Leben haben.
»Atlas. Die Geschichte von Pa Salt« erzählt von einem Leben voller Liebe und Verluste, umspannt Meere und Kontinente und führt die »Sieben-Schwestern«-Serie zu einer Atem beraubenden Auflösung.
Harry Whittaker ist Lucinda Rileys Sohn, dem sie vor ihrem Tod die Geschichte von »Atlas« in die Hände gelegt hat, damit er sie nach ihren Vorstellungen zum Abschluss bringt.
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Lucinda Riley wurde in Irland geboren und verbrachte als Kind mehrere Jahre in Fernost. Sie liebte es zu reisen und war nach wie vor den Orten ihrer Kindheit sehr verbunden. Nach einer Karriere als Theater- und Fernsehschauspielerin konzentrierte sich Lucinda Riley ganz auf das Schreiben - und das mit sensationellem Erfolg: Seit ihrem gefeierten Roman »Das Orchideenhaus« stand jedes ihrer Bücher an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten, allein die Romane der »Sieben-Schwestern«-Serie wurden weltweit bisher über 30 Millionen Mal verkauft. Lucinda Riley lebte mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im englischen Norfolk und in West Cork, Irland. Sie verstarb im Juni 2021.
I
Boulogne-Billancourt, Paris, Frankreich
Das Tagebuch ist ein Geschenk von Monsieur und Madame Paul Landowski. Da ich nicht spreche, halten sie es für eine gute Idee, wenn ich die Dinge notiere, die mir durch den Kopf gehen. Anfangs dachten sie, ich wäre dumm, hätte den Verstand verloren, was in vielerlei Hinsicht sogar stimmen mag. Möglicherweise bin ich aber auch nur geistig erschöpft, weil ich mich schon so lange auf diesen Verstand verlassen muss. Und der ist wie ich sehr müde.
Ihnen ist klar, dass ich zumindest einen Funken Intelligenz besitze, denn sie haben mich gebeten, etwas aufzuschreiben. Zuerst meinen Namen, mein Alter und woher ich stamme. Doch ich habe schon vor Langem gelernt, dass man in Schwierigkeiten geraten kann, wenn man solche Dinge notiert, und Schwierigkeiten möchte ich nie wieder. Folglich habe ich am Küchentisch sitzend ein Gedicht zu Papier gebracht, das ich von Papa kenne. Es gibt keinen Hinweis darauf, woher ich kam, bevor ich unter einer Hecke in ihrem Garten entdeckt wurde. Es war keiner meiner Lieblingstexte, aber ich hatte das Gefühl, dass die Worte zu meiner Stimmung passten und sich eigneten, diesem freundlichen Paar, das mir das Schicksal gesandt hatte, als der Tod an meine Tür klopfte, zu zeigen, wie ich mich äußern konnte. Also schrieb ich:
Mond und Plejaden sind untergegangen,
die Nacht ist halb vorbei,
die Jugend vergeht,
und ich schlafe allein.
Ich notierte das Gedicht in Französisch, Englisch und Deutsch, obgleich keine dieser Sprachen diejenige ist, mit der ich das Reden lernte (denn das kann ich sehr wohl. Doch ähnlich wie Geschriebenes lässt sich – besonders in Eile – Gesprochenes gegen einen verwenden). Ich muss gestehen, dass ich mich über den erstaunten Blick Madame Landowskis freute, als sie den Text las. Er würde ihr nicht helfen zu ergründen, wer ich war oder zu wem ich gehörte. Als das Hausmädchen Elsa eine Schale mit Essen vor mir auf den Tisch knallte, schaute die junge Frau drein, als wäre es ihr am liebsten, wenn man mich schnellstmöglich dorthin zurückschickte, wo ich hergekommen war.
Stumm zu bleiben fällt mir nicht schwer. Mittlerweile ist es über ein Jahr her, dass ich mein Zuhause verlassen habe. In dieser Zeit habe ich meine Stimme nur benutzt, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Beim Schreiben kann ich aus dem winzigen Fenster im Dachboden blicken. Vor einiger Zeit sah ich die Landowski-Kinder, die vom Unterricht nach Hause kamen, den Weg herauflaufen. Sie wirkten sehr schick in ihren Schuluniformen – Françoise mit weißen Handschuhen und Strohhut, ihre Brüder mit weißen Hemden und Jacken. Monsieur Landowski klagt oft über Geldmangel, aber das große Gebäude, der herrliche Garten und die hübschen Kleider, die die Damen des Hauses tragen, deuten eher auf Reichtum hin.
Ich kaue auf meinem Stift herum. Das wollte Papa mir abgewöhnen, indem er das Ende in alle möglichen scheußlich schmeckenden Dinge tauchte. Einmal erklärte er mir, an diesem Tag hätte der Stift bestimmt einen gar nicht so schlechten Geschmack, sei jedoch giftig, weswegen ich tot umfiele, wenn ich ihn in die Nähe meines Mundes bringen würde. Aber beim Nachgrübeln über den Text, den er mir zu übersetzen gegeben hatte, schob ich ihn zwischen die Lippen. Als er das sah, stieß er einen Schrei aus, packte mich am Kragen, trug mich hinaus und stopfte mir Schnee in den Mund, den ich gleich darauf ausspucken musste. Ich bin nicht gestorben, und bis zum heutigen Tag frage ich mich, ob das eine Schocktherapie war, um mir diese Gewohnheit auszutreiben, oder ob der Schnee und das Ausspucken mich tatsächlich gerettet haben.
Obwohl ich mich sehr bemühe, mich an ihn zu erinnern, verblasst sein Bild allmählich, weil ich ihn so lange nicht gesehen habe.
Vielleicht ist es das Beste, wenn ich meine Vergangenheit vergesse. Falls sie mich dann irgendwann foltern sollten, kann ich ihnen nichts verraten. Und falls Monsieur und Madame Landowski meinen, ich würde etwas in das Tagebuch schreiben, das sie mir freundlicherweise gegeben haben, und dem kleinen Schloss mit Schlüssel vertrauen, den ich in meinem Lederbeutel aufbewahre, täuschen sie sich gewaltig.
»In das Tagebuch kannst du alles schreiben, was du fühlst oder denkst«, hat Madame Landowski mir erklärt. »Nur du darfst es lesen, es ist dein ganz privater Ort. Ich verspreche dir, dass wir nie hineinschauen werden.«
Dankbar lächelnd lief ich nach oben in meine Dachkammer. Ich glaube ihr nicht. Aus Erfahrung weiß ich, dass weder Schlösser noch Versprechen ein Hindernis darstellen.
Beim Leben deiner geliebten Mutter verspreche ich dir, dass ich zu dir zurückkomme … Bete für mich, warte auf mich …
Ich schüttle den Kopf, versuche die Erinnerung an Papas letzte Worte an mich loszuwerden. Obwohl andere Dinge, an die ich mich gern erinnern würde, wie die Schirmchen des Löwenzahns einfach wegfliegen, sobald ich sie festhalten will, bewegt sich dieser Satz nicht von der Stelle, egal, was ich tue.
Das Tagebuch ist in Leder gebunden und hat hauchdünnes Papier. Es muss die Landowskis mindestens einen Franc gekostet haben (so nennen sie hier das Geld). Weil sie es mir geschenkt haben, um mir zu helfen, benutze ich es. Außerdem habe ich mich während meiner langen Reise oft gefragt, ob ich, da ich zu schweigen lernte, das Schreiben vergessen könnte. Weil ich weder Papier noch Stift bei mir trug, vertrieb ich mir die Zeit in den eisig kalten Winternächten, indem ich im Kopf Gedichte aufsagte und mir vorstellte, die Buchstaben »vor meinem geistigen Auge« zu schreiben.
Ich mag den Ausdruck sehr – Papa nannte dieses »geistige Auge« das Fenster zur Fantasie. Wenn ich nicht gerade mit Gedichten beschäftigt war, zog ich mich oft an jenen Ort zurück, von dem Papa behauptete, er habe keine Grenzen. Er sei so groß, wie man ihn sich wünsche. Kleingeister, fügte er hinzu, besäßen laut Definition nur eine beschränkte Fantasie.
Obwohl die Landowskis mich retteten und sich um mein leibliches Wohl kümmerten, grübelte ich nach wie vor über Dinge, die ich nicht niederschreiben konnte, weil ich nie wieder einem anderen Menschen vertrauen durfte.
Deshalb würden die Landowskis, wenn sie diese Worte einmal lasen – und ein Teil von mir war sicher, dass sie es aus Neugierde irgendwann täten –, ein Tagebuch in Händen halten, das beginnt, als ich bereits meine letzten Gebete gesprochen hatte.
Möglicherweise hatte ich sie gar nicht gesprochen. Ich war fiebrig, erschöpft und halb verhungert, vielleicht hatte ich sie nur geträumt. An jenem Tag, an dem ich in das hübscheste Frauengesicht blickte, das mir je begegnet war.
Während ich einen kurzen, sachlichen Bericht darüber zu Papier brachte, wie diese wunderschöne Dame mich aufgenommen, mir sanfte Worte ins Ohr geflüstert und mir erlaubt hatte, das erste Mal seit Ewigkeiten wieder in einem Haus zu schlafen, dachte ich über ihre Traurigkeit bei unserer letzten Begegnung nach. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass sie Izabela, kurz Bel, heißt. Sie und Landowskis Atelierassistent Monsieur Brouilly (der mir angeboten hat, ihn »Laurent« zu nennen, obwohl ich ihn, stumm wie ich momentan bin, gar nicht ansprechen würde) sind in heißer Liebe zueinander entbrannt. In jener Nacht, in der sie so traurig aussah, war sie gekommen, um sich zu verabschieden. Nicht nur von mir, sondern auch von ihm.
Trotz meiner Jugend wusste ich bereits einiges über die Liebe. Nachdem Papa weggegangen war, hatte ich mich durch all seine Bücher gearbeitet und erstaunliche Dinge über Erwachsene erfahren. Anfangs hatte ich den in Geschichten geschilderten physischen Akt als Komödie aufgefasst, doch als selbst ernsthafte Autoren ihn auf ähnliche Weise beschrieben, war mir klar geworden, dass er tatsächlich so ablaufen musste. So etwas würde ich in meinem Tagebuch keinesfalls notieren!
Ein leises Kichern entrang sich meiner Kehle. Ich schlug die Hände vor den Mund. Es fühlte sich seltsam an, denn Kichern war ein Ausdruck von Fröhlichkeit. Die natürliche körperliche Reaktion darauf.
»Du liebe Güte!«, flüsterte ich. Wie seltsam, meine eigene Stimme zu vernehmen, die mir tiefer erschien als früher. Hier oben im Dachboden würde mich niemand hören. Die beiden Hausmädchen schrubbten, polierten und arbeiteten sich unten durch den niemals kleiner werdenden Berg Wäsche, von der stets welche an den Leinen hinter dem Haus hing. Trotzdem durfte ich mir diese Fröhlichkeit und dieses Glücklichsein nicht angewöhnen, denn wenn ich in der Lage war zu kichern, bedeutete das, dass ich eine Stimme besaß und sprechen konnte. Ich versuchte, an traurige Dinge zu denken. Das fühlte sich merkwürdig an, weil es mir letztlich nur gelungen war, mich nach Frankreich durchzuschlagen, indem ich mir Schönes vorstellte. Meine Gedanken wanderten zu den Hausmädchen. Abends konnte ich sie in dem Raum neben dem meinen klagen hören. Sie beschwerten sich über ihren kargen Lohn, die langen Arbeitsstunden, die klumpigen Matratzen und ihre im Winter bitterkalte Dachkammer. Am liebsten hätte ich gegen die Wand geklopft und gerufen, sie könnten froh sein um diese Wand zwischen uns, froh darüber, dass die Familie nicht in einem einzigen Raum zusammenleben musste, dass sie überhaupt einen Lohn erhielten, wie karg er auch sein mochte. Und was die Kälte anbelangte … Inzwischen kannte ich die klimatischen Bedingungen in Frankreich und Paris. Und die paar Grad unter null, die ein Problem für sie darstellten, brachten mich fast wieder zum Kichern.
Ich beendete den ersten Abschnitt in...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2023 |
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Reihe/Serie | Die sieben Schwestern | Die sieben Schwestern |
Übersetzer | Sonja Hauser, Karin Dufner, Sibylle Schmidt, Ursula Wulfekamp |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Atlas: The Story of Pa Salt |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Band 8 • Bestseller • Bestsellerliste • bücher bestseller • Buch Neuerscheinung • Die 7 Schwestern • Die Sieben Schwestern • eBooks • Familiengeheimnis • Familiensaga • Frauen Bücher • Frauenromane • Hardcover Bücher • letzter Band der Serie • Liebesromane • Lucinda Riley • Neuerscheinung • Paris • Rache • Romane für Frauen • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • spiegel-bestseller Autorin • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Vater-Tochter-Beziehung |
ISBN-10 | 3-641-26103-1 / 3641261031 |
ISBN-13 | 978-3-641-26103-0 / 9783641261030 |
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