Perfect Day (eBook)
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44001-1 (ISBN)
Romy Hausmann, Jahrgang 1981, hat sich 2019 mit ihrem Thrillerdebüt >Liebes Kind< sogleich an die Spitze der deutschen Spannungsliteratur geschrieben: >Liebes Kind< landete auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste, mit >Marta schläft< folgte 2020 ihr zweiter Bestseller. Übersetzungen ihrer Bücher erscheinen in 26 Ländern, die Filmrechte wurden hochkarätig verkauft. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart. Auch ihr dritter Thriller >Perfect Day< landete sofort nach Erscheinen 2022 auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weitere Informationen unter www.romy-hausmann.de
Romy Hausmann, Jahrgang 1981, hat sich 2019 mit ihrem Thrillerdebüt ›Liebes Kind‹ sogleich an die Spitze der deutschen Spannungsliteratur geschrieben: ›Liebes Kind‹ landete auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste, mit ›Marta schläft‹ folgte 2020 ihr zweiter Bestseller. Übersetzungen ihrer Bücher erscheinen in 26 Ländern, die Filmrechte wurden hochkarätig verkauft. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart. Auch ihr dritter Thriller ›Perfect Day‹ landete sofort nach Erscheinen 2022 auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weitere Informationen unter www.romy-hausmann.de
Ann
Berlin, 24.12.2017
(sechs Wochen später)
Die Stadt ist wie leergefegt, kein Auto zu sehen, kein Mensch, nicht mal ein herrenloser Hund. Die Schaufenster sind schwarz, die Ladeneingänge mit Rollgittern verrammelt. Berlin ist tot, alle sind es. Bis auf mich. Die letzte Überlebende, die einzig Übriggebliebene nach dem Ende der Welt. Nur ich und Berlin und die allerorts aufgehängte Festtagsbeleuchtung, die in trügerischem Rhythmus blinkt, so als hätte die Stadt eben doch noch einen Herzschlag, einen letzten Rest Leben in sich.
Ich bin in Eile, meine Schritte sind schnell und plump. Schneematsch spritzt mir bis hoch zum Knie. Egal, meine Hose gehört sowieso längst in die Wäsche. Früher war ich eitel, aber das ist vorbei. Zoe hat das Schloss an unserer Wohnungstür austauschen lassen und nur eine kleine Reisetasche für mich im Treppenhaus deponiert. Ab und zu stelle ich mir vor, wie sie in meinen dunkelroten Samtjeans in der Uni sitzt oder bei einem Date mein goldenes Paillettentop trägt. Es ist okay, oder einfach so, wie der Vater von Saskia E. kürzlich in einem Interview gesagt hat: Die Schmerzgrenze verschiebt sich. Dinge, die sich früher wie eine Fleischwunde anfühlten, empfindet man irgendwann nur noch als einen Kratzer. Saskia E. war Opfer Nummer 7, ermordet vor drei Jahren, an Weihnachten 2014.
Ich steigere mein Tempo, hetze Schatten und Schritten davon, die es gar nicht gibt. Manchmal spritzt Blut statt Schnee. Auch das hat Saskias Vater in dem Interview richtig erfasst: Man wird ganz unausweichlich ein bisschen verrückt. Er lenkt sich ab, indem er durch sämtliche Medien tingelt; ich lenke mich auch ab, aber mit der Arbeit. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wer sich ausgerechnet heute in einen schmuddeligen Fast-Food-Schuppen wie das Big Murphy’s verirren sollte – das müssen schon sehr, sehr einsame Menschen sein. Die Wahrheit ist: Die Stadt ist nicht tot. Sie lebt noch, natürlich, und wie. Sie hat sich nur zurückgezogen in ihre warmen, liebevoll geschmückten Wohnzimmer. Sie sitzt an reichlich gedeckten Esstischen, auf denen gefaltete Servietten ausliegen und das gute Besteck. Sie überreicht einander Geschenke und erfreut sich an leuchtenden Augen. Sie ist glücklich, diese Stadt, und wer heute übrigbleibt, ist nichts anderes als ganz unten. Es ist Sonntag. Und Heiligabend.
»Da bist du ja endlich!« Hinter der Kassentheke rudert Antony mit den Armen. Er ist Kubaner, gerade einundzwanzig und seit zwei Jahren in Berlin, ganz allein, ohne seine Eltern und die vier Geschwister, die immer noch in Moa leben, einer Industriestadt an der Nordostküste Kubas. Er braucht das Geld, das er bei Big Murphy’s verdient, um sein Studium und sein WG-Zimmer zu finanzieren, aber hauptsächlich für die Überweisung, die er monatlich per Western Union nach Hause tätigt.
Ich drücke die gläserne Eingangstür hinter mir zu und blicke mich um. Bloß ein einziger Tisch ist besetzt, von einem alten Mann, dessen Gesicht nur aus Augen und Bartwuchs zu bestehen scheint. Er trägt einen schmutzigen braunen Mantel, und ich erkenne löcherige Fingerstulpen, als er in diesem Moment in einen schlappen Burger beißt. Ketchup tropft aus dem Brötchen wie dicke, rote Tränen.
»Ja, zum Glück, bei dem Andrang«, murmele ich im Vorbeigehen und verschwinde in die Umkleide.
Meine Uniform besteht aus einem kurzärmeligen, grünen Polyestershirt und einer braunen Hose, die sich an den Seiten öffnen lässt; Belüftungsschlitze, die man zu schätzen weiß, wenn in der engen Küche des Fast-Food-Restaurants in fünf Fritteusen gleichzeitig 180 Grad heißes Öl sprudelt.
Es ist nicht der beste Job, aber einer, der fast sträflich leicht zu bekommen war. Keine schriftliche Bewerbung, keine Zeugnisse, kein Lebenslauf. Nur ein Anruf und am nächsten Tag ein Vorstellungsgespräch unter dem Mädchennamen meiner toten Mutter. Die Managerin mochte mich sofort, ich machte einen unkomplizierten Eindruck. Arbeitszeiten, Überstunden, selbst die Vergütung: egal. Mich interessierte nur, ob es möglich war, mir meinen Lohn in bar auszuzahlen. War es, solange ich den Erhalt mit meiner Unterschrift quittierte. Nach einer Schulung in Hygienerichtlinien und Infektionsschutz und noch einer weiteren in Sachen Unfallverhütung wurde ich direkt eingearbeitet.
Heute sind wir nur zu dritt im Laden: Antony, der sich um die Kasse und die Getränke kümmert, Michelle, die in der Küche die Burger zubereitet, und ich, die ihr nebenbei assistiert, weil beim Drive-in, für den ich zuständig bin, sowieso niemand vorfährt. Natürlich nicht, es ist schließlich Heiligabend.
»Ann? Geht’s dir gut? Du bist so still heute.« Liebe, süße, einfache Michelle. Wie besorgt sie klingt. Sie ist Mitte vierzig, mit gelbstichig gefärbten Haaren und immer stark geschminkt, was sie zu Beginn ihrer Schicht mindestens fünf Jahre jünger aussehen lässt, später aber, wenn sich ihr Make-up in den Augenfältchen abgesetzt hat, genau den gegenteiligen Effekt hat.
»Klar, alles prima«, sage ich und fingere grundlos in dem Behälter mit den Tomaten herum.
Michelle knufft mich aufmunternd in die Seite. »Ich finde Weihnachten auch deprimierend, falls es das ist, was dir zu schaffen macht. Drei Tage lang tun alle so, als wäre die Welt in Ordnung, Liebe-Frieden-Lichtlein-an. Als ob.« Michelle ist alleinerziehende Mutter von zwei halbwüchsigen Söhnen und einer erwachsenen Tochter. Ihre Große feiere schon seit Ewigkeiten kein Weihnachten mehr mit ihr, und auch die Jungs seien dieses Jahr bei ihrem Vater. »Und deine?«
Sie meint meine Tochter. Ich hatte sie, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen war, Diana genannt, nach der römischen Göttin der Jagd – nicht, wie Michelle glaubt, nach der toten Prinzessin. Aber im Grunde ist es auch egal, wie meine Tochter heißt. Sie ist mir passiert, als ich gerade achtzehn war, sorglos und naiv, eben eins von diesen jungen, dummen Dingern, die einfach nicht aufpassen können. Jetzt bin ich vierundzwanzig und muss Geld für sie verdienen, so wie alle hier bei Big Murphy’s für irgendjemanden Geld verdienen müssen. Ich sage nur: »Auch bei ihrem Vater«, und fummele weiter an den Tomaten herum. Ich will Michelle nicht ansehen.
»Was schenkst du ihr?«, fragt sie als Nächstes, und das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist: »Ein Trampolin.«
So wie das Trampolin, das ich zu Weihnachten bekommen habe, als ich in Dianas Alter war. Der Karton, der das Gestänge enthielt, war braun und so riesig, dass man mehrere Rollen Geschenkpapier benötigt hätte, um ihn einzuschlagen. Mein Vater hatte deshalb einfach nur eine große, rote Schleife darumgebunden. Sobald es Frühling wäre und die Sonne die letzte Schneenässe aus dem Boden gesogen hätte, würde er es im Garten aufbauen, mit seinen beiden linken Händen, dem rührenden Ungeschick eines Akademikers. Er würde es so aufstellen, dass er, wenn er in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch säße, nur aus dem Fenster zu blicken bräuchte, um mich springen zu sehen. Mir gefiel mein Geschenk, das schon. Nur konnte ich jetzt, im tiefsten Winter, nichts damit anfangen. Also bat ich ihn, die Metallstangen aus dem Karton zu entfernen. Und dann legte ich mich hinein und klappte den Deckel zu. Das fand mein Vater interessant, erstaunlich, eigenartig. Mit diesem Blick, der immer alles analysieren will, fragte er mich, was ich mir dabei vorstellte, wenn ich mucksmäuschenstill, mit geschlossenen Augen und reglosen Gliedern in meinem Karton lag. Er dachte, es hätte vielleicht etwas mit meiner Mutter zu tun. Dass ich ausprobieren wollte, wie es sich so lag, in einem Sarg. Ich entgegnete: »Aber Papa. Das ist doch kein Sarg. Es ist einfach nur ein Karton und ich liege drin.«
»Toll!« Michelle wirkt aufrichtig begeistert, bevor ihr Gesicht in der nächsten Sekunde etwas Trauriges annimmt. Ich weiß, dass sie Angst hat, ihre Söhne könnten nach ihrem Ex schlagen, der wegen Körperverletzung schon zweimal im Gefängnis saß. »Genieß es, solange deine Diana noch klein ist.« Seufzend wischt sie sich mit dem Handrücken über die schweißglänzende Stirn. »Kaum sind sie älter als zwölf, bist du abgeschrieben und sie klauen dir Geld aus dem Portemonnaie, um sich Gras zu kaufen.« Als sie die Hand wieder aus dem Gesicht nimmt, sind braune Spuren daran erkennbar und ihre linke Augenbraue ist etwas farbloser als zuvor. Jetzt lacht sie wieder, so wie sie immer lacht, wenn sie feststellt, dass es offenbar kein besseres Abschminkmittel gibt als Bratfett. Vielleicht lacht sie auch nur, um nicht zu weinen. Ich kenne das Gefühl, aber ich schäme mich trotzdem. So viele Lügen. Vielleicht würde Michelle es ja sogar verstehen, wenn ich es ihr erklärte. Vielleicht würde sie mich gar nicht verurteilen, sie ist ein guter Mensch. Andererseits hatte ich das von Zoe auch gedacht.
»Erde an Ann! Ann, bitte kommen!« Michelle spricht mit verstellter Stimme in ihre geballte Faust hinein wie in ein Funkgerät. Mütter sind wohl einfach so. Wenn ihre Kinder klein sind, gewöhnen sie sich irgendwelche Albernheiten an, die sie nie wieder loswerden.
»Sorry, ich war in Gedanken.«
»Hab ich gemerkt.« Schmunzelnd deutet sie auf den Monitor, der das Bild aus dem Drive-in überträgt. Gerade ist ein Auto vorgefahren. »Kundschaft.«
Ich stülpe mir eilig das Headset über den Kopf und atme noch einmal tief, bevor ich den Knopf drücke, der das Mikrofon mit der Sprechanlage im Außenbereich verbindet. »Frohe Weihnachten und willkommen bei Big Murphy’s Burgers and Fries.« Ich...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Alexithymie • Anthropologie • Bayerischer Wald • Berlin • die macht des bösen • Königswald • Krimi • Kriminalromane • Mädchenmörder • Mädchen-Mörder • Psychologie • Psychothriller • Psychothriller Bestseller • Psychothriller bücher • Psychothriller Deutschland • Psychothriller Romane • Serienmörder • Spiegel-Bestseller-Autorin • Thriller • Thriller Berlin • Thriller Neuerscheinungen • Thriller Neuerscheinungen 2022 • thriller serienmörder • Thriller und Psychothriller • Tote Mädchen |
ISBN-10 | 3-423-44001-5 / 3423440015 |
ISBN-13 | 978-3-423-44001-1 / 9783423440011 |
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