Ein neues Leben, bitte! (eBook)
206 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-0954-4 (ISBN)
Die studierte Sozialpädagogin und psychologische Beraterin Petra Orben (1962-2020) erhielt die Diagnose MS im Jahr 1999. Tanzen in jeglicher Form, japanisches Trommeln, Theater, Malen, Klettern oder Reisen waren einige ihrer Lieblingsbeschäftigungen, von denen sie sich auch durch den Rollstuhl nicht abhalten ließ. In regelmäßigen Zeitschriftenkolumnen und zwei Büchern beschrieb sie selbstbewusst und sensibel ihre Erlebnisse, klammerte dabei auch Tabuthemen nicht aus und zeigte damit vielen Betroffenen neue Perspektiven auf. Ein neues Leben, bitte! ist das letzte Buch der Autorin, das sie kurz vor ihrem Freitod fertiggestellt hat.
ANNA
1 . Willst du ihn lieben und ehren?
Da stand ich nun in meinem kurzen roten Kleid, nur mit dem dünnen Jäckchen drüber, und fror ziemlich. Laut Wetterbericht sollte es die nächsten Tage ganz erträgliche Wintertemperaturen geben. Aber im Augenblick spürte ich noch nichts davon, mir war einfach nur kalt. Na ja, Februar eben. Zu der Kälte, die sich allmählich in meinem Körper ausbreitete, gesellte sich ein mir altbekanntes ungutes Gefühl.
Ich stand allein vor der verschlossenen Tür des Standesamtes. Eine ganze Stunde zu früh. Nicht, dass ich mich vertan hätte. Nein, ich wollte einfach früh genug da sein, um mich nicht abhetzen zu müssen. Aber jetzt so mutterseelenallein hier rumzustehen, damit fühlte ich mich so ganz und gar nicht wohl. Prompt lief das Gedankenkarussell an.
Irgendetwas lief falsch. Was machte ich hier eigentlich? Hatte ich wirklich vor, da reinzugehen, um meinen Freund Michael zu heiraten? Ich, die sich doch immer geschworen hatte, nie heiraten zu wollen? Zugegeben, er war eine ziemlich gute Partie, zumindest was das Finanzielle anging. Was aber, wenn ihm auch nach der Hochzeit seine Arbeit wichtiger sein würde, als mit mir zusammen zu sein? Grübelnd schlenderte ich um das Gebäude herum.
Als Michael mir vor einigen Monaten von seinen Plänen erzählt hatte, nach Südamerika auszuwandern, um sich dort beruflich neu zu orientieren, war ich sofort Feuer und Flamme gewesen. Während er mir allerdings Stunde um Stunde vorschwärmte, wie toll dort alles für ihn sein würde, schien ich in seinen Plänen keine tragende Rolle zu spielen. Er erzählte und erzählte, und ich langweilte mich zunehmend und fühlte mich irgendwie ausgegrenzt.
Als ich dann am späten Abend vor drei Monaten (mehr aus Frust als aus Genuss) drei Pastis vor dem Fernseher getrunken hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte Michael, ob ich nicht mitkommen könnte. Hier war er also, mein grandioser Plan. Neue Umgebung, neues Glück! Sein erstaunter Gesichtsausdruck überraschte mich dann aber doch sehr, und ich bereute es sogleich, überhaupt gefragt zu haben.
»Willst du wirklich mit?«
Wie bitte? Was sollte das denn?
»Soweit ich weiß, darf man dort nur als verheiratetes Paar einreisen. Du müsstest mich also zuerst heiraten«, sagte er und griff beherzt in die Schüssel mit den Chips.
»Okay«, hörte ich mich sagen.
Warum denke ich eigentlich nie, bevor ich rede?
»Dann heiraten wir eben.«
Toller Plan! Tja, und so kam eins zum anderen. Alles ging plötzlich sehr schnell. Zu allem Übel musste der vereinbarte Auswanderungstermin um Wochen vorverlegt werden. Wir kündigten beide unsere Wohnungen und ich noch zusätzlich meinen Job bei der Frauenzeitschrift ELL
– Immer die moderne Frau im Blick.
O je, das ungute Gefühl wurde stärker. Zugegeben, die Redaktionsarbeit bei dieser tendenziell eher seichten Zeitschrift ELL war nicht gerade mein Traumjob, aber er gab mir zumindest ein gewisses Maß an finanzieller Sicherheit. Journalistin wollte ich dagegen schon immer werden. Das war definitiv mein Wunschberuf! Schon als kleines Mädchen hatte ich mir aus einer Haarbürste ein Mikrofon gebastelt und damit alle möglichen Leute zu ausgedachten Themen interviewt, also damals bereits viel Talent für diesen Berufszweig bewiesen. Jetzt stand ich allerdings erst einmal ganz ohne Job da, na ja.
Als letzte Vorbereitung, was unsere Hochzeits- und Auswanderungspläne betraf, kaufte ich mir dann dieses sündhaft teure rote Kleid mit dem Jäckchen, in dem ich jetzt so entsetzlich fror. Ich kam an einem Fenster vorbei und betrachtete mein Spiegelbild. Michael konnte sich glücklich schätzen, mich zu haben. Volles rotes Haar – und für meine 31 Jahre konnte meine Figur noch locker mit den 20-jährigen Dingern mithalten. Und, das musste ich mir durchaus zugestehen, dieses Kleid stand mir ausnehmend gut. Um nicht zu sagen, ich sah ganz schön heiß aus. Allerdings wurde das für meinen Geschmack doch viel zu wenig wertgeschätzt. Ich entdeckte eine Bank und ließ mich bibbernd fallen.
So langsam kamen diffuse Erinnerungen. An eine wunderschöne Nacht voller Zärtlichkeit, Hingabe und tausend erotischen Gefühlen. Was hatte ich getan?! Vorgestern, als Michael am Telefon mal wieder seinen Job und die neue Heimat in den höchsten Tönen gelobt hatte, zu unserer Beziehung aber verdächtig schweigsam geblieben war, hatte ich einfach den Hörer aufgelegt. Mir reichte es allmählich. Gelangweilt hatte ich danach in einer Zeitschrift geblättert und war über folgende Anzeige gestolpert:
»Sind Sie traurig? Fühlen Sie sich von Ihrem Partner vernachlässigt? Kein Problem – ich helfe Ihnen. Verbringen Sie ein paar schöne Stunden mit mir.«
Unter normalen Umständen hätte ich so ein Inserat natürlich nicht studiert, aber in dieser komischen Stimmung sollte mich diese Annonce wohl finden.
Los, Anna, deine Chance! Mutig – zumindest fühlte ich mich in diesem Moment so – tippte ich die angegebene Telefonnummer ein. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine männliche Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam. Konnte das sein? Jetzt gab es allerdings auch kein Zurück mehr, und ich sagte meinen Text auf. Der Typ fragte direkt nach meiner Adresse und wann ich Zeit hätte.
»Jetzt sofort«, entfuhr es mir.
Schon wieder mein altes Problem. Erst denken, dann sprechen, Anna! Aber egal, wenn schon, denn schon! Solange der Mut noch anhält.
Und so kam es, dass ich schon eine Viertelstunde später frisch gekämmt und sehr aufgeregt durch meine Wohnung stiefelte. Als es klingelte, zögerte ich kurz und atmete einmal tief durch, bevor ich die Tür öffnete.
»Mensch, Anna! Hey! Wie geht’s dir denn?«
Na, so ein Ding! Im Türrahmen stand Friedel, den ich vor zwei Jahren auf einem Seminar in Österreich kennengelernt hatte. Schon damals war mir dieser überaus sympathische Mann in unserer gemeinsamen Arbeitsgruppe angenehm aufgefallen. Die Chemie stimmte zwischen uns.
»Ähm, bist du der Typ, mit dem ich eben telefoniert habe? Und, ähm, kommst du, um mit mir schöne Stunden zu verbringen?«, stammelte ich und bemerkte, dass ich rot wurde. Wie peinlich das Ganze! Mein Gott, Friedel musste ja denken, dass ich direkt von den Neandertalern abstammte.
Friedel war augenscheinlich nicht minder überrascht, wenn man die Röte, die langsam von seinem Kragen in sein Gesicht kroch, als Überraschung interpretieren wollte. Er fing sich aber sofort wieder und sagte: »Klar, aber wenn dir das irgendwie unangenehm ist, vergessen wir das Ganze.«
Halt, auf gar keinen Fall! Mitgefangen, mitgehangen! Als wir danach erhitzt auf meinem Sofa lagen, hatte ich Michael und die bevorstehende Hochzeit naturgemäß völlig ausgeblendet. Dieser Augenblick war viel zu kostbar, als dass ich jetzt über mein Problem hätte nachdenken wollen. Endlich mal wieder erotische Gefühle…
Plötzlich hörte ich Stimmen, die langsam näherkamen. So was Blödes, in meinen Gedanken war es doch gerade noch so schön gewesen. Wo war ich denn hier? Hilfe, meine Hochzeit, das Standesamt! Langsam stand ich auf und ging in Richtung Haupteingang.
Mein Verlobter Michael nahte und musterte mich erfreut. Zu dem roten Kleid und dem dünnen Jäckchen trug ich nämlich passende High Heels, die mir ausnehmend gut standen, wie ich fand. Tja, wer hat, der hat! Für seine Verhältnisse hatte sich er sich allerdings auch stark aufgebrezelt, mit Fliege, Smoking und allem Pipapo.
»Komm, Schatz, lass uns reingehen«, sagte er. »Ich sehe doch, dass du frierst.«
Toll, dachte ich, das sind die ersten liebevollen Worte, die er seit Langem zu mir sagt. Ob meine zweifelnden Gedanken vielleicht doch unangebracht waren?
»Jetzt aber los, ich habe heute noch einen wichtigen Termin im Institut!«
Bäm, da war es wieder! Nur die Arbeit im Kopf! Und mir war nun schlagartig klar, dass ich mit diesem Mann sicher nicht den Rest meines Lebens am anderen Ende der Welt verbringen wollte. Mit meinen 31 Jahren sollte sich doch etwas Besseres anfangen lassen als das!
Doch wie sollte ich jetzt bloß wieder aus dieser Hochzeitsnummer herauskommen? Mist! Ich fixierte Michael kurz und sagte dann: »Geh schon mal rein, ich warte noch kurz auf Marianne. Sie steht bestimmt mal wieder im Stau.« Er seufzte resigniert, verdrehte die Augen und stapfte ins Standesamt. Panisch überlegte ich. Was hatte ich für Optionen? Mich jetzt aus dem Staub zu machen, fühlte sich richtig an. Ich könnte…
In diesem Moment hörte ich die durchdringende Stimme meiner Trauzeugin und besten Freundin Marianne.
»Juhu, da bin ich. Entschuldige bitte die Verspätung, habe im Stau gestanden. Wo hast du deinen Bräutigam gelassen? Ist er etwa mit der Trauzeugin durchgebrannt? Ach nee, das bin ja ich! Also, wo ist er?«
»Schön wär’s! Aber dann...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7543-0954-4 / 3754309544 |
ISBN-13 | 978-3-7543-0954-4 / 9783754309544 |
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