Dorian Hunter 75 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-1776-2 (ISBN)
Die Dämmerung sank rasch über das Baztán-Tal und wurde fast übergangslos von der Nacht abgelöst. Der Mann an dem schweren, grob gezimmerten Holztisch dachte: Ich werde es tun. Heute Nacht. Ich muss ihn töten!
Auf der Kellertreppe ertönten Schritte, dann fiel Kerzenschein in den Raum. Eine Frau, den Kittel gerafft, um nicht darauf zu treten, kam herein. Sie war schön, und Miguel liebte sie über alles. Im Kerzenlicht erschien sie ihm noch begehrenswerter.
»Miguel«, flüsterte Inez, »ich flehe dich an, versündige dich nicht!«
»Ich muss es tun. Er ist ein Ausbund der Hölle.«
Mit diesen Worten stand Miguel auf, schob seine Frau zur Seite und näherte sich mit schleppenden Schritten dem Schlafzimmer. Die Tür wich quietschend zurück.
»Was willst du mit dem Gewehr, Vater?«, fragte Tirso arglos und blickte seinen Vater aus seinem einzigen Auge an, das oberhalb der Nasenwurzel auf seiner Stirn saß.
1. Kapitel
Eine zweite Tochter der Erdgöttin Lur war die Mondgöttin lllargui. Dieser Name bedeutet so viel wie: Licht der Toten. Es herrschte der Glaube, dass der Mond den Seelen der Verstorbenen leuchte. Und diese Totenseelen wurden guerixeti genannt. Das wird von dem Wort Schatten abgeleitet. Als Seele schlechthin galt argui – was Licht heißt.
Wie ich es verstanden habe, bezeichnen die Basken mit guerixeti das Böse, das die Verstorbenen den Lebenden hinterlassen, während argui das Gute im Menschen ist. Etliche Jahrhunderte ist es her, dass das Christentum im Baskenland Fuß gefasst hat, und doch scheint es mir, als hätte sich in dieser Zeit im Grunde genommen nicht viel geändert.
Die Dämmerung sank rasch über das Baztán-Tal und wurde fast übergangslos von der Nacht abgelöst. Der Mann an dem schweren, grob gezimmerten Holztisch dachte: Ich werde es tun. Heute Nacht. Ich muss ihn töten!
Auf der Kellertreppe ertönten Schritte, dann fiel Kerzenschein in den Raum. Eine Frau, den Kittel gerafft, um nicht darauf zu treten, kam herein. Sie war schön, und er liebte sie über alles. Im Kerzenlicht erschien sie ihm noch begehrenswerter.
»Warum machst du kein Licht?«, fragte sie.
»Ich liebe die Dunkelheit«, antwortete er. »Die Nacht hat tausend Augen. Ich fühle es, dass wir ständig beobachtet werden.«
Die Frau stellte die Kerze auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
»Das bildest du dir nur ein«, redete sie ihm zu. »Niemand hat etwas gemerkt. Hier sind wir sicher.«
Der Mann lachte rau. »Wir sind nirgends sicher, solange wir diesen ...«
»Bitte, sei vorsichtig!«, flehte die Frau. »Du darfst so nicht über ihn sprechen. Wenn er dich hört ...«
»Ah!«, machte der Mann und ließ seine schwere Faust auf die Tischplatte sinken. »Du fürchtest dich selbst schon vor ihm. Und dann wunderst du dich, dass die anderen ihm nach dem Leben trachten.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte die Frau. »Warum sollte ich mich vor meinem eigenen Fleisch und Blut fürchten? Ich will nur nicht, dass du so über ihn redest. Es würde ihn kränken.«
»Bist du da so sicher?«
»Was?«
»Dass es dein eigenes Fleisch und Blut ist.«
»Bitte, fang nicht wieder damit an! Er ist unser Sohn. Ich habe ihn in meinem Leib getragen. Und ich habe ihn zur Welt gebracht. Auch wenn er einen körperlichen Makel hat, bleibt er unser Kind. Ich betrachte es als eine Prüfung Gottes, die wir gemeinsam zu bestehen haben.«
Der Mann lachte wieder, blinzelte zur Kellertür und fragte dann seine Frau: »Schläft er?«
»Ja, er ist sofort eingeschlafen.«
Der Mann nickte zufrieden. Er fühlte sich nun sicherer und sagte mit etwas lauterer Stimme: »Du redest dir ein, dies sei eine göttliche Prüfung, aber ich sage dir, dass der Teufel seine Hände im Spiel hat. Tirso hat nicht nur einen körperlichen Makel. Er ist ein Ausbund der Hölle. Ein Scheusal. Eine ...«
»Miguel!« Es klang wie ein Aufschrei. »Miguel, versündige dich nicht! Tirso ist auch dein Sohn. Du bist sein Vater, das musst du mir glauben.«
Der Mann stieß die Luft durch die Nase aus. Die Frage lag ihm auf der Zunge, welche Ähnlichkeit Tirso denn mit ihm habe, aber er verkniff sie sich. Er wollte seine Frau nicht quälen. Er liebte sie trotz allem. Und welche dunklen Mächte auch immer ihre Hände im Spiel gehabt hatten, welcher Teufel auch immer ihnen dieses böse Schicksal zugedacht hatte, seine Frau war ohne jede Schuld. Und nur weil er davon überzeugt war, ertrug er dieses Los. Ihr zuliebe versteckte er sich vor den Menschen und führte ein Einsiedlerleben. Er war zu einem Menschenfeind geworden, gezwungenermaßen. Dabei waren seine Feinde nicht dort draußen unter den ängstlichen und abergläubischen Menschen zu suchen, sondern hier im Haus war sein Feind. Dort unten im Keller. In dem kleinen Raum, der zu einem Kinderzimmer ausgebaut worden war. Sein Feind lag in dem Kinderbett.
»Schon gut, Inez«, sagte der Mann. »Mach etwas zu essen! Ich habe Hunger.«
Die Frau ergriff seine Hand, sah ihn flehentlich an. Sie schien etwas sagen zu wollen, tat es dann aber nicht. Mit gesenktem Blick erhob sie sich, ließ zögernd seine Hand los und verschwand in der Küche. Für einen Moment fiel ein Lichtstreif ins Zimmer, als sie die elektrische Beleuchtung andrehte, dann schloss sie die Tür.
Der Mann blieb in der Dunkelheit zurück. Er wartete einige Minuten, dann erhob er sich. Es musste jetzt getan werden. Jetzt oder nie!
Vorsichtig schlich er zum Waffenschrank und holte ein Jagdgewehr heraus, das er schon zuvor geladen hatte. Damit begab er sich zur Treppe und stieg sie geräuschlos hinunter. Er hatte keine andere Wahl, als ihr Problem auf diese Weise zu lösen. Wenn Inez seine Handlungsweise auch nicht billigte, später einmal würde sie ihm dankbar sein. Der Mann erreichte das Ende der Kellertreppe. Seine Hand tastete in eine kleine Nische, wo ein Kerzenhalter stand. Er ertastete auch die bereitliegenden Streichhölzer, klemmte sich das Gewehr unter den Arm und entzündete ein Streichholz. Das dabei entstehende Geräusch erschien ihm so laut, dass er meinte, es würde überall im Haus zu hören sein. Als die Kerze brannte, ließ er das Streichholz achtlos zu Boden fallen. Das Gewehr wieder schussbereit haltend, drang er in den Keller ein. Er begann zu schwitzen. Inez hatte die Heizung wieder einmal zu stark aufgedreht, damit sich Tirso ja nicht erkältete.
Ha, bald würde es dieser Bastard noch heißer haben! In der Hölle sollte er schmoren!
Der Mann erreichte die Tür, hinter der Tirsos Zimmer lag. Seine Hand zitterte etwas, als er die Klinke niederdrückte. Die Tür schwang völlig geräuschlos auf. Der Mann hatte sie schon vor Tagen geölt.
Das Zimmer lag vor ihm.
Er hielt die Kerze hoch, um den ganzen Raum auszuleuchten, und stellte sie dann auf einem Schrank ab. Das Zimmer war nicht aufgeräumt. Überall lag Kinderspielzeug herum. Ganz normales Kinderspielzeug. Bausteine waren achtlos über den Boden verstreut oder zu schiefen Türmen aufgehäuft. Auf dem Tisch lagen ein Zeichenblock und Buntstifte. Gegen die Wand gelehnt saß ein Teddybär, seine Glasaugen schienen Miguel feindlich anzublinzeln. Aber nein, das war unmöglich. Der Teddybär war ein herkömmliches Plüschtier, so gewöhnlich wie die anderen Spielsachen. Alle waren auf die Bedürfnisse eines Vierjährigen abgestimmt. Spielsachen, wie man sie in jedem Kinderzimmer finden konnte. Wenn etwas nicht in diese Umgebung passte, dann war es das Kind, für das diese Sachen gedacht waren.
Tirso lag auf dem Rücken. Der Mann zuckte zusammen, als er sah, dass sein Auge offen war. Aber nach der ersten Schrecksekunde beruhigte er sich wieder. Tirso schlief immer mit offenem Auge. Ja, er besaß nur ein einziges Auge. Dieses saß oberhalb der Nasenwurzel mitten auf der Stirn. Er war eine Missgeburt. Sein Körper war völlig unbehaart. Er hatte keine Brauen, und sein Schädel war kahl. Seine Haut, die sich weich und seidig anfühlte, war von blauer Farbe.
Das soll mein Sohn sein?
Der Mann hob entschlossen das Gewehr.
»Hallo, Vater!«, sagte Tirso, ohne den Kopf zu heben, und blickte ihn mit seinem einen Auge an, durchdringend – wie es Miguel schien.
Er hätte in diesem Moment schreien mögen, so entsetzt war er. Aber er brachte keinen Ton hervor, rührte sich nicht vom Fleck, war wie gelähmt. Er hatte nicht einmal die Kraft, den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen.
Tirso fuhr mit seiner unschuldigen Kinderstimme fort: »Ich habe mir so gewünscht, dass du vor dem Einschlafen noch zu mir kommst. Und jetzt bist du da. Hast du mich rufen gehört?«
»Ich ...« Miguel versagte die Stimme. Er stand in diesem Augenblick Todesängste aus. Wenn Tirso das Gewehr sah und die richtigen Schlüsse daraus zog, würde er ihn vielleicht töten. Die Macht, dies zu tun, hatte er; davon war Miguel überzeugt.
»Was willst du mit dem Gewehr, Vater?«, fragte Tirso.
Miguel setzte es ab und lehnte es wie in Trance gegen die Wand. Er näherte sich dem Bett. Das Gewehr hätte ohnehin zu viel Krach gemacht. Wozu besaß er seine Hände? Sie waren kräftig; mit ihnen konnte er es völlig lautlos tun. Inez würde überhaupt nichts merken. Und wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, würde er sie schonend darauf vorbereiten, was sie im Keller erwartete.
»Gibst du mir einen Gutenachtkuss, Vater?«
Miguel beugte sich über das Bett, in dem der blauhäutige Zyklopenjunge lag. Seine Hände zuckten nervös, aber die Arme waren steif; er konnte sie nicht gebrauchen. Er küsste Tirso auf die hohe, glatte Stirn. Dabei rann ihm ein Schauer über den Rücken.
»Gute Nacht, Tirso!«, brachte er mühsam hervor.
»Gute Nacht, Vater!«
Vater! Das klang in Miguels Ohren wie ein Schimpfwort. Als er das Kinderzimmer wieder verließ, glich sein Abgang...
Erscheint lt. Verlag | 13.7.2021 |
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Reihe/Serie | Dorian Hunter - Horror-Serie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
ISBN-10 | 3-7517-1776-5 / 3751717765 |
ISBN-13 | 978-3-7517-1776-2 / 9783751717762 |
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