UTOP (eBook)
360 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-472-1 (ISBN)
Herbert Kapfer, 1954 in Ingolstadt geboren, ist Autor und Publizist. Von 1996 bis 2017 leitete er die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im BR. 2017 erschienen die Bücher Verborgene Chronik 1915 -1918 (mit Lisbeth Exner) und sounds like hörspiel. Er wurde mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet für 1919. Fiktion (2019).
Herbert Kapfer, 1954 in Ingolstadt geboren, ist Autor und Publizist. Von 1996 bis 2017 leitete er die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im BR. 2017 erschienen die Bücher Verborgene Chronik 1915 –1918 (mit Lisbeth Exner) und sounds like hörspiel. Er wurde mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet für 1919. Fiktion (2019).
II.
Jünger
Herr, auferstehe uns nicht
denn der Kreis unserer Tage wäre durch irres Wunder zerrissen, und wir würden gegen uns selbst gestellt.
Ataxikitli schloß sein Zeitbuch
mit einem Seufzer über die Störung und breitete ein goldgesticktes Schutztuch darüber. Kein Zweifel, jemand ging unten durch den Torweg und versuchte den Eingang zur Treppe zu finden. Dem Geräusch unsicherer Schritte folgte ärgerliches Gemurmel. Der nächtliche Besucher stolperte die Stufen empor. Seine Augen blinzelten trübe ins grelle Licht der künstlichen Sonne; aus seinem offenen Mund quoll der Geruch von Palmenwein. Ataxikitli wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück, während der trunkene Gast, Vetter Haparu, aus dem Land der schwarzen Erde, auf einen der blockartigen Steinsitze sank und undeutlich lallte: »Laß dich nicht stören. Wo steckt Isolanthis?«
»Isolanthis malt und schreibt unsere alten Überlieferungen nieder. Fremde Zungen sind ihr geläufig; sie liest fließend in Tlavitki und Rmoahalschriften und schreibt sogar in diesen toten Sprachen.«
»Besser lebende Söhne gebären als tote Sprachen sprechen.«
»Du bist stumpf wie ein Flußpferd deines neuen Landes! Es ist gerade das Beschwingte am Frauengeist, was fesselt und die Kunst eines Volkes belebt.«
»Eurem Dreck …« Haparu schwankte vom Stuhle auf und torkelte planlos durch den Raum. Er stieß an die Zinnkrüge; der leere Krug schlug an den halbvollen und brachte ihn zum Fall. Das dunkle Gerstenbier, an stockendes Blut erinnernd, floß langsam dem kostbaren Zeitbuch zu.
»Stinktier!« In Ataxikitli kroch eine maßlose Wut empor wie Lava im Schweigsamen und verlieh ihm eine Kraft, über die er sonst nie verfügte. Er hob das Buch, das gefährdet war, mit einem Ruck hoch und stolperte unter der Last dem Nebengemach zu, um das wertvolle Familiengut in Sicherheit zu bringen.
Haparu, plötzlich aufmerksam geworden und durch die Bewegung auf einige Augenblicke halb ernüchtert, erkannte das Werk und streckte begehrlich wie ein Kind die Hände danach aus. Da kochte der Feuersee bisher zurückgedämmter Entrüstung in Ataxikitli über. Dieser mutmaßliche Thronerbe, dieser Abkömmling einer edlen Sippe, in dem er nun nichts als einen Verräter und Abtrünnigen sah, sollte diesen Band nie berühren dürfen. Niemals! Haparu stand ihm im Wege, berührte das Buch. Wütend stieß Ataxikitli gegen die hindernden Beine, die plötzlich einknickten. Um sich vor dem Fall zu retten, griff der Stürzende mit beiden Händen fester nach dem Buch und riß es samt seinem Träger auf sich nieder. Hart und laut krachte Haparus Kopf auf dem Steinboden auf, und gegen die Schläfen schlugen die schweren Beschläge des Einbands. Vergeblich bemühte sich Ataxikitli, die steife Ledermasse wegzuheben. Vom Tisch hatte er sie aufheben können, nun aber lag der Riesenband wie ein Grabstein auf dem Gefallenen.
Ich muß das Buch entfernen, dachte Ataxikitli, sich immer wieder aufraffend, und zerrte hilflos an der Ledermasse, die ihm unvermittelt wachsende Angst einflößte, die ihm ein von unerklärlichem Eigenleben durchpulstes Unding zu sein schien. Das Licht in der künstlichen Sonne sprühte unruhig auf, als es ihm endlich gelungen war, Haparu von der erdrückenden Last zu befreien. Schweißtriefend und keuchend neigte er sich tief über den reglos Liegenden. »Haparu, steh auf!« befahl er, und die eigene Stimme war ihm fremd im Ohr. Nichts regte sich. Da verwandelte sich der Schweiß in Eistropfen, und der eben noch pfeifende Atem stockte, denn was da vor ihm lag, war nicht sein ferner Vetter aus Kemkem, sondern ein furchtbares Gebilde mit grinsendem Mund, flacher Nase, zertrümmerter Stirn; war nichts mehr als eine entstellte Leiche, die nach Blut, merkwürdigen Ölen und gärendem Gerstenbier roch.
Im friedlichen Sonnenschein
sortierte man die Toten aus. Dann verlud man die Irren. In der Stadt war ein halb Jahr Fasching. Bürger leisteten Bedeutendes an Absurdität. Ein grotesker Krampf überkam die meisten. Ein bescheidener Spass war’s, sich gegenseitig die Hirnschale einzuschlagen.
Das Einzige
was diesen Menschen noch gehörte, war ein Träumen in wirkungslosen Einbildungen und Fiktionen.
Der Expreß-Gleiter München–Berlin
war im Begriff, zum Gleitflug über dem Tempelhofer Feld anzusetzen. Ein junges Paar betrachtete interessiert das Häusermeer, das sich aus 3000 Meter Höhe als chaotisches Steingeschiebsel darbot. »Ja gibt’s denn das überhaupt,« sagte ein Mitreisender, »daß einer noch nie in Berlin gewesen ist?«
»Das gibt’s!« lachte Manfred. »Meine Frau und ich sehen diese Stadt heute zum erstenmal.«
»Na, denn wird et aber allerhöchste Rakete, meine Herrschaften! Wenn man nischt dagegen hat, wird man die Jejend en bisken erklären! Also da jradeaus an der Spree, beim Schloß, der große Kasten mit der Blitzkuppel, da is dat berühmte Denkmal der Masse; det sieht man von oben scheener als von unten. Daneben das olle Schloß, was eijentlich Museum der Demokratie heeßt.«
»Was ist das für ein spitzer Turm, da drüben links?« fragte Manfred.
»Det Ding? Det is der olle Funkturm von anno Tobak; den ham se stehn jelassen, weil er immer noch nich von alleene umjefallen is. Früher ham se da druff jefrühstückt, die Leute; det war noch vor die jroße Berliner Sülze.«
»Vor was?«
»Vor die jroße Massenschlachtung eben.«
Manfred machte sein verständnislosestes Gesicht.
»Weeß man denn det jar nich? Damals wie die Pollacken janz Berlin verjast haben?«
»Ach so, das. Ja, das hat man früher in der Schule gehabt.«
Manfred und Lisbeth wanderten hinüber ins historische Berlin. Einen breiten Raum nahm die Werbung für das alte Schloß ein, in welchem sich das Museum der Demokratie befand. In diesem Museum war der Haupt-Anziehungspunkt das große Panorama: es zeigte die Vergasung Berlins, die Aufschichtung von 18 000 Leichen auf dem Potsdamer Platz, die Versenkung von über einer Million Leichen im Tegeler See, der damals zur Hälfte zugeschüttet wurde und über dem ungeheuren Massengrab das Denkmal zwei Millionen Toter trägt.
Rausche und klinge du deutsche Heldeneiche
Fast zwei Millionen deutsche Väter, Söhne und Brüder schlummern den Heldentod in fremder Erde. Ganz in der Stille bringen deutsche Frauen und Mädchen ihre Scherflein zusammen, und so entsteht in der deutschen Heide aus Eisenbeton die riesengroße Heldeneiche. Für jeden Gefallenen läutet ein silbernes Eichelglöckchen den ewigen Weiheruf in die deutschen Lande. Um die eherne Eiche ziehen sich die Denkmäler der Regimenter des Heeres und der Marine. Rauschend und raunend dringt der Klang des silbernen Glockenheeres als Mahnruf in die Seele der Wallfahrer.
Leuchtender Bergfrühling
grüßte funkelnd von den Firnen der Alpen herüber. Hohwart saß auf einer Bank. Er hatte das auf den Trümmern einer alten Burg erbaute Bauerngut angekauft, ausgebaut und beschlossen, sein Leben in dieser menschenfernen Einsamkeit zu verbringen. Monatelang hatte er mit dem Tode gerungen; er ging noch heute am Stock. Aber von dem Augenblick an, da er den Plan, sich in diese Einsamkeit zu vergraben, klar gefaßt hatte, war ein starker Impuls von Lebenswillen in ihm wach geworden und hatte Energien geweckt, die rasch die zermürbenden Kräfte überwanden. Das Erlebnis des Krieges ließ sich für ihn in die Grundformel zusammenfassen: Die Entdeckung der Beziehungen des Ich zu den Menschen! Aber fliegt denn der Geist bereits, fliegt der Wille schon anders als künstlich? Es war Hohwart klar geworden, daß sein Alleingehen weiter nichts als Bequemlichkeit gewesen, und daß die Basis seiner Lebensführung weniger in seinen individuellen Eigenschaften ruhte, als in der ererbten Behaglichkeit. Er war ein typisches Beispiel für das, was ihm in dem vielerlei Stimmengemurmel des Krieges aus nächster Nähe an sein Ohr gedrungen war: Bourgeois – und zwar mit einer Note überlegenen Spottes. Die fast ausschließlich adeligen Offiziere seines Regimentes hatten davon gesprochen, und unter den Soldaten hatte er so manchesmal den Ausdruck fallen hören. Er hatte sich an solchen blöden Gesprächen nicht beteiligt.
Sprechen wir nicht von vagen Utopien
sondern von vernünftigem Geschäft. Sensationen der modernen Seele. Diese Dinge, durchsetzt mit vergeistigtem Kommunismus, interessieren das große Publikum.
Lasst sie zusammenfallen die gebauten Gemeinheiten!
Steinhäuser machen Steinherzen Nun blüht unsere Erde auf EINE ARBEITSGEMEINSCHAFT 100 Häuser – 500 - 600 Menschen Alle arbeiten, in den Gärten und im Handwerk 1 Sammelhalle für Arbeit und Gemeinschaft. 5 Werkstätten, vor ihnen Erholungsplätze. Arbeit ist hier Freude 5 Ententeiche Verbindender Weg zwischen den Häusern Keine Zäune In Hilfe und Austausch lebt jeder von...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1919 • 1919 Fiktion • Charles Fourier • Donatella di Cesare • Ernst Bloch • Geschichte • Hanna Arendt • Herbert Kapfer • H. M. Enzensberger • Literarische Montage • Montage • Montagetechnik • Parallelwelten • Simone Weil • surreal • Surrealismus • Thomas More • Traumwelten • Unsterblichkeit • UTOP • Utopie • Vergangenheit • Verwoben • Visionär • Zeitsprünge • Zukunft • Zukunftsroman |
ISBN-10 | 3-95614-472-4 / 3956144724 |
ISBN-13 | 978-3-95614-472-1 / 9783956144721 |
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