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Der Brand (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61200-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Brand -  Daniela Krien
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Rahel und Peter sind seit fast 30 Jahren verheiratet. Sie sind angekommen in ihrem Leben, sie schätzen und achten einander, haben zwei Kinder großgezogen. Erst leise und unbemerkt, dann mit einem großen Knall hat sich die Liebe aus ihrer Ehe verabschiedet. Ein Sommerurlaub soll bergen, was noch zwischen ihnen geblieben ist, und die Frage beantworten, wie und mit wem sie das Leben nach der Mitte verbringen wollen.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane ?Die Liebe im Ernstfall? und ?Der Brand? standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.

An einem Freitag im August läuft Rahel Wunderlich mit schnellen Schritten die Pulsnitzer Straße Richtung Martin-Luther-Platz entlang. Den ganzen Weg schon fühlt sie sich leicht, fast unbeschwert und überholt die meisten Passanten mit Schwung.

Den Papierkram in der Praxis hat sie erledigt, die Pflanzen gegossen und der Reinigungskraft einen Zettel mit Anweisungen hinterlassen. In ihrer Stammbuchhandlung hat sie ein Buch auf Empfehlung gekauft und eines von Elizabeth Strout, das schon lange auf ihrer Wunschliste stand – eine hochgelobte Mutter-Tochter-Geschichte.

Peter müsste in einer guten Stunde zu Hause sein. Er hat ihr von einem Radebeuler Weingut aus geschrieben, Fotos verschiedener Grau- und Weißburgunder geschickt und gefragt, ob sie mit der Auswahl einverstanden sei. Sie hat sich noch eine Scheurebe dazu gewünscht und ein knappes »ok« zurückbekommen.

Im Hausflur leert sie den Briefkasten und geht die Post durch: Werbung für einen neuen Pizza-Service, die Rechnung des Malers, der kürzlich die Küche renoviert hat, ein förmlich zugestellter Brief von der Stadt: ihr Bußgeldbescheid für den Blitzer vor ein paar Wochen. Neunzig Euro plus fünfundzwanzig Euro Gebühren plus ein Punkt an das Fahreignungsregister. Hätte schlimmer kommen können, sie hatte immerhin eine rote Ampel überfahren.

Rahel steigt die Treppen bis in die zweite Etage des Altbaus hinauf und legt die Briefe auf der Kommode im Korridor ab. Als sie sich die Schuhe abstreift, klingelt das Telefon in ihrem Zimmer. Sie zögert einen Augenblick. Eigentlich muss sie auf die Toilette, doch sie meint, dem Klingeln eine Dringlichkeit anzuhören, die keinen Aufschub duldet.

 

Während des Anrufs muss sie sich setzen.

Der Mann am Telefon berichtet mit brüchiger Stimme, das Ferienhaus, von Rahel vor Monaten gebucht, sei abgebrannt. Nach fast einem Jahrhundert in Familienbesitz sei das Haus in den Bergen für immer zerstört.

Rahels Mitgefühl bleibt aus. Während der Mann weiter spricht, ihr Informationen zur Rückerstattung der Anzahlung gibt und eine alternative Unterkunft vorschlägt, denkt sie nicht eine Sekunde an den Verlust der Eigentümer, sondern lediglich an Peter und seinen Blick, wenn sie es ihm erzählen wird.

»Also nehmen Sie die Ferienwohnung im Dorf?«, fragt der Mann, nun ganz geschäftsmäßig.

»Nein«, sagt Rahel. »Bitte erstatten Sie uns das Geld zurück.«

 

Fast zwei Monate lang hatte sie nach einem Quartier wie diesem gesucht. Gleich zu Anfang des Jahres, als die ersten Meldungen über das Virus kamen, hatten sie sich darauf geeinigt, den Sommer im Inland zu bleiben.

Es war der perfekte Treffer gewesen: Eine Hütte in Oberbayern, in den Ammergauer Alpen, in völliger Alleinlage auf einem Wiesenhügel, ein Brunnen mit Pumpe und Steinbecken davor, nur zu erreichen über einen holprigen Serpentinenweg durch den Wald. Kein Internet, kein Fernsehen, keine Ablenkung.

Seit Wochen studiert Peter Karten und stellt Wanderrouten zusammen. Er hat sich teure Trekkingstiefel gekauft, einen Rucksack für Tagestouren, T-Shirts und Hosen aus leicht trocknendem und regenabweisendem Material, eine erstklassige Jacke einer Schweizer Firma und spezielle, fußstabilisierende Socken. Und auch Rahel hat sich aufwendig ausgerüstet und in Vorbereitung der Wanderungen fast täglich Sport getrieben.

In drei Tagen wären sie gefahren. Unmöglich, auf die Schnelle etwas Vergleichbares zu finden, nicht in diesem Jahr, nicht unter den gegebenen Bedingungen. Ohne große Hoffnung gibt sie auf einer Website für Ferienwohnungen ihre Wünsche ein. Null Treffer. Sie versucht es auf einer weiteren – mit dem gleichen Ergebnis.

Dann ruft sie die Seite der Berghütte auf. Sie klickt sich von Bild zu Bild, von den Geranien in den Balkonkästen zu der kleinen Veranda mit Blick auf das gegenüberliegende Bergmassiv und wieder zum Haus, diesmal aus einer anderen Perspektive. Dann zu dem steinernen Brunnenbecken und den bunten Wildblumen auf der Wiese, und plötzlich kann sie das lodernde Feuer auf dem Berg sehen. Sie sieht fliehende Tiere und eine Rauchsäule, die in den nächtlichen Sternenhimmel steigt, und mittendrin Peter und sich – wie auf einem Scheiterhaufen.

 

Wäre das Ganze vor zehn Jahren passiert, hätten sie gemeinsam darüber den Kopf geschüttelt. »Wer weiß, wofür es gut ist …«, hätte Peter vermutlich gesagt und sie getröstet. Doch die Gelassenheit war ihm abhandengekommen. Sein feiner Humor kippt nun öfter ins Zynische, und an die Stelle ihrer lebhaften Gespräche ist eine distinguierte Freundlichkeit getreten. Damit einhergehend – und das ist das Schlimmste – hat er aufgehört, mit ihr zu schlafen.

 

Eine halbe Stunde ist seit dem Anruf vergangen. Rahel steht am Fenster ihres Zimmers und wippt barfuß auf den Zehenballen auf und ab. Ihr von Grau durchsetztes schwarzes Haar trägt sie hochgesteckt. Das Leben draußen, die Stimmen der Jugendlichen, die sich auf den Bänken vor der Kirche versammelt haben, nimmt sie wie von ferne wahr. Die Enttäuschung hat sie kraftlos gemacht.

Als das Telefon erneut klingelt, rührt sie sich nicht. Mit geschlossenen Augen wartet sie, dass es aufhört.

Aber es hört nicht auf.

Sie wirft einen Blick auf das Display: Es ist Ruth. Unwillkürlich strafft Rahel die Schultern, räuspert sich, prüft den Ausdruck ihres Gesichts im Spiegel neben dem Schreibtisch und nimmt den Hörer ab.

Schon an der Begrüßung hört sie die Veränderung in Ruths Stimme – das zackig Selbstbewusste fehlt. Dennoch kommt sie ohne Umschweife zur Sache: Viktor habe vor ein paar Tagen einen Schlaganfall erlitten. Es sei alles so viel gewesen, darum melde sie sich erst jetzt. Seit heute befinde er sich für sechs Wochen in der Rehaklinik Ahrenshoop. Dort sei unverhofft ein Platz frei geworden. Sie wolle ihn unterstützen, habe auch schon eine Unterkunft gefunden bei ihrer gemeinsamen Freundin Frauke, einer Malerin, die in Ahrenshoop lebe. Nun suche sie jemanden, der sich um das Haus und die Tiere in Dorotheenfelde kümmern würde. Es sei sonst nicht ihre Art, zu bitten, aber –

Sie bricht ab, setzt erneut an: Ob Rahel und Peter die ersten beiden Wochen übernehmen könnten. Viktor und sie wären überaus dankbar.

Beinahe hätte Rahel Nein gesagt. Nein, das geht leider nicht. Wir fahren in die Berge. Doch dann fällt ihr der Brand wieder ein, und sie antwortet: »Ja natürlich, das machen wir gern. Und wenn du willst, bleiben wir drei Wochen.«

Peter schweigt. Er schüttelt den Kopf, hebt ratlos die Hände.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, entfährt es ihm schließlich. »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man ausgerechnet die eine Ferienunterkunft bucht, die kurz vor der Anreise abbrennt?«

Dann geht er mit gesenktem Kopf in sein Zimmer hinüber. Früher war es Selmas Zimmer gewesen. Nach ihrem Auszug war Simon nachgerückt, und als auch er das elterliche Nest verlassen hatte, war Peter gefolgt. Simons altes Zimmer dient als Gästezimmer, Peters ursprüngliches Arbeitszimmer gehört nun Rahel. Die Neuauf‌teilung der Wohnung haben sie gleich nach Simons Auszug vorgenommen. Eine Weile haben sie nach einer kleineren Bleibe gesucht, aber alle Wohnungen, die in Betracht kamen, waren trotz der geringeren Fläche teurer und dabei schlechter gelegen. Hier grenzte die Äußere Neustadt an die Radeberger Vorstadt, und sie gelangten ebenso schnell an die Elbwiesen wie in die Dresdner Heide; darauf wollten sie nicht verzichten.

Für den Augenblick atmet sie auf. Noch weiß sie nicht, wie sie ihm die Zusage für Dorotheenfelde beibringen soll. Sie geht zum Fenster, beugt sich ein Stück hinaus, blickt auf die Passanten hinunter und hört plötzlich Peters Stimme hinter sich.

»Was machen wir jetzt, hm?«, fragt er. Er setzt sich auf die nachtblaue Chaiselongue, die sich Rahel erst kürzlich gekauft hat.

Sie zögert die Antwort hinaus, doch schließlich siegt ihr Pragmatismus.

»Wir fahren in die Uckermark nach Dorotheenfelde, schon morgen.«

Ihr Lächeln verrutscht, ihr Blick hält seinem nicht stand. Während sie ihre lackierten Fußnägel betrachtet, erzählt sie ihm von Ruths Anruf. Peter macht ein Geräusch, als habe er sich verschluckt.

»Ohne mich zu fragen …«, sagt er und erhebt sich. »So weit sind wir jetzt also gekommen.«

Ihre Füße stehen wie festgeklebt am Boden, die Zunge lässt sich nicht vom Gaumen lösen, und Peter verlässt das Zimmer mit dem Gesichtsausdruck eines Besiegten.

Rahel setzt sich auf die Chaiselongue, genau auf die Stelle, wo er gesessen hat. Dann streckt sie sich aus und legt einen Arm über die Augen. Sie blickt nach innen und wünscht sich sogleich, es nicht getan zu haben.

 

Später, als sie wahllos Kleider aus dem Schrank nimmt und in den Koffer packt, denkt sie an Ruth. Ihr Gesicht steht ihr lebhaft vor Augen. Über die Jahre haben sich winzige Verschiebungen in die Symmetrie ihrer Züge eingeschlichen, doch noch immer tritt Ruth nie anders auf als tadellos zurechtgemacht. Besonders an schlechten Tagen ist die äußere Vollendung ihre Rüstung gegen die Zumutungen der Welt. Seit jeher schien diese Haltung auch auf Rahel überzugreifen. Nie hat sie sich gehenlassen in Ruths Anwesenheit, nie nachlässig gekleidet oder bewegt. Diese unhinterfragte Disziplin hatte Ruth in den Jahren auf der Palucca-Schule verinnerlicht. Sie und Rahels Mutter Edith hatten als Kinder ihre klassische Tanzausbildung zur gleichen Zeit begonnen. Edith hatte nach drei Jahren hingeschmissen,...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 50 plus • Bauernhof • Begehren • Beziehung • Daniela Krien • DDR • Dresden • Ehe • Ehekrise • Ehepaar • Eltern • Familie • Ferien • Gesellschaft • Kinder • Krise • Lebensmitte • Leidenschaft • Letzte Chance • Liebe • Mutter und Tochter • Paar • Roman • Sex • Sinnsuche • Trennung • Uckermark
ISBN-10 3-257-61200-1 / 3257612001
ISBN-13 978-3-257-61200-4 / 9783257612004
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