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Wenn ich wiederkomme (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 3. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61190-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn ich wiederkomme -  Marco Balzano
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Sie lassen die eigene Familie zurück, um sich um fremde Menschen zu kümmern - die Frauen aus Osteuropa. Daniela ist eine von ihnen. Sie arbeitet in Mailand, rund um die Uhr, ist zuverlässig und liebevoll als Pflegerin und als Kinderfrau. Doch je mehr sie fremden Familien hilft, desto heftiger vermisst sie die eigenen Kinder. Als ihrem heranwachsenden Sohn etwas zustößt, muss sie eine Entscheidung treffen.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ?Das Leben wartet nicht? gewann er den Premio Campiello. Mit ?Ich bleibe hier? war er nominiert für den Premio Strega, in Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.

Mein Vater Filip Matei ist wirklich der unberechenbarste Mensch, den ich kenne. Ein paar Tage nach Momas Abreise kriegt er sich plötzlich ein und fängt an, das Dachgeschoss zu entrümpeln, die, seit ich auf der Welt bin, mit altem Krempel zugemüllt ist.

Eines Abends kommt er mit einem Grillhähnchen und Pommes nach Hause, teilt es in drei Portionen, legt die Tüte in die Mitte des Tischs und erklärt meiner Schwester und mir – als ob wir es nicht wüssten –, dass Moma ihm jeden Monat Geld schicken wird.

»Damit baue ich oben eine zweite Wohnung aus. Ich bau einen Balkon an, schmeiß die verfaulten Balken raus und zieh neue ein, und das Dach decke ich auch neu. Aber das ist erst der Anfang, Kinder: Ich weißele das Haus, bau einen Zaun drumrum, reinige die Tenne … Eure Mutter soll nämlich wie eine Dame wohnen, und einen Ort, wo sie in Ruhe malen kann, soll sie auch endlich haben!«, sagt er enthusiastisch, in der Hand ein Hühnerbein. Angelica und ich sitzen sprachlos da und starren ihn mit offenem Mund an.

In den nächsten Tagen schaute ich Papa genauso erstaunt zu wie früher Moma beim Malen. Er hatte sich beruhigt, schuftete in der Mansarde, und am Telefon war er freundlich zu ihr. Er zeichnete Pläne, ging auf die Gemeinde, zum Schmied, ins Farbengeschäft … wie ausgewechselt war er. Um uns kümmerte er sich nicht, das stimmt, aber nicht, weil er uns nicht gerngehabt hätte. Die Erziehung war halt schon immer Momas Sache gewesen, und die paar Mal, wenn sie nicht weitergewusst und ihn um Rat gefragt hatte, hatte er nur zurückgeknurrt: »Du wolltest sie doch immer erziehen, Daniela. Also los, erzieh sie!«

Um die Wäsche und das Essen kümmerte sich jetzt Oma Rosa. Ach ja, bevor ich’s vergesse, will ich auch etwas über sie sagen, über diese winzige Frau, die ich immer nur in schwarzer Kleidung und in Lederpantoffeln gesehen habe und mit einem Kopftuch, das die wenigen Haare bedeckte, die ihr geblieben waren.

Oma strickt und gärtnert gern, damit verbringt sie ganze Tage. Ihr Vater war Zöllner, deshalb ist sie in Nisporeni geboren, hinter der moldawischen Grenze, aber sie fühlt sich als Rumänin, so wie Opa. Wenn Gäste kommen, erzählt sie immer aus ihrer Kindheit am Ufer der Nârnova und zeigt stolz die eingerahmten Urkunden aus der Zeit, als sie in der Kartonfabrik gearbeitet hat und Opa Traktorist auf der Kolchose war. Alle in der Familie wissen auswendig, was auf diesen Urkunden steht: Danke, Genosse, für deinen Beitrag zum Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und dass du so dafür sorgst, dass der Himmel über den Köpfen deiner Kinder blau ist. Angelica und ich sagen das jedes Mal, wenn wir uns das Salz reichen, und amüsieren uns köstlich. Dass sie uns gernhat, zeigt Oma uns, indem sie nie über Probleme redet, zum Beispiel über ihre Tochter. Moma, logisch, ist Problem Nummer eins.

 

Alles lief halbwegs glatt bis zum Sommer. Klar, ohne Moma fiel uns vieles schwer, aber wir haben fest auf die Zähne gebissen. Papa arbeitete in der Mansarde, Oma kümmerte sich um die Hausarbeit, damit Angelica lernen konnte, ich hielt mich wacker in der Schule, und Moma wiederholte jeden Abend das Versprechen: »Im Juli bin ich wieder da.«

Und als sie tatsächlich wieder da war – die Sonnenblumen hatten sich gerade geöffnet und bildeten eine einzige gelbe Fläche, die das Land mit Licht überflutete –, ist mir das Herz aufgegangen. Wie sie da über die Straße angefahren kam, auf dem Wagen von Marin, die Koffer im Stroh, war es wie eine Erscheinung. Ich schämte mich dafür, wie sehr ich sie umarmen wollte, ich hatte Angst, wie ein Rotzbengel dazustehen. Und ich schämte mich, ihr ins Gesicht zu sehen, während ich sie umarmte, weil ich in diese Umarmung all die Wut hineinlegte, die in meinem Körper kochte.

Papa hatte ihr zu Ehren eine Überraschungsparty organisiert, und Moma hatte uns so viele Geschenke mitgebracht, dass es wie Weihnachten war. Die leckeren italienischen Süßigkeiten hatten so tolle Verpackungen, dass ich eine noch immer im Regal aufbewahre, zusammen mit der Illy-Dose. Und dann das neue Handy, die Bluetooth-Kopfhörer, das Tablet … Es war ganz leicht, sie zu überreden, den Kram zu kaufen, man musste nur sagen: »Dann können wir besser telefonieren.«

 

Aber der Sommer flog vorbei wie nichts. Die Sonnenblumen beugten ihre Köpfe, von den Maisfeldern blieben nur die ausgebleichten Stoppeln, der Herbst brachte seine melancholischen grauen Wolken, die Schule fing wieder an, und wenn wir mit Moma telefonierten, war von Rückkehr nicht mehr die Rede. Ich war immer noch einer der Besten in der Klasse, ich ließ Vlad, diese Niete, abschreiben, mit meinen Freunden kam ich gut klar, und die Lehrer waren nicht übel, aber ich wollte trotzdem nicht mehr hin, um Moma zu ärgern. So eine Egoistin, sagte ich mir. Okay, sie muss sich bei dem alten Mann abrackern, aber dafür lebt sie in einer tollen Stadt und unternimmt da bestimmt wer weiß was. Wenn sie nicht mal auf die Idee kommt, mich mit nach Mailand zu nehmen, dann ist sie gar nicht so, wie ich immer gedacht habe, die blöde Kuh.

Aber das war es nicht allein, es war alles zusammen. Es war lächerlich, wie Angelica das Familienoberhaupt spielte, an manchen Tagen hätte ich ihr am liebsten eine gescheuert. Papa hatte das mit dem Umbau bald satt, morgens stand er nicht mehr auf, und wenn ich ihn wecken wollte, bevor ich in die Schule ging, brachte er nur peinliche Ausreden vor – »Um die Uhrzeit ist es zu kalt, da bindet der Zement nicht« – und drehte sich auf die andere Seite. Bis zum Abend blieb er auf dem Sofa liegen, schaute Wrestling und beklagte sich, dass er keine Arbeit fand. »Unter Ceauşescu war’s besser«, hörte ich ihn brummen. Oma Rosa war ich dankbar dafür, dass sie sich um alles kümmerte und für uns kochte – nicht umsonst war auch sie Haushälterin in Moskau gewesen –, aber oft wusste ich nicht, was ich mit ihr hätte reden sollen. Manchmal half ich ihr dabei, die Pflanzen zu gießen, weil ich auch gärtnern lernen wollte. Aber wenn ich zusammen mit ihr im Haus war, redete ich meistens mit der Katze. Jedenfalls fühlte ich mich komisch, schräg drauf, mit einem Wort: allein. Ich hatte keine Lust mehr, mit meinen Freunden nach draußen zu gehen oder mit dem Fahrrad zum See zu fahren, alles, was mir bis vor kurzem noch Spaß gemacht hatte, fand ich jetzt nur noch öde. Wenn ein Freund mich fragte, ob wir rausgehen, oder mich zum Fußballspielen abholen wollte, sagte ich, ich hätte zu tun. Ich wusste, dass früher oder später keiner mehr kommen würde, aber ich schaffte es nicht, anders zu reagieren.

Nur bei Opa Mihai fühlte ich mich wohl. Es gefiel mir, im Garten zu erledigen, was er mir auftrug: Unkraut jäten, kleine Löcher stechen und Tomatensamen hineinlegen, die Erde wässern. Oder ich verkroch mich im Waggon. Kein Witz, im Garten von Opa Mihai stand wirklich ein alter Eisenbahnwaggon, den er irgendwann mal für wenig Geld im Bahnhofdepot gekauft hatte. Wenn ich früher als kleiner Junge keine Lust auf Mittagessen hatte, habe ich mich immer dort versteckt. Dort verstaute er alles, Rechen und Astscheren, Blechdosen und Tresterflaschen, und in einer Ecke stapelweise alte Journale aus Sowjetzeiten.

»Möchtest du wieder Kind sein?«

»Verkriechst du dich denn nie hier?«

»Seit ich vor vielen Jahren deiner Oma geschworen habe, mit dem Rauchen aufzuhören, komme ich manchmal auf eine Zigarette her …«

Opa merkte, dass etwas nicht stimmte. Anders als meine Schwester, die mich nur rumkommandieren wollte, oder meine Mutter, die mich ausfragte, oder mein Vater, der gar nicht mitbekam, dass es mich auch noch gab, war er mir nah, ohne mich die Last meiner Niedergeschlagenheit spüren zu lassen. Manchmal versuchte er herauszubekommen, was mich beschäftigte, aber ganz beiläufig, während er die Hecke stutzte.

»Was möchtest du eigentlich später mal werden?«, fragte er mich. Wenn ich nur die Achseln zuckte, ließ er es damit bewenden, bis er nach einer Weile wieder fragte: »Komm schon, Junge, alle wollen etwas werden.« Und dann, während ich Äste und Blätter vom Boden auflas, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen, gestand ich, dass ich keinen Bock mehr auf Schule hatte. Oder dass ich mir wünschte, Moma käme zurück oder nähme mich beim nächsten Mal mit. Dann schaute Opa Mihai in den Himmel und dachte eine Weile darüber nach, bevor er sagte: »Dann müssen wir einen Weg finden.«

 

Jedenfalls bin ich weiter zur Schule gegangen, auch wenn sie mich langweilte und nervte und mir bis hier stand. Ein weiteres Jahr bin ich über die Schotterstraße gegangen und dann in den Pfad nach Roşcani eingebogen. Mit dem Bus fuhr ich nicht mehr, ich stand früh auf und ging zu Fuß. Opa fand das gut: »Im Gehen löst man Probleme«, sagte er immer. Unterwegs, die Kopfhörer auf, dachte ich an Moma, wie es ihr ging und was sie machte. Wäre sie hier gewesen, hätte ich vielleicht gar nicht mit ihr gesprochen, bestimmt hätten wir uns trotzdem gestritten, aber es wäre einfach was ganz anderes gewesen. Im Leben geht es nur darum, einander nah zu sein, wie bei den Kaninchen im Stall, wenn’s draußen friert.

Zu Hause hieß es die ganze Zeit nur: »Das hat sie für uns getan«, »Wir sollten ihr dankbar sein«, »Was sie alles auf sich nimmt für die Familie« … Mich überzeugte das kein bisschen. Und wenn mein Vater Sachen sagte wie: »Sie wischt den Alten den Arsch ab, damit du studieren kannst«,...

Erscheint lt. Verlag 29.9.2021
Übersetzer Peter Klöss
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Quando tornerò
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altenpfleger • Armut • aufwachsen ohne Mutter • Auswanderung • Beziehung • Beziehungskrise • Elternliebe • Erfahrungen • Ernährung • Erziehung • Familie • Frauen • Fremdenführer • Geldsorgen • Generationen • Haushaltshilfe • Heldin • Hilfe • Hochzeit • Italien • Italienische Literatur • Jugend • Jugendliche • Kinderfrau • Koma • Krankenhaus • Mailand • Migration • Moldau • Mutterliebe • Osteuropa • Pflege • Pflegerin • Rückkehr • Rückkehrer • Rumänien • sich kümmern • Sinnsuche • Tochter • Trennung • Unfall • Zusammenleben
ISBN-10 3-257-61190-0 / 3257611900
ISBN-13 978-3-257-61190-8 / 9783257611908
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