Letzte Ehre (eBook)
272 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76767-2 (ISBN)
Die siebzehnjährige Finja Madsen ist nach einer Party nicht nach Hause gekommen. Es gibt keine Zeugen, keine äußeren Anhaltspunkte dafür, was mit ihr passiert ist. Die Ermittlungen stecken fest. Oberkommissarin Fariza Nasri vernimmt Personen aus dem Umfeld der Vermissten, darunter auch den Freund der Mutter, Stephan Barig. In dessen Haus hat die Party stattgefunden, während er das Wochenende mit zwei Bekannten auf dem Land verbrachte. Barig gibt gewissenhaft Auskunft. Nasri hört zu, stellt Fragen - und ist sich mit einem Mal sicher, dass der Mann lügt. Doch hat er wirklich etwas mit dem Verschwinden der jungen Finja zu tun, oder verbirgt er etwas ganz Anderes?
Die Suche nach einem verschwundenen Mädchen wird mehr und mehr zu einem Horrortrip durch die Abgründe männlicher Machtfantasien und die Verwüstungen, die sie hinterlassen. Fariza Nasri gerät in einen Strudel der Gewalt, der sie immer weiter mitreißt, bis sie darin zu ertrinken droht. Ein packender, schmerzhafter und düsterer Roman.
Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
In meinem Spiegel taucht jeden Morgen eine Frau auf, der ich nicht traue. Wo waren Sie, frage ich sie, zwischen Ihrem achtzehnten und achtundfünfzigsten Lebensjahr? Haben Sie Zeugen für Ihre Anwesenheit in dieser Zeit?
Viele, entgegnet die Frau, Mörder, Junkies, Wegelagerer des Verbrechens, von ihnen werden Sie die Wahrheit erfahren.
Die Wahrheit? Sie wollen mir etwas von Wahrheit erzählen? Ich glaube Ihnen kein Wort.
1
»Dies ist eine informatorische Befragung«, sagte ich zu Stephan Barig. »Ich möchte den Sachverhalt klären und mir einen Eindruck von Ihrer Person verschaffen; Sie kennen Finja Madsen, das Mädchen, das wir suchen, Sie kennen ihre Mutter, Sie sind mit den Lebensumständen der beiden vertraut.«
»Kein Problem. Ihre Kollegen haben aber schon alles abgefragt.«
»Die Kollegen der Vermisstenstelle«, sagte ich. »Wir sind zuständig für Gewaltdelikte und ungeklärte Todesfälle.«
»EntschuldigenS?«
»Bitte?«
»Was für ein ungeklärter Todesfall?«
»Das wissen wir noch nicht.«
Der Zweiundsechzigjährige mit dem schmalen Schnurrbart zog die Brauen hoch; am Rest des Körpers bemerkte ich keine Regung. Im Lauf der ersten halben Stunde unserer Begegnung nahm er die Hände nur ein einziges Mal aus den Jackentaschen. Er saß aufrecht auf dem Stuhl, den Kopf leicht gesenkt, Oberkörper und Beine unter Spannung. Sogar im Sitzen überragte der Mann mich beachtlich; seine Größe schätzte ich auf etwa einen Meter neunzig bis fünfundneunzig, sein Gewicht auf hundertzehn bis hundertfünfzehn Kilogramm. Graue Augen, verschwommener Blick, chargierend zwischen Lauern und Berechnung. Olivfarbene Lederjacke; Reißverschlusstaschen; darunter trug er einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Blaue Jeans mit albernen Löchern; braune Wildlederschuhe.
»Wie ich Ihnen erklärt habe, möchte ich mir ein Bild machen; die Umstände erkunden; hören, was Sie über die Angelegenheit denken; im Moment sind Sie mein bester Ansprechpartner, der absolute Kenner des familiären Umfelds.«
»Noch mal: Von was für einem Delikt sprechen wir hier? Von was für einem ungeklärten Todesfall?«
»Helfen Sie mir, das herauszufinden, Herr Barig.« Vor mir lag eine grüne Akte mit Fotos aus einem Haus in Trudering, der näheren Umgebung, der Freundinnen Finja und Celina; Berichte der Vermisstensucher und meiner Dezernatskollegen Odoki und Kalk; auf dem Deckel ein unlinierter Spiralblock und ein roter Kugelschreiber.
In Zimmer 214 herrschte Stille zwischen den Sätzen; auf den Fluren rannten die Kollegen der fliehenden Zeit hinterher.
»Sie sind freiwillig bei uns«, sagte ich. »Wir führen ein Kontaktgespräch, in dem Sie mir erzählen, was Sie wissen. Wenn ich den Eindruck gewinne, Sie sind für uns als Zeuge in einer Mordermittlung wichtig, haben Sie die Pflicht auszusagen, und zwar die Wahrheit, sonst geraten Sie mit dem Gesetz in Konflikt, im schlimmsten Fall wegen Strafvereitelung nach Paragraf zweihundertachtundfünfzig Strafgesetzbuch. Das braucht Sie im Moment nicht zu kümmern. Ich weise Sie nur auf die Möglichkeiten hin.«
»Und wie lang dauert das?«
»Welche Dauer meinen Sie?«
»Unsere Dauer, Sie und ich an diesem Tisch. Wie lang brauchen Sie, bis Sie rausgefunden haben, ob ich für Sie wichtig bin oder nicht? Ich führ ein Geschäft, wie Sie wissen.«
»Wichtig sind Sie auf jeden Fall, das hab ich Ihnen schon gestern am Telefon erklärt«, sagte ich. »Andernfalls hätten wir Sie nicht hergebeten. Wie lange Sie bleiben müssen, kann ich Ihnen nicht sagen.«
Er senkte den Kopf; zwanzig Sekunden; kein Mucks; ein neuer Blick, regenwolkengrau wie zuvor. »WissenS, es leuchtet mir ein, dass Sie mich hergebeten haben; ich wär auch so gekommen, was denkenS denn von mir? Wir reden hier von meiner Stieftochter. Nicht direkt, schon klar, Frau Madsen und ich sind nicht verheiratet.«
»Wie lange kennen Sie sich?«
»Zwei Jahre, würd ich sagen. Wir haben uns im Geschäft kennengelernt, sie brauchte eine Batterie für ihre Armbanduhr. Ist das wichtig? Bei allem Respekt: Eigentlich müsst ich jetzt in meinem Laden sein, Konny ist allein, im Verkauf und in der Werkstatt, unser Azubi ist krank; im Grunde alles machbar; besser wär natürlich, ich wär da, manche Kunden erwarten, dass der Chef sie bedient.«
»Verstehe ich gut. Lassen Sie uns über den vergangenen Montag reden, den siebten Oktober. Den Bericht der Kollegen von der Vermisstenstelle habe ich gelesen; den Ablauf möchte ich noch mal gern aus Ihrem Mund hören. Bitte, nehmen Sie sich die Zeit.«
Ausgelöst von diesem epischen Höflichkeitsanfall, juckten mir die Hände.
Bisher wusste ich von einer Doppelhaushälfte am Drosselweg in Trudering, in dem eine Party mit Jugendlichen stattgefunden hatte, nach aktuellem Wissensstand ausschließlich Mädchen, von denen eines spurlos verschwand.
Keine Blut- oder Kampfspuren; keine Beobachtungen verdächtiger Vorgänge durch Nachbarn; keine brauchbaren Aufzeichnungen städtischer Überwachungskameras; keine handfesten Indizien, die auf eine Gewalttat hindeuteten. Nur Worte von Leuten, deren Biografien meine Kollegen Jennifer Odoki und Dennis Kalk gerade erst kennenlernten und vor deren auf Glaubwürdigkeit getrimmtem Auftreten sie sich aufgrund berufsbedingter Verbeulung nicht in den Staub warfen.
Wir sind alle verbeult, jeder auf seine Weise, und wir kaschieren unsere Beulen, jeder auf seine Weise.
Drei Tage nach dem Verschwinden der siebzehnjährigen Schülerin Finja Madsen hatte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen uns übertragen, dem Kommissariat für Gewaltdelikte und ungeklärte Todesfälle. Trotz fehlender Beweise handelte es sich für den Oberstaatsanwalt nicht länger um einen gewöhnlichen Vermisstenfall; die Umstände seien merkwürdig und die Aussagen einiger Zeugen lückenhaft; er schließe die Möglichkeit eines Verbrechens nicht aus.
So kam es, dass an einem Freitag im Oktober ein Zeuge namens Barig seit acht Uhr morgens meine Geduld schredderte.
2
»Ablauf?«, sagte Stephan Barig. »Kein Problem. Schreiben Sie mit?«
»Wir nehmen alles auf.«
Er blickte zur Wand. »Stimmt, die schwarzen Punkte sind Mikros, Sie haben's mir erklärt, hab ich vergessen, klar.«
Unwahrscheinlich, dass er es vergessen hatte; er schindete Zeit; die Gründe würde ich hoffentlich bald herausfinden.
»Gegen halb sieben war ich wieder im Haus. Am Montag, genau. Niemand da. Sah alles recht ordentlich aus. Hab schon andere Situationen erlebt, wenn ich zurückkam, darauf könnenS wetten. Kids, schon klar, und ich sag auch meistens nichts, meine Erlaubnis haben sie ja, die dürfen sich austoben, wenn ich aushäusig bin, das Haus ist groß genug, ich leb da allein, bis jetzt; wer weiß, was passiert. Allerdings wird Frau Madsen aus ihrer Wohnung in der Sedanstraße kaum ausziehen, mitten in Haidhausen, bestes Viertel der Stadt, meiner Meinung nach, und sie ist noch jung, sie braucht Leben um sich.«
»Frau Madsen ist jünger als Sie.«
»Siebzehn Jahre. Weil Sie das erwähnen: Die Finja ist auch siebzehn. Zahlenmystik nenn ich so was.« Er wartete auf eine Reaktion von mir. Ich tat ihm den Gefallen und nickte.
»Sie kamen nach Hause«, sagte ich. »Was passierte dann?«
»Nichts. Hab mich unter die Dusche gestellt, mich angezogen und ran an den Schreibtisch. Montag Bürotag, bis Mittag. Die meisten Kollegen erledigen so Zeug am Wochenende, ich nicht. Wir haben samstags bis dreizehn Uhr geöffnet, länger lohnt nicht, war schon zu Zeiten meines Vaters so. Danach: arbeitsfrei, Freizeit mit Freunden. Manchmal nehm ich mir auch den Samstag frei.«
»Wie am vergangenen Wochenende.« ...
Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | All die unbewohnten Zimmer • Andreas Hoh Krimifestival-Preis 2024 • Bayern • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Crime Cologne Sonderpreis 2017 • Deutschland • Fariza Nasri • Gewalt gegen Frauen • Krimi-Bestenliste • Krimi-Bestseller • Mitteleuropa • München • neues Buch • ST 5246 • ST5246 • Stuttgarter Krimipreis 2016 • Südostdeutschland • suhrkamp taschenbuch 5246 |
ISBN-10 | 3-518-76767-4 / 3518767674 |
ISBN-13 | 978-3-518-76767-2 / 9783518767672 |
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